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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Aber auch der Dialekt einer Landschaft ist für die Wissenschaft von hoher
Wichtigkeit. Unsere Schriftsprache, welche sich aus der sächsischen Kanzlei des
fünfzehnten Jahrhunderts entwickelt hat. durch Luther und seine Bibelübersetzung
zu einem gemeinsamen Besitz aller Deutschen wurde, ist noch verhältnißmäßig
arm, sie ist nach dreihundertjähriger literarischer Ausbildung immer noch nicht
bequem für den Ausdruck jeder Gemüthstimmung, nicht einmal ausreichend zur
Bezeichnung aller Eindrücke, welche uns durch die Sinne zugeführt werden.
Noch wächst in Deutschland jeder Gebildete aus dem Dialekt seiner Heimath
herauf. Bei bequemem Ausdruck, in Stunden des herzlichen Wohlbehagens
dringen noch gern Dialektklänge und eigenthümliche Wertformen in unsere Rede.
Viele schöne alte Wortstamme, Ncdebilder, sprichwörtliche Redensarten sind nur
in den Dialekten erhalten. Es kann z. B. einen deutschen Schriftsteller zur
Verzweiflung bringen, eine deutsche Küche, ihre Speisen, Gebäck. Geräth in all¬
gemein gütigen Wörtern der Schriftsprache zu schildern, oder den behaglichen
Verlauf einer Unterredung und die Scherze und Wortspiele in e,mer Bauernstube
zu berichten. Besonders merkwürdig sind in jedem Dialekt die technischen
Ausdrücke einzelner Bcrufsclasscn. die Sprache der Köhler, Holzfäller. Jäger,
Steinarbeiter und Bergleute, der Ackerbauer und Hirten. Jeder deutsche Dialekt
aber hat eine Fülle von Eigenthümlichkeiten, welche sich aus bestimmte Gesetze
zurückführen, sowohl in der Aussprache, als in Biegung und Bildung der
Wörter, jeder hat sein eigenes uraltes Sprachgut. dessen Kenntniß zum Ver¬
stehen alter schriftlicher Aufzeichnungen unentbehrlich ist. und die höchsten Lebens-
gesetze unserer Sprache und ihre Wandlungen begreisen hilft. Mit gutem
Grunde hat man deshalb in Deutschland die Dialekte der einzelnen Landschaften
einer wissenschaftlichen Behandlung unterzogen, ihre eigenthümlichen Wörter
und Formen werden gesammelt und erklärt, ihre Neigungen. Regeln und
Bildungen, was sie unterscheidet und was ihr mit andern Dialekten gemein ist.
wird dargestellt. Der thüringische Dialekt, in der Mitte zwischen Ober- und
Niederdeutschen einer der lehrreichsten, sehr alt und fest, mit originellen Besonder¬
heiten, hat bis auf die Gegenwart eine genügende wissenschaftliche Behandlung
nicht gesunden. Und dieser Umstand ist in unsrer Sprachwissenschaft seit Jahren
als ein Mangel fühlbar gewesen.

So haben die noch jetzt im Volk lebenden Erinnerungen aus alter Zeit
Bedeutung auch für die ernste Wissenschaft: Volkslieder. Räthsel und Kinder-
rcime, Märchen und Sagen, Aberglaube. Sitte und gesellschaftlicher Brauch,
alte Einrichtungen der Dörfer und Fluren, zuletzt der Dialekt.

Wer diese Traditionen alter Zeit aus der Landschaft Thüringen zwischen
Werra und Saale näher betrachtet, der erkennt überall, daß es ein alter deut¬
scher Stamm ist, welcher seit der Urzeit dieses Leben gehegt hat. Und dies
wird hier nur deshalb erwähnt, weil vor Kurzem ein namhafter.Gelehrter die


Aber auch der Dialekt einer Landschaft ist für die Wissenschaft von hoher
Wichtigkeit. Unsere Schriftsprache, welche sich aus der sächsischen Kanzlei des
fünfzehnten Jahrhunderts entwickelt hat. durch Luther und seine Bibelübersetzung
zu einem gemeinsamen Besitz aller Deutschen wurde, ist noch verhältnißmäßig
arm, sie ist nach dreihundertjähriger literarischer Ausbildung immer noch nicht
bequem für den Ausdruck jeder Gemüthstimmung, nicht einmal ausreichend zur
Bezeichnung aller Eindrücke, welche uns durch die Sinne zugeführt werden.
Noch wächst in Deutschland jeder Gebildete aus dem Dialekt seiner Heimath
herauf. Bei bequemem Ausdruck, in Stunden des herzlichen Wohlbehagens
dringen noch gern Dialektklänge und eigenthümliche Wertformen in unsere Rede.
Viele schöne alte Wortstamme, Ncdebilder, sprichwörtliche Redensarten sind nur
in den Dialekten erhalten. Es kann z. B. einen deutschen Schriftsteller zur
Verzweiflung bringen, eine deutsche Küche, ihre Speisen, Gebäck. Geräth in all¬
gemein gütigen Wörtern der Schriftsprache zu schildern, oder den behaglichen
Verlauf einer Unterredung und die Scherze und Wortspiele in e,mer Bauernstube
zu berichten. Besonders merkwürdig sind in jedem Dialekt die technischen
Ausdrücke einzelner Bcrufsclasscn. die Sprache der Köhler, Holzfäller. Jäger,
Steinarbeiter und Bergleute, der Ackerbauer und Hirten. Jeder deutsche Dialekt
aber hat eine Fülle von Eigenthümlichkeiten, welche sich aus bestimmte Gesetze
zurückführen, sowohl in der Aussprache, als in Biegung und Bildung der
Wörter, jeder hat sein eigenes uraltes Sprachgut. dessen Kenntniß zum Ver¬
stehen alter schriftlicher Aufzeichnungen unentbehrlich ist. und die höchsten Lebens-
gesetze unserer Sprache und ihre Wandlungen begreisen hilft. Mit gutem
Grunde hat man deshalb in Deutschland die Dialekte der einzelnen Landschaften
einer wissenschaftlichen Behandlung unterzogen, ihre eigenthümlichen Wörter
und Formen werden gesammelt und erklärt, ihre Neigungen. Regeln und
Bildungen, was sie unterscheidet und was ihr mit andern Dialekten gemein ist.
wird dargestellt. Der thüringische Dialekt, in der Mitte zwischen Ober- und
Niederdeutschen einer der lehrreichsten, sehr alt und fest, mit originellen Besonder¬
heiten, hat bis auf die Gegenwart eine genügende wissenschaftliche Behandlung
nicht gesunden. Und dieser Umstand ist in unsrer Sprachwissenschaft seit Jahren
als ein Mangel fühlbar gewesen.

So haben die noch jetzt im Volk lebenden Erinnerungen aus alter Zeit
Bedeutung auch für die ernste Wissenschaft: Volkslieder. Räthsel und Kinder-
rcime, Märchen und Sagen, Aberglaube. Sitte und gesellschaftlicher Brauch,
alte Einrichtungen der Dörfer und Fluren, zuletzt der Dialekt.

Wer diese Traditionen alter Zeit aus der Landschaft Thüringen zwischen
Werra und Saale näher betrachtet, der erkennt überall, daß es ein alter deut¬
scher Stamm ist, welcher seit der Urzeit dieses Leben gehegt hat. Und dies
wird hier nur deshalb erwähnt, weil vor Kurzem ein namhafter.Gelehrter die


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[0213] Aber auch der Dialekt einer Landschaft ist für die Wissenschaft von hoher Wichtigkeit. Unsere Schriftsprache, welche sich aus der sächsischen Kanzlei des fünfzehnten Jahrhunderts entwickelt hat. durch Luther und seine Bibelübersetzung zu einem gemeinsamen Besitz aller Deutschen wurde, ist noch verhältnißmäßig arm, sie ist nach dreihundertjähriger literarischer Ausbildung immer noch nicht bequem für den Ausdruck jeder Gemüthstimmung, nicht einmal ausreichend zur Bezeichnung aller Eindrücke, welche uns durch die Sinne zugeführt werden. Noch wächst in Deutschland jeder Gebildete aus dem Dialekt seiner Heimath herauf. Bei bequemem Ausdruck, in Stunden des herzlichen Wohlbehagens dringen noch gern Dialektklänge und eigenthümliche Wertformen in unsere Rede. Viele schöne alte Wortstamme, Ncdebilder, sprichwörtliche Redensarten sind nur in den Dialekten erhalten. Es kann z. B. einen deutschen Schriftsteller zur Verzweiflung bringen, eine deutsche Küche, ihre Speisen, Gebäck. Geräth in all¬ gemein gütigen Wörtern der Schriftsprache zu schildern, oder den behaglichen Verlauf einer Unterredung und die Scherze und Wortspiele in e,mer Bauernstube zu berichten. Besonders merkwürdig sind in jedem Dialekt die technischen Ausdrücke einzelner Bcrufsclasscn. die Sprache der Köhler, Holzfäller. Jäger, Steinarbeiter und Bergleute, der Ackerbauer und Hirten. Jeder deutsche Dialekt aber hat eine Fülle von Eigenthümlichkeiten, welche sich aus bestimmte Gesetze zurückführen, sowohl in der Aussprache, als in Biegung und Bildung der Wörter, jeder hat sein eigenes uraltes Sprachgut. dessen Kenntniß zum Ver¬ stehen alter schriftlicher Aufzeichnungen unentbehrlich ist. und die höchsten Lebens- gesetze unserer Sprache und ihre Wandlungen begreisen hilft. Mit gutem Grunde hat man deshalb in Deutschland die Dialekte der einzelnen Landschaften einer wissenschaftlichen Behandlung unterzogen, ihre eigenthümlichen Wörter und Formen werden gesammelt und erklärt, ihre Neigungen. Regeln und Bildungen, was sie unterscheidet und was ihr mit andern Dialekten gemein ist. wird dargestellt. Der thüringische Dialekt, in der Mitte zwischen Ober- und Niederdeutschen einer der lehrreichsten, sehr alt und fest, mit originellen Besonder¬ heiten, hat bis auf die Gegenwart eine genügende wissenschaftliche Behandlung nicht gesunden. Und dieser Umstand ist in unsrer Sprachwissenschaft seit Jahren als ein Mangel fühlbar gewesen. So haben die noch jetzt im Volk lebenden Erinnerungen aus alter Zeit Bedeutung auch für die ernste Wissenschaft: Volkslieder. Räthsel und Kinder- rcime, Märchen und Sagen, Aberglaube. Sitte und gesellschaftlicher Brauch, alte Einrichtungen der Dörfer und Fluren, zuletzt der Dialekt. Wer diese Traditionen alter Zeit aus der Landschaft Thüringen zwischen Werra und Saale näher betrachtet, der erkennt überall, daß es ein alter deut¬ scher Stamm ist, welcher seit der Urzeit dieses Leben gehegt hat. Und dies wird hier nur deshalb erwähnt, weil vor Kurzem ein namhafter.Gelehrter die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/213>, abgerufen am 23.07.2024.