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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Auch der Glaube an Vorbedeutungen, an böse und heilsame Einwirkungen
der Natur auf den Menschen, alles was uns jetzt Aberglaube geworden ist.
hatte für das Volk die höchste Wichtigkeit. Ob am frühen Morgen vor dem
Wanderer ein Hase aufsprang, ein Schwein den Weg kreuzte, auf welcher Seite
die Schafheerde weidete, das bezeichnete mit vielem Andern Glück oder Unglück
des Tages. Fast die ganze Heilkunst des Volkes beruhte auf einer Unzahl
märchenhafter Vorstellungen von den Wirkungen, welche einzelne Bestandtheile
der Thiere und Pflanzen hätten. Für jedes Ereignis; des Lebens gab es Sprüche,
Segen, Gebete, Beschwörungen von geheimnißvoller Kraft.

Aber auch Sitte und Brauch des gesellschaftlichen Verkehrs, Genuß und
Vergnügen waren bis auf die Neuzeit unserem Landvolk durch stehende Ge¬
bräuche geweiht. Aufzüge. Festspiele, das ganze Ceremoniel der Begrüßung,
des Einladens, des Gerichthaltens, alle Dorffeierlichkeiten waren überliefertes
Herkommen. Fest und mit Selbstgefühl bewegte sich der Landmann in solchem
Brauche. Und sieht man näher zu, so entdeckt man sehr bald, daß diese
Sprüche, Redensarten, Festbräuchc ebenfalls nichts Zufälliges sind, sondern daß
sie zum großen Theil auf uralten Culturzuständen beruhn, von welchen sie uns
eine letzte, unschätzbare Erinnerung bewahren, wie sehr sie auch in der Gegen¬
wart ihrer alten Bedeutung entkleidet, aus Sinn in Unsinn, aus Glauben in
Aberglauben verkehrt sind.

Aber außer diesem idealen Besitz des Volkes enthält jede Landschaft in der
Gegenwart einen anderen Kreis von alten Eigenthümlichkeiten, welche für die
Wissenschaft von Bedeutung sind. Denn die Namen der Dörfer, die uralten
Namen der Ackerstücke in der Dorfflur, die Einth eilung der Flur, welche
nach den alten Volksstämmen verschieden ist, die Bauart der Dörfer, die Cor.
struction der Häuser, ja sogar der Bau der Kirchthürme. die Formen der Kreuze
auf dem Gottesacker verrathen oft uralte Verschiedenheit, und berechtigen
zu Schlüssen auf die älteste Geschichte der' Landschaft, auf Ursprung und
Stammeseigcnheit*). Dasselbe lehrt in vielen Fällen die Tracht der Dorfleute,
namentlich aus älterer Zeit, die Geräthschaften des Hauses und des Ackers.
Nicht geringern Werth haben die ältesten Familiennamen der Menschen in ein¬
zelnen Dörfern, und die Hausmarken am Giebel des Dorfhauses, die frühesten
unterscheidenden Zeichen der Familien, aus denen im Mittelalter sich mehre der
ältesten Wappenzeichen adliger Geschlechter geformt haben.



") So ist der Thüringer uralte Eigenheit das Zusammenrücken der Dorfhäuser in fort¬
laufenden Reihen -- nur zufällig haben einige Slavenstämmc dieselbe Gewohnheit. -- So ist
in alten Dorfhäusern noch heut der besondere Bau und die Einrichtung thüringischer und
fränkischer Häuser zu erkennen. So haben die Marktkörbc bei Franken, Thüringern, Hessen
noch heut feststehende von einander verschiedene Formen. ^

Auch der Glaube an Vorbedeutungen, an böse und heilsame Einwirkungen
der Natur auf den Menschen, alles was uns jetzt Aberglaube geworden ist.
hatte für das Volk die höchste Wichtigkeit. Ob am frühen Morgen vor dem
Wanderer ein Hase aufsprang, ein Schwein den Weg kreuzte, auf welcher Seite
die Schafheerde weidete, das bezeichnete mit vielem Andern Glück oder Unglück
des Tages. Fast die ganze Heilkunst des Volkes beruhte auf einer Unzahl
märchenhafter Vorstellungen von den Wirkungen, welche einzelne Bestandtheile
der Thiere und Pflanzen hätten. Für jedes Ereignis; des Lebens gab es Sprüche,
Segen, Gebete, Beschwörungen von geheimnißvoller Kraft.

Aber auch Sitte und Brauch des gesellschaftlichen Verkehrs, Genuß und
Vergnügen waren bis auf die Neuzeit unserem Landvolk durch stehende Ge¬
bräuche geweiht. Aufzüge. Festspiele, das ganze Ceremoniel der Begrüßung,
des Einladens, des Gerichthaltens, alle Dorffeierlichkeiten waren überliefertes
Herkommen. Fest und mit Selbstgefühl bewegte sich der Landmann in solchem
Brauche. Und sieht man näher zu, so entdeckt man sehr bald, daß diese
Sprüche, Redensarten, Festbräuchc ebenfalls nichts Zufälliges sind, sondern daß
sie zum großen Theil auf uralten Culturzuständen beruhn, von welchen sie uns
eine letzte, unschätzbare Erinnerung bewahren, wie sehr sie auch in der Gegen¬
wart ihrer alten Bedeutung entkleidet, aus Sinn in Unsinn, aus Glauben in
Aberglauben verkehrt sind.

Aber außer diesem idealen Besitz des Volkes enthält jede Landschaft in der
Gegenwart einen anderen Kreis von alten Eigenthümlichkeiten, welche für die
Wissenschaft von Bedeutung sind. Denn die Namen der Dörfer, die uralten
Namen der Ackerstücke in der Dorfflur, die Einth eilung der Flur, welche
nach den alten Volksstämmen verschieden ist, die Bauart der Dörfer, die Cor.
struction der Häuser, ja sogar der Bau der Kirchthürme. die Formen der Kreuze
auf dem Gottesacker verrathen oft uralte Verschiedenheit, und berechtigen
zu Schlüssen auf die älteste Geschichte der' Landschaft, auf Ursprung und
Stammeseigcnheit*). Dasselbe lehrt in vielen Fällen die Tracht der Dorfleute,
namentlich aus älterer Zeit, die Geräthschaften des Hauses und des Ackers.
Nicht geringern Werth haben die ältesten Familiennamen der Menschen in ein¬
zelnen Dörfern, und die Hausmarken am Giebel des Dorfhauses, die frühesten
unterscheidenden Zeichen der Familien, aus denen im Mittelalter sich mehre der
ältesten Wappenzeichen adliger Geschlechter geformt haben.



") So ist der Thüringer uralte Eigenheit das Zusammenrücken der Dorfhäuser in fort¬
laufenden Reihen — nur zufällig haben einige Slavenstämmc dieselbe Gewohnheit. — So ist
in alten Dorfhäusern noch heut der besondere Bau und die Einrichtung thüringischer und
fränkischer Häuser zu erkennen. So haben die Marktkörbc bei Franken, Thüringern, Hessen
noch heut feststehende von einander verschiedene Formen. ^
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/212>, abgerufen am 23.07.2024.