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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Ausschlag gab. darf behauptet werden; er wählte eben unter großen Uebeln
das kleinere. Es war nicht seine Art sich den Konsequenzen des verfänglichen
Schrittes zu entziehen, zu dem er mit gerathen. Redlich und an erster Stelle
hat er die Absetzung Wenzels, die Anerkennung Ruprechts betrieben; und mehr
noch, er zog mit ihm nach Mailand, um durch Wiederherstellung der von
Wenzel zu Gunsten der Visconti preisgegebenen Neichsautorität dem Gegenkaiser
die neue Krone und die Popularität sichern zu helfen. Aber das Unternehmen,
ein Mehrer des Reichs zu werden, ehe er ein Besitzer desselben war, mißlang
Ruprecht aufs kläglichste; so auch die meisten seiner Regicrungsacte in Deutsch¬
land; so endlich der Römerzug, der überdies nur auf Grund einer Thatsache
hätte ausgeführt werden können, welche die schiefe Ebene seiner ganzen Position
hervortreten ließ und ihm den geringen Rückhalt an der öffentlichen Meinung
Völlig verdarb. Er hatte mit dem in Rom residirenden Papste die gegenseitige
Anerkennung ausgetauscht und forderte die Entsetzung des avignvnischen, jetzt,
wo bereits der Gedanke einer bis dahin unerhörten Neutralität durchgedrungen
war, vermöge deren man sich über jede Obedienz gegen die vorhandenen Prä¬
tendenten der Tiara hinwegsetzte.

So wurde Ruprecht ohnmächtig zur Seite geschoben. Das Concil von
Pisa setzte bekanntlich 1409 beide Päpste ab und an ihre Stelle einen dritten.
War aber nicht im Stande diesem auch die factische Macht in die Hände zu
liefern. Infolge dessen geschah es, daß sich alle drei Unfehlbarkeiten sich gegenseitig
verfluchend behaupteten. Die Wirkung davon war heillos. Nicht, daß die
Entsittlichung der Kirche jetzt erst begonnen oder auch nur ihren Höhepunkt
erst erreicht hätte; schon seit sie die Herrschaft der Welt den Hohenstaufen ab¬
gewann, hatte sie so viel Schaden an der Seele genommen, daß sie nicht mehr
blos ein entartetes Werkzeug ihrer großen ursprünglichen Gedanken, sondern
die völlige Verkehrung derselben darstellte. Das System der Menschensatzung.
Gaukelei und Willkür, welches jetzt ihren Inhalt ausmachte, war lauge aus¬
gebildet und eingewurzelt; aber jetzt auf ein Mal, als die päpstliche Herrlich¬
keit zur Carricatur geworden, jetzt erst wurde man inne und wagte man sich
zu gestehen, daß es so sei. Und welche Aengstigung der Gemüiher, welche
Verwirrung der Geister, welche Verödung der Herzen und Gewissen, die dieser
furchtbaren Erkenntniß folgte! Allenthalben wurden Seufzer laut wie Stimmen
in der Wüste, Stoßgebete, Flüche, Beschwörungen, die Buße, Umkehr und Er¬
neuerung predigten. Und diese Verzweiflung herrschte nicht blos im geistlichen
Leben, sondern auch im politischen. Denn Abfall, Gewaltlust und Selbst¬
gerechtigkeit wucherte allenthalben.

"Besserung an Haupt und Gliedern!" -- war die Losung der ticfsluthen-
den Bewegung dieser merkwürdigen Zeit. In diesen, Wunsche fühlten alle
Kreise und Stände, alle Nationen sich einig, die an der europäischen Cultur


Ausschlag gab. darf behauptet werden; er wählte eben unter großen Uebeln
das kleinere. Es war nicht seine Art sich den Konsequenzen des verfänglichen
Schrittes zu entziehen, zu dem er mit gerathen. Redlich und an erster Stelle
hat er die Absetzung Wenzels, die Anerkennung Ruprechts betrieben; und mehr
noch, er zog mit ihm nach Mailand, um durch Wiederherstellung der von
Wenzel zu Gunsten der Visconti preisgegebenen Neichsautorität dem Gegenkaiser
die neue Krone und die Popularität sichern zu helfen. Aber das Unternehmen,
ein Mehrer des Reichs zu werden, ehe er ein Besitzer desselben war, mißlang
Ruprecht aufs kläglichste; so auch die meisten seiner Regicrungsacte in Deutsch¬
land; so endlich der Römerzug, der überdies nur auf Grund einer Thatsache
hätte ausgeführt werden können, welche die schiefe Ebene seiner ganzen Position
hervortreten ließ und ihm den geringen Rückhalt an der öffentlichen Meinung
Völlig verdarb. Er hatte mit dem in Rom residirenden Papste die gegenseitige
Anerkennung ausgetauscht und forderte die Entsetzung des avignvnischen, jetzt,
wo bereits der Gedanke einer bis dahin unerhörten Neutralität durchgedrungen
war, vermöge deren man sich über jede Obedienz gegen die vorhandenen Prä¬
tendenten der Tiara hinwegsetzte.

So wurde Ruprecht ohnmächtig zur Seite geschoben. Das Concil von
Pisa setzte bekanntlich 1409 beide Päpste ab und an ihre Stelle einen dritten.
War aber nicht im Stande diesem auch die factische Macht in die Hände zu
liefern. Infolge dessen geschah es, daß sich alle drei Unfehlbarkeiten sich gegenseitig
verfluchend behaupteten. Die Wirkung davon war heillos. Nicht, daß die
Entsittlichung der Kirche jetzt erst begonnen oder auch nur ihren Höhepunkt
erst erreicht hätte; schon seit sie die Herrschaft der Welt den Hohenstaufen ab¬
gewann, hatte sie so viel Schaden an der Seele genommen, daß sie nicht mehr
blos ein entartetes Werkzeug ihrer großen ursprünglichen Gedanken, sondern
die völlige Verkehrung derselben darstellte. Das System der Menschensatzung.
Gaukelei und Willkür, welches jetzt ihren Inhalt ausmachte, war lauge aus¬
gebildet und eingewurzelt; aber jetzt auf ein Mal, als die päpstliche Herrlich¬
keit zur Carricatur geworden, jetzt erst wurde man inne und wagte man sich
zu gestehen, daß es so sei. Und welche Aengstigung der Gemüiher, welche
Verwirrung der Geister, welche Verödung der Herzen und Gewissen, die dieser
furchtbaren Erkenntniß folgte! Allenthalben wurden Seufzer laut wie Stimmen
in der Wüste, Stoßgebete, Flüche, Beschwörungen, die Buße, Umkehr und Er¬
neuerung predigten. Und diese Verzweiflung herrschte nicht blos im geistlichen
Leben, sondern auch im politischen. Denn Abfall, Gewaltlust und Selbst¬
gerechtigkeit wucherte allenthalben.

„Besserung an Haupt und Gliedern!" — war die Losung der ticfsluthen-
den Bewegung dieser merkwürdigen Zeit. In diesen, Wunsche fühlten alle
Kreise und Stände, alle Nationen sich einig, die an der europäischen Cultur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/21>, abgerufen am 23.07.2024.