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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Vermischte Literatur.
Caterina von Siena. Ein Heiligenbild von or. Karl Hase. Leipzig,
Breitkopf und Härtel. I8K4.

Der bekannte feingebildete und rüstige Verfechter protestantischer Wissenschaft
erfreut hier aufs Neue mit einer Arbeit, welche sich früher von ihm veröffentlichten
Schriften anschließt, insbesondre seinen "Neuen Propheten" und dem "Franz von
Assisi". Auf Grund eingehendster Detailstudien, nicht gewöhnlicher historischer Kenntniß
und des seltnen Vermögens, aus dem beirrenden Wüste röinischkathvlischcr Hciligcn-
legendcn den wahren geschichtlichen Inhalt herauszuschälen, liefert er hier das Lebens¬
bild einer Frau, deren Individualität nach manchen Seiten hin das allgemein
menschliche Interesse nicht minder wie das religiöse zu fesseln vermag. Ein wunder¬
bares Bild entrollt sich in diesem einförmig dahinfließenden Frauenleben vor unsern
Augen. Durch die Schlacken der Unbildung und einer nicht ganz von Krankhaftigkeit
freien Ucberschwnnglichkcit des Empfindens hindurch erkennen wir in ihr ein ur¬
sprüngliches und naives religiöses Bewußtsein. kräftig und schöpferisch auftretend und
unbeirrt von den beengenden Satzungen ihrer Kirche, deren starrgewvrdcnen Formen
die innige und unüberwindliche, fast leidenschaftliche Gluth ihrer Frömmigkeit neues
Leben einzuhauchen vermag. Auch sie gehört zu jenen wunderbaren Erscheinungen
der Zeit vor der Reformation, weiche recht eigentlich religiöse Genies zu nennen
sind und in großartiger, unbewußter Freiheit den dargebotenen Glaubensinhalt erfassen
und gleichsam neu aus sich heraus erzeugen. Anmuthig und rührend sind die kleinen
mädchenhaften Züge, welche zwischendurch hervortreten und der Contrast, welcher
zwischen der weiblichen Beschränktheit ihrer Natur und den großen Wirkungen einer
alles beherrschenden Idee in ihr sich zeigt, ist ganz dazu angethan, auch das psychologische
Interesse lebhaft anzuregen. Dasselbe gilt von den Quellen, aus denen die Lebens¬
beschreibung herausgearbeitet ist. von der wandelbaren Beschaffenheit scheinbar ganz
authentischer Berichte, wie sich z. B. auf S. 52 u. 55 f. ein ganz lehrreicher
Beitrag zur Geschichte religiöser Wundcrbcrichte vorfindet, bei welchem sogar die be¬
kannte Thatsache der Mythen- und Sagenbildung aus mißverstandenen Reden und
Gleichnissen .nicht ohne Beispiel bleibt. Die Darstellung ist. ohne in gelehrte Breite
iU verfallen, eingehend und durchaus auf die Quellen gegründet, denen eine gerechte
Würdigung zu Theil wird. Die folgenden Schlußworte des Werkchens mögen für
dasselbe sprechen:

"Der Bettler von Assisi, Eatcrina und ein Dritter, den der Papst nicht heilig
sprechen darf, sind aus dem Mittelalter die großen Vvltshciligen von Italien ge¬
worden, soweit es sich noch katholisch fühlt, die Heilige von Siena trotz des Geschicks,
das über ihren Orden gekommen ist. Sie hat in demjenigen, was sie wirken und
schaffen wollte, den Widerspruch des Ideals gegen die Wirklichkeit schmerzlich empfunden:
aber die Mutter von Tausend und aber Tausend Seele", wie ein treuer Jünger sie


Vermischte Literatur.
Caterina von Siena. Ein Heiligenbild von or. Karl Hase. Leipzig,
Breitkopf und Härtel. I8K4.

Der bekannte feingebildete und rüstige Verfechter protestantischer Wissenschaft
erfreut hier aufs Neue mit einer Arbeit, welche sich früher von ihm veröffentlichten
Schriften anschließt, insbesondre seinen „Neuen Propheten" und dem „Franz von
Assisi». Auf Grund eingehendster Detailstudien, nicht gewöhnlicher historischer Kenntniß
und des seltnen Vermögens, aus dem beirrenden Wüste röinischkathvlischcr Hciligcn-
legendcn den wahren geschichtlichen Inhalt herauszuschälen, liefert er hier das Lebens¬
bild einer Frau, deren Individualität nach manchen Seiten hin das allgemein
menschliche Interesse nicht minder wie das religiöse zu fesseln vermag. Ein wunder¬
bares Bild entrollt sich in diesem einförmig dahinfließenden Frauenleben vor unsern
Augen. Durch die Schlacken der Unbildung und einer nicht ganz von Krankhaftigkeit
freien Ucberschwnnglichkcit des Empfindens hindurch erkennen wir in ihr ein ur¬
sprüngliches und naives religiöses Bewußtsein. kräftig und schöpferisch auftretend und
unbeirrt von den beengenden Satzungen ihrer Kirche, deren starrgewvrdcnen Formen
die innige und unüberwindliche, fast leidenschaftliche Gluth ihrer Frömmigkeit neues
Leben einzuhauchen vermag. Auch sie gehört zu jenen wunderbaren Erscheinungen
der Zeit vor der Reformation, weiche recht eigentlich religiöse Genies zu nennen
sind und in großartiger, unbewußter Freiheit den dargebotenen Glaubensinhalt erfassen
und gleichsam neu aus sich heraus erzeugen. Anmuthig und rührend sind die kleinen
mädchenhaften Züge, welche zwischendurch hervortreten und der Contrast, welcher
zwischen der weiblichen Beschränktheit ihrer Natur und den großen Wirkungen einer
alles beherrschenden Idee in ihr sich zeigt, ist ganz dazu angethan, auch das psychologische
Interesse lebhaft anzuregen. Dasselbe gilt von den Quellen, aus denen die Lebens¬
beschreibung herausgearbeitet ist. von der wandelbaren Beschaffenheit scheinbar ganz
authentischer Berichte, wie sich z. B. auf S. 52 u. 55 f. ein ganz lehrreicher
Beitrag zur Geschichte religiöser Wundcrbcrichte vorfindet, bei welchem sogar die be¬
kannte Thatsache der Mythen- und Sagenbildung aus mißverstandenen Reden und
Gleichnissen .nicht ohne Beispiel bleibt. Die Darstellung ist. ohne in gelehrte Breite
iU verfallen, eingehend und durchaus auf die Quellen gegründet, denen eine gerechte
Würdigung zu Theil wird. Die folgenden Schlußworte des Werkchens mögen für
dasselbe sprechen:

„Der Bettler von Assisi, Eatcrina und ein Dritter, den der Papst nicht heilig
sprechen darf, sind aus dem Mittelalter die großen Vvltshciligen von Italien ge¬
worden, soweit es sich noch katholisch fühlt, die Heilige von Siena trotz des Geschicks,
das über ihren Orden gekommen ist. Sie hat in demjenigen, was sie wirken und
schaffen wollte, den Widerspruch des Ideals gegen die Wirklichkeit schmerzlich empfunden:
aber die Mutter von Tausend und aber Tausend Seele», wie ein treuer Jünger sie


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[0205] Vermischte Literatur. Caterina von Siena. Ein Heiligenbild von or. Karl Hase. Leipzig, Breitkopf und Härtel. I8K4. Der bekannte feingebildete und rüstige Verfechter protestantischer Wissenschaft erfreut hier aufs Neue mit einer Arbeit, welche sich früher von ihm veröffentlichten Schriften anschließt, insbesondre seinen „Neuen Propheten" und dem „Franz von Assisi». Auf Grund eingehendster Detailstudien, nicht gewöhnlicher historischer Kenntniß und des seltnen Vermögens, aus dem beirrenden Wüste röinischkathvlischcr Hciligcn- legendcn den wahren geschichtlichen Inhalt herauszuschälen, liefert er hier das Lebens¬ bild einer Frau, deren Individualität nach manchen Seiten hin das allgemein menschliche Interesse nicht minder wie das religiöse zu fesseln vermag. Ein wunder¬ bares Bild entrollt sich in diesem einförmig dahinfließenden Frauenleben vor unsern Augen. Durch die Schlacken der Unbildung und einer nicht ganz von Krankhaftigkeit freien Ucberschwnnglichkcit des Empfindens hindurch erkennen wir in ihr ein ur¬ sprüngliches und naives religiöses Bewußtsein. kräftig und schöpferisch auftretend und unbeirrt von den beengenden Satzungen ihrer Kirche, deren starrgewvrdcnen Formen die innige und unüberwindliche, fast leidenschaftliche Gluth ihrer Frömmigkeit neues Leben einzuhauchen vermag. Auch sie gehört zu jenen wunderbaren Erscheinungen der Zeit vor der Reformation, weiche recht eigentlich religiöse Genies zu nennen sind und in großartiger, unbewußter Freiheit den dargebotenen Glaubensinhalt erfassen und gleichsam neu aus sich heraus erzeugen. Anmuthig und rührend sind die kleinen mädchenhaften Züge, welche zwischendurch hervortreten und der Contrast, welcher zwischen der weiblichen Beschränktheit ihrer Natur und den großen Wirkungen einer alles beherrschenden Idee in ihr sich zeigt, ist ganz dazu angethan, auch das psychologische Interesse lebhaft anzuregen. Dasselbe gilt von den Quellen, aus denen die Lebens¬ beschreibung herausgearbeitet ist. von der wandelbaren Beschaffenheit scheinbar ganz authentischer Berichte, wie sich z. B. auf S. 52 u. 55 f. ein ganz lehrreicher Beitrag zur Geschichte religiöser Wundcrbcrichte vorfindet, bei welchem sogar die be¬ kannte Thatsache der Mythen- und Sagenbildung aus mißverstandenen Reden und Gleichnissen .nicht ohne Beispiel bleibt. Die Darstellung ist. ohne in gelehrte Breite iU verfallen, eingehend und durchaus auf die Quellen gegründet, denen eine gerechte Würdigung zu Theil wird. Die folgenden Schlußworte des Werkchens mögen für dasselbe sprechen: „Der Bettler von Assisi, Eatcrina und ein Dritter, den der Papst nicht heilig sprechen darf, sind aus dem Mittelalter die großen Vvltshciligen von Italien ge¬ worden, soweit es sich noch katholisch fühlt, die Heilige von Siena trotz des Geschicks, das über ihren Orden gekommen ist. Sie hat in demjenigen, was sie wirken und schaffen wollte, den Widerspruch des Ideals gegen die Wirklichkeit schmerzlich empfunden: aber die Mutter von Tausend und aber Tausend Seele», wie ein treuer Jünger sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/205>, abgerufen am 03.07.2024.