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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Zeit als ein mit andern Landsleuten unvermischter Stamm getreten sind.
Wie die Hessen im Westen haben außer den Slaven auch die Bayem und
vielleicht schon die Burgunder im Südosten Einwirkungen auf Sprache, Sage
und Sitte geübt, welche sich noch jetzt zuweilen abschätzen läßt. Und was
wichtiger ist. die Franken haben vom Süden, ihre Orte mit --heim und
--Hausen, niedersächsische Völker vom Norden her ihre Colonien häufig in
die Landschaft gesetzt. Aber das Uebergewicht der heimischen Art war zu
jeder Zeit so überwiegend, daß es das Fremde mehr nach sich umformte, als
Von ihm beeinflußt wurde. Der beste Beweis dafür ist aus der Geschichte
des thüringischen Dialekts zu entnehmen, dessen Literatur durch elf Jahrhun¬
derte reicht, während einzelne Namen und Wörter in weit ältere Zeit zurück¬
gehen.

Allerdings stammt nicht der ganze Vorrath thüringischer Volkserinnerungen
aus vorgeschichtlicher Zeit. Jedes Jahrhundert hat Neues zu dem Alten ge¬
fügt, das Alte dem Neuen angepaßt oder darüber vergessen. Denn die schöpfe¬
rische Kraft des Volkes stand nicht still. Zu den uralten Tanzweisen kamen
fromme Melodien aus den Kreuzzügen, Lieder der deutschen Landsknechte,
welche unter Karl von Bourbon den Papst in Rom gefangen nahmen, Sol¬
datenlieder des dreißigjährigen Krieges, ja noch Gesänge ehrbarer Schulmeister
aus der Rvccocozeit. Auch an der vorhandenen Habe machte jedes lebende
Geschlecht seine kleinen Aenderungen. Der glückliche Märchenheld, welcher durch
seine Tapferkeit und Schlauheit, oder durch Gunst der Geister die schöne Prin¬
zessin von einem Riesen oder Ungeheuer befreite und des Königs Eidam wurde,
er war zur Zeit Karl des Großen ein Fremdling gewesen, der durch Blutrache
aus seinem Stamm vertrieben als wandernder Recke abenteuerte. Als das
Geschlecht fahrender Helden aus der Erinnerung des Volkes schwand, verwan¬
delte er sich in einen fahrenden Spielmann, wie sie zur Zeit der Sachsen-
kaiser und Hohenstaufen durch die Gaue zogen. Als die Städte erstarkten,
und der junge Handwerksgesell auf der Landstraße umherzog, mußte sich der¬
selbe Held des Märchens gefallen lassen, vielleicht ein lustiges Schnciderlein zu
werden. Als im vorigen Jahrhundert die stehenden Heere der Fürsten auf¬
kamen und dem gedrückten Volk der waghalsige Deserteur eine poetische Figur
wurde, trat zuweilen sogar ein solcher an die Stelle des ursprünglichen Helden.
Dasselbe Märchen zeigt in einzelnen Fällen noch jetzt hier den einen, dort den
andern dieser Helden.

So ist allerdings auch der Sagenstvsf in langsamer Umwandlung. Aber
in dieser Umbildung hat sich fast immer ein Kern alter Ueberlieferung erhalten,
der für das geübte Auge nicht schwer zu erkennen ist.

Viele dieser alten Ueberlieferungen sind allerdings in der Gegenwart ge¬
schwunden, aber sie dauern in den Aufzeichnungen früherer Zeiten: in Chroniken.


Zeit als ein mit andern Landsleuten unvermischter Stamm getreten sind.
Wie die Hessen im Westen haben außer den Slaven auch die Bayem und
vielleicht schon die Burgunder im Südosten Einwirkungen auf Sprache, Sage
und Sitte geübt, welche sich noch jetzt zuweilen abschätzen läßt. Und was
wichtiger ist. die Franken haben vom Süden, ihre Orte mit —heim und
—Hausen, niedersächsische Völker vom Norden her ihre Colonien häufig in
die Landschaft gesetzt. Aber das Uebergewicht der heimischen Art war zu
jeder Zeit so überwiegend, daß es das Fremde mehr nach sich umformte, als
Von ihm beeinflußt wurde. Der beste Beweis dafür ist aus der Geschichte
des thüringischen Dialekts zu entnehmen, dessen Literatur durch elf Jahrhun¬
derte reicht, während einzelne Namen und Wörter in weit ältere Zeit zurück¬
gehen.

Allerdings stammt nicht der ganze Vorrath thüringischer Volkserinnerungen
aus vorgeschichtlicher Zeit. Jedes Jahrhundert hat Neues zu dem Alten ge¬
fügt, das Alte dem Neuen angepaßt oder darüber vergessen. Denn die schöpfe¬
rische Kraft des Volkes stand nicht still. Zu den uralten Tanzweisen kamen
fromme Melodien aus den Kreuzzügen, Lieder der deutschen Landsknechte,
welche unter Karl von Bourbon den Papst in Rom gefangen nahmen, Sol¬
datenlieder des dreißigjährigen Krieges, ja noch Gesänge ehrbarer Schulmeister
aus der Rvccocozeit. Auch an der vorhandenen Habe machte jedes lebende
Geschlecht seine kleinen Aenderungen. Der glückliche Märchenheld, welcher durch
seine Tapferkeit und Schlauheit, oder durch Gunst der Geister die schöne Prin¬
zessin von einem Riesen oder Ungeheuer befreite und des Königs Eidam wurde,
er war zur Zeit Karl des Großen ein Fremdling gewesen, der durch Blutrache
aus seinem Stamm vertrieben als wandernder Recke abenteuerte. Als das
Geschlecht fahrender Helden aus der Erinnerung des Volkes schwand, verwan¬
delte er sich in einen fahrenden Spielmann, wie sie zur Zeit der Sachsen-
kaiser und Hohenstaufen durch die Gaue zogen. Als die Städte erstarkten,
und der junge Handwerksgesell auf der Landstraße umherzog, mußte sich der¬
selbe Held des Märchens gefallen lassen, vielleicht ein lustiges Schnciderlein zu
werden. Als im vorigen Jahrhundert die stehenden Heere der Fürsten auf¬
kamen und dem gedrückten Volk der waghalsige Deserteur eine poetische Figur
wurde, trat zuweilen sogar ein solcher an die Stelle des ursprünglichen Helden.
Dasselbe Märchen zeigt in einzelnen Fällen noch jetzt hier den einen, dort den
andern dieser Helden.

So ist allerdings auch der Sagenstvsf in langsamer Umwandlung. Aber
in dieser Umbildung hat sich fast immer ein Kern alter Ueberlieferung erhalten,
der für das geübte Auge nicht schwer zu erkennen ist.

Viele dieser alten Ueberlieferungen sind allerdings in der Gegenwart ge¬
schwunden, aber sie dauern in den Aufzeichnungen früherer Zeiten: in Chroniken.


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[0215] Zeit als ein mit andern Landsleuten unvermischter Stamm getreten sind. Wie die Hessen im Westen haben außer den Slaven auch die Bayem und vielleicht schon die Burgunder im Südosten Einwirkungen auf Sprache, Sage und Sitte geübt, welche sich noch jetzt zuweilen abschätzen läßt. Und was wichtiger ist. die Franken haben vom Süden, ihre Orte mit —heim und —Hausen, niedersächsische Völker vom Norden her ihre Colonien häufig in die Landschaft gesetzt. Aber das Uebergewicht der heimischen Art war zu jeder Zeit so überwiegend, daß es das Fremde mehr nach sich umformte, als Von ihm beeinflußt wurde. Der beste Beweis dafür ist aus der Geschichte des thüringischen Dialekts zu entnehmen, dessen Literatur durch elf Jahrhun¬ derte reicht, während einzelne Namen und Wörter in weit ältere Zeit zurück¬ gehen. Allerdings stammt nicht der ganze Vorrath thüringischer Volkserinnerungen aus vorgeschichtlicher Zeit. Jedes Jahrhundert hat Neues zu dem Alten ge¬ fügt, das Alte dem Neuen angepaßt oder darüber vergessen. Denn die schöpfe¬ rische Kraft des Volkes stand nicht still. Zu den uralten Tanzweisen kamen fromme Melodien aus den Kreuzzügen, Lieder der deutschen Landsknechte, welche unter Karl von Bourbon den Papst in Rom gefangen nahmen, Sol¬ datenlieder des dreißigjährigen Krieges, ja noch Gesänge ehrbarer Schulmeister aus der Rvccocozeit. Auch an der vorhandenen Habe machte jedes lebende Geschlecht seine kleinen Aenderungen. Der glückliche Märchenheld, welcher durch seine Tapferkeit und Schlauheit, oder durch Gunst der Geister die schöne Prin¬ zessin von einem Riesen oder Ungeheuer befreite und des Königs Eidam wurde, er war zur Zeit Karl des Großen ein Fremdling gewesen, der durch Blutrache aus seinem Stamm vertrieben als wandernder Recke abenteuerte. Als das Geschlecht fahrender Helden aus der Erinnerung des Volkes schwand, verwan¬ delte er sich in einen fahrenden Spielmann, wie sie zur Zeit der Sachsen- kaiser und Hohenstaufen durch die Gaue zogen. Als die Städte erstarkten, und der junge Handwerksgesell auf der Landstraße umherzog, mußte sich der¬ selbe Held des Märchens gefallen lassen, vielleicht ein lustiges Schnciderlein zu werden. Als im vorigen Jahrhundert die stehenden Heere der Fürsten auf¬ kamen und dem gedrückten Volk der waghalsige Deserteur eine poetische Figur wurde, trat zuweilen sogar ein solcher an die Stelle des ursprünglichen Helden. Dasselbe Märchen zeigt in einzelnen Fällen noch jetzt hier den einen, dort den andern dieser Helden. So ist allerdings auch der Sagenstvsf in langsamer Umwandlung. Aber in dieser Umbildung hat sich fast immer ein Kern alter Ueberlieferung erhalten, der für das geübte Auge nicht schwer zu erkennen ist. Viele dieser alten Ueberlieferungen sind allerdings in der Gegenwart ge¬ schwunden, aber sie dauern in den Aufzeichnungen früherer Zeiten: in Chroniken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/215>, abgerufen am 23.07.2024.