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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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des Volkes hatte seit der Zeit des Matthias Rückschritte gemacht, der Protestan¬
tismus war dort durch kriegerische und geistliche Arbeit unterdrückt worden,
seinen Gegner, den Jesuitenorden hatte die Strafe des eigenen Thuns erreicht,
er war in Äußerlichkeiten und geistlosen Wesen verkommen. Schweigend und
unterwürfig vegetirten die Menschen in den Kronländern unter der schlaffen
Zucht ihrer geistlichen Hirten, wo sich in den Gebirgsthälern die religiöse und
politische Opposition noch hier und da einmal regte, wurde.sie erbarmungslos
Verfolgt; nur wenigen hatte in dem Thalland der Moldau und Donau die
Lehre der Pietät das Herz gehoben, die ganze Aufklärungszeit kam dort dem
Landvolk nur dann zu Gute, wenn etwa einzelne größere Grundbesitzer davon
erfaßt, in ihrem Kreise die neue Humanität praktisch bethätigten. Es wird in
der Zukunft wohl den Oestreichern selbst als ein bedeutsamer Umstand ihrer
Geschichte erscheinen, daß die Masse des Volkes bei ihnen fast ein Jahrhundert
später in die große Culturbewegung eintrat als die übrigen Stämme Deutjch-
lands.

Und doch war durch Feuer und Blut, durch geistliche Gerichte und bürger¬
liche Kerker der Drang nach sclbstkräftigem Denken auch dort nicht ganz unter¬
drückt, aber er barg sich scheu in Heimlichkeit. Auch in Böhmen und Mähren
gab es noch Enkel, welche die Bücher ihrer protestantischer Vorfahren lasen
und in der Stille zu einander über die Macht des römischen Priesters murmelten.
Nicht wenige dieser Nachkömmlinge der alten Hussiten und mährischen Brüder
sind in unserer Zeit aus dem Dunkel hervvrgetaucht, nach mehr als zwei Jahr¬
hunderten erheben sich jetzt wieder Ketzerkirchen in den Provinzen, welche einst
mehr Protestanten als Altgläubige gezählt hatten.

Unter den Gemeinden, welche in den letzten Jahren die Theilnahme der
deutschen Protestanten für sich in Anspruch nahmen, hat kaum eine größere
Aufmerksamkeit erregt, als die kleine evangelische Genossenschaft des Marktes
Oels im brünner Kreise. Ihre Leiden und ihre Ausdauer haben sie zu einem
besonders werthen Schützling des Gustav-Adolphvereins gemacht, seine Unter¬
stützung fördert gerade jetzt den Bau einer Kirche und Schule, und die Ein¬
richtung eines Kirchspiels, welches etwa vierhundert Zugehörige hat. Aus
diesem Ort ist eine handschriftliche Aufzeichnung von Jahr 1782 erhalten, deren
Benutzung in d. Bl. durch Freundesgüte vermittelt wurde. Auch aus dieser
Schrift wird das Wesentliche nach seinem Wortlaut hier mitgetheilt. Wie
unbehilflich die Darstellung ist, es fesselt doch Einiges in Ton und Inhalt.
Der Schreiber hat nichts von der jovialen Laune des Schweidnitzers, aber sein
ganzes Wesen, seine Bibelfestigkeit, die Art, wie er die Wahrheit sucht, das
ganze Treiben in seinem Orte, ja sogar Sprache und Ausdrucksweise zeigen genau
dieselbe Stufe der Entwickelung, welche 1S0 Jahre früher an dem Volke
Schlesiens erkennbar ist. Man soll den Werth einer einzelnen Lebensäußerung


des Volkes hatte seit der Zeit des Matthias Rückschritte gemacht, der Protestan¬
tismus war dort durch kriegerische und geistliche Arbeit unterdrückt worden,
seinen Gegner, den Jesuitenorden hatte die Strafe des eigenen Thuns erreicht,
er war in Äußerlichkeiten und geistlosen Wesen verkommen. Schweigend und
unterwürfig vegetirten die Menschen in den Kronländern unter der schlaffen
Zucht ihrer geistlichen Hirten, wo sich in den Gebirgsthälern die religiöse und
politische Opposition noch hier und da einmal regte, wurde.sie erbarmungslos
Verfolgt; nur wenigen hatte in dem Thalland der Moldau und Donau die
Lehre der Pietät das Herz gehoben, die ganze Aufklärungszeit kam dort dem
Landvolk nur dann zu Gute, wenn etwa einzelne größere Grundbesitzer davon
erfaßt, in ihrem Kreise die neue Humanität praktisch bethätigten. Es wird in
der Zukunft wohl den Oestreichern selbst als ein bedeutsamer Umstand ihrer
Geschichte erscheinen, daß die Masse des Volkes bei ihnen fast ein Jahrhundert
später in die große Culturbewegung eintrat als die übrigen Stämme Deutjch-
lands.

Und doch war durch Feuer und Blut, durch geistliche Gerichte und bürger¬
liche Kerker der Drang nach sclbstkräftigem Denken auch dort nicht ganz unter¬
drückt, aber er barg sich scheu in Heimlichkeit. Auch in Böhmen und Mähren
gab es noch Enkel, welche die Bücher ihrer protestantischer Vorfahren lasen
und in der Stille zu einander über die Macht des römischen Priesters murmelten.
Nicht wenige dieser Nachkömmlinge der alten Hussiten und mährischen Brüder
sind in unserer Zeit aus dem Dunkel hervvrgetaucht, nach mehr als zwei Jahr¬
hunderten erheben sich jetzt wieder Ketzerkirchen in den Provinzen, welche einst
mehr Protestanten als Altgläubige gezählt hatten.

Unter den Gemeinden, welche in den letzten Jahren die Theilnahme der
deutschen Protestanten für sich in Anspruch nahmen, hat kaum eine größere
Aufmerksamkeit erregt, als die kleine evangelische Genossenschaft des Marktes
Oels im brünner Kreise. Ihre Leiden und ihre Ausdauer haben sie zu einem
besonders werthen Schützling des Gustav-Adolphvereins gemacht, seine Unter¬
stützung fördert gerade jetzt den Bau einer Kirche und Schule, und die Ein¬
richtung eines Kirchspiels, welches etwa vierhundert Zugehörige hat. Aus
diesem Ort ist eine handschriftliche Aufzeichnung von Jahr 1782 erhalten, deren
Benutzung in d. Bl. durch Freundesgüte vermittelt wurde. Auch aus dieser
Schrift wird das Wesentliche nach seinem Wortlaut hier mitgetheilt. Wie
unbehilflich die Darstellung ist, es fesselt doch Einiges in Ton und Inhalt.
Der Schreiber hat nichts von der jovialen Laune des Schweidnitzers, aber sein
ganzes Wesen, seine Bibelfestigkeit, die Art, wie er die Wahrheit sucht, das
ganze Treiben in seinem Orte, ja sogar Sprache und Ausdrucksweise zeigen genau
dieselbe Stufe der Entwickelung, welche 1S0 Jahre früher an dem Volke
Schlesiens erkennbar ist. Man soll den Werth einer einzelnen Lebensäußerung


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[0191] des Volkes hatte seit der Zeit des Matthias Rückschritte gemacht, der Protestan¬ tismus war dort durch kriegerische und geistliche Arbeit unterdrückt worden, seinen Gegner, den Jesuitenorden hatte die Strafe des eigenen Thuns erreicht, er war in Äußerlichkeiten und geistlosen Wesen verkommen. Schweigend und unterwürfig vegetirten die Menschen in den Kronländern unter der schlaffen Zucht ihrer geistlichen Hirten, wo sich in den Gebirgsthälern die religiöse und politische Opposition noch hier und da einmal regte, wurde.sie erbarmungslos Verfolgt; nur wenigen hatte in dem Thalland der Moldau und Donau die Lehre der Pietät das Herz gehoben, die ganze Aufklärungszeit kam dort dem Landvolk nur dann zu Gute, wenn etwa einzelne größere Grundbesitzer davon erfaßt, in ihrem Kreise die neue Humanität praktisch bethätigten. Es wird in der Zukunft wohl den Oestreichern selbst als ein bedeutsamer Umstand ihrer Geschichte erscheinen, daß die Masse des Volkes bei ihnen fast ein Jahrhundert später in die große Culturbewegung eintrat als die übrigen Stämme Deutjch- lands. Und doch war durch Feuer und Blut, durch geistliche Gerichte und bürger¬ liche Kerker der Drang nach sclbstkräftigem Denken auch dort nicht ganz unter¬ drückt, aber er barg sich scheu in Heimlichkeit. Auch in Böhmen und Mähren gab es noch Enkel, welche die Bücher ihrer protestantischer Vorfahren lasen und in der Stille zu einander über die Macht des römischen Priesters murmelten. Nicht wenige dieser Nachkömmlinge der alten Hussiten und mährischen Brüder sind in unserer Zeit aus dem Dunkel hervvrgetaucht, nach mehr als zwei Jahr¬ hunderten erheben sich jetzt wieder Ketzerkirchen in den Provinzen, welche einst mehr Protestanten als Altgläubige gezählt hatten. Unter den Gemeinden, welche in den letzten Jahren die Theilnahme der deutschen Protestanten für sich in Anspruch nahmen, hat kaum eine größere Aufmerksamkeit erregt, als die kleine evangelische Genossenschaft des Marktes Oels im brünner Kreise. Ihre Leiden und ihre Ausdauer haben sie zu einem besonders werthen Schützling des Gustav-Adolphvereins gemacht, seine Unter¬ stützung fördert gerade jetzt den Bau einer Kirche und Schule, und die Ein¬ richtung eines Kirchspiels, welches etwa vierhundert Zugehörige hat. Aus diesem Ort ist eine handschriftliche Aufzeichnung von Jahr 1782 erhalten, deren Benutzung in d. Bl. durch Freundesgüte vermittelt wurde. Auch aus dieser Schrift wird das Wesentliche nach seinem Wortlaut hier mitgetheilt. Wie unbehilflich die Darstellung ist, es fesselt doch Einiges in Ton und Inhalt. Der Schreiber hat nichts von der jovialen Laune des Schweidnitzers, aber sein ganzes Wesen, seine Bibelfestigkeit, die Art, wie er die Wahrheit sucht, das ganze Treiben in seinem Orte, ja sogar Sprache und Ausdrucksweise zeigen genau dieselbe Stufe der Entwickelung, welche 1S0 Jahre früher an dem Volke Schlesiens erkennbar ist. Man soll den Werth einer einzelnen Lebensäußerung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/191>, abgerufen am 23.07.2024.