Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Je mehre Schriften des neuen Testaments nun von hier aus in den
Bereich der Untersuchung gezogen wurden, und je mehr sich diese über die ganze
christliche Literatur des ersten und zweiten Jahrhunderts ausdehnte, ums" deut¬
licher gab sich der Gegensatz des Judenchristenthums und Hcidcnchristent.bums
als der leitende Faden durch die urchristliche Literatur und damit durch die
urchristliche Geschichte zu erkennen. Der streng judaistischc Standpunkt war uns
noch in der Offenbarung des Johannes, der streng paulinische in den Haupt¬
briefen des Heidenapostels aufbewahrt. Bei weitem die Mehrzahl der kanonischen
Schriften jedoch fiel in die späteren Phasen jenes Entwickelungsgangs, wo von
beiden Seiten das Bedürfniß einer Annäherung und Verständigung sich geltend
machte und stufenweise wirklich zur Ausgleichung in der katholischen Kirche führte.
Und hier war nun der Ort, wo von den gewonnenen Resultaten aus auch
die Kritik der Evangelien wieder aufgenommen werden mußte. Denn auch
den Evangelien mußte in jenem Proceß die ihnen zukommende Stelle aus-
gemittelt werden. Indem sich Baur -- allerdings unter der Einwirkung, welche
die freie Kritik des Straußfeder Buchs auf ihn ausübte -- jetzt der Evangelien-
kritik zuwandte, stand er von Anfang an auf einem ganz anderen Boden als
seine Vorgänger. Diejenigen Fragen, um welche es sich bis jetzt in erster Linie
gehandelt hatte, wie sich der historische Stoff in den Evangelien zu einander
verhalte, was als geschichtlich, was als ungeschichtlich zu betrachten sei, wurden
von Baur vorläufig zurückgedrängt gegen die Hauptfrage: was wollte und
bezweckte jeder Verfasser mit seiner Darstellung, was ist seine Individualität
und schriftstellerische Eigenthümlichkeit, ist er ein schlichter Referent der evange¬
lischen Geschichte, oder blickt nicht da und dort etwas hervor, was uns tiefer
in die ihn bewegenden Interessen und Motive hineinblicken läßt? Gelänge es.
sagte Baur in diesem Zusammenhang, auch nur einem der Evangelisten das
Geheimniß der Conception seines Evangeliums abzulauschen, so hätte die Kritik
einen festen Punkt, von welchem aus sie einen weiteren Boden gewinnen kann.

Die Kritik fand diesen festen Punkt. Mit jenem fruchtbaren Gedanken
warf sich Baur sogleich auf den Mittelpunkt der Evangelienkritik- er untersuchte
das Jvhannesevangelium, um durch eine Analyse seines Inhalts die Stellung
zu ermitteln, die es in der Geschichte der christlichen Entwickelung einnimmt.
Die Frage nach der Echtheit, nach dem Historischen in diesem Evangelium,
wurde also zurückgestellt gegen die Frage nach der Idee, welche seiner Komposi¬
tion zu Grund liege. .Daß gerade das vierte Evangelium wesentlich lehrhaft
ist und seine Geschichtserzählung innerhalb bestimmter dogmatischer Voraus¬
setzungen sich bewegt, hatte man wohl schon früher zugeben müssen. Aber es
fragte sich nun, ob die aus der Geschichtserzählung hervorblickende Idee nur
als ein verschwindendes Moment der rein geschichtlichen Tendenz anzusehen, oder
ob die Idee so übergreifend über die Erzählung sei, daß sie diese selbst nach


18*

Je mehre Schriften des neuen Testaments nun von hier aus in den
Bereich der Untersuchung gezogen wurden, und je mehr sich diese über die ganze
christliche Literatur des ersten und zweiten Jahrhunderts ausdehnte, ums» deut¬
licher gab sich der Gegensatz des Judenchristenthums und Hcidcnchristent.bums
als der leitende Faden durch die urchristliche Literatur und damit durch die
urchristliche Geschichte zu erkennen. Der streng judaistischc Standpunkt war uns
noch in der Offenbarung des Johannes, der streng paulinische in den Haupt¬
briefen des Heidenapostels aufbewahrt. Bei weitem die Mehrzahl der kanonischen
Schriften jedoch fiel in die späteren Phasen jenes Entwickelungsgangs, wo von
beiden Seiten das Bedürfniß einer Annäherung und Verständigung sich geltend
machte und stufenweise wirklich zur Ausgleichung in der katholischen Kirche führte.
Und hier war nun der Ort, wo von den gewonnenen Resultaten aus auch
die Kritik der Evangelien wieder aufgenommen werden mußte. Denn auch
den Evangelien mußte in jenem Proceß die ihnen zukommende Stelle aus-
gemittelt werden. Indem sich Baur — allerdings unter der Einwirkung, welche
die freie Kritik des Straußfeder Buchs auf ihn ausübte — jetzt der Evangelien-
kritik zuwandte, stand er von Anfang an auf einem ganz anderen Boden als
seine Vorgänger. Diejenigen Fragen, um welche es sich bis jetzt in erster Linie
gehandelt hatte, wie sich der historische Stoff in den Evangelien zu einander
verhalte, was als geschichtlich, was als ungeschichtlich zu betrachten sei, wurden
von Baur vorläufig zurückgedrängt gegen die Hauptfrage: was wollte und
bezweckte jeder Verfasser mit seiner Darstellung, was ist seine Individualität
und schriftstellerische Eigenthümlichkeit, ist er ein schlichter Referent der evange¬
lischen Geschichte, oder blickt nicht da und dort etwas hervor, was uns tiefer
in die ihn bewegenden Interessen und Motive hineinblicken läßt? Gelänge es.
sagte Baur in diesem Zusammenhang, auch nur einem der Evangelisten das
Geheimniß der Conception seines Evangeliums abzulauschen, so hätte die Kritik
einen festen Punkt, von welchem aus sie einen weiteren Boden gewinnen kann.

Die Kritik fand diesen festen Punkt. Mit jenem fruchtbaren Gedanken
warf sich Baur sogleich auf den Mittelpunkt der Evangelienkritik- er untersuchte
das Jvhannesevangelium, um durch eine Analyse seines Inhalts die Stellung
zu ermitteln, die es in der Geschichte der christlichen Entwickelung einnimmt.
Die Frage nach der Echtheit, nach dem Historischen in diesem Evangelium,
wurde also zurückgestellt gegen die Frage nach der Idee, welche seiner Komposi¬
tion zu Grund liege. .Daß gerade das vierte Evangelium wesentlich lehrhaft
ist und seine Geschichtserzählung innerhalb bestimmter dogmatischer Voraus¬
setzungen sich bewegt, hatte man wohl schon früher zugeben müssen. Aber es
fragte sich nun, ob die aus der Geschichtserzählung hervorblickende Idee nur
als ein verschwindendes Moment der rein geschichtlichen Tendenz anzusehen, oder
ob die Idee so übergreifend über die Erzählung sei, daß sie diese selbst nach


18*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0147" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188708"/>
          <p xml:id="ID_486"> Je mehre Schriften des neuen Testaments nun von hier aus in den<lb/>
Bereich der Untersuchung gezogen wurden, und je mehr sich diese über die ganze<lb/>
christliche Literatur des ersten und zweiten Jahrhunderts ausdehnte, ums» deut¬<lb/>
licher gab sich der Gegensatz des Judenchristenthums und Hcidcnchristent.bums<lb/>
als der leitende Faden durch die urchristliche Literatur und damit durch die<lb/>
urchristliche Geschichte zu erkennen. Der streng judaistischc Standpunkt war uns<lb/>
noch in der Offenbarung des Johannes, der streng paulinische in den Haupt¬<lb/>
briefen des Heidenapostels aufbewahrt. Bei weitem die Mehrzahl der kanonischen<lb/>
Schriften jedoch fiel in die späteren Phasen jenes Entwickelungsgangs, wo von<lb/>
beiden Seiten das Bedürfniß einer Annäherung und Verständigung sich geltend<lb/>
machte und stufenweise wirklich zur Ausgleichung in der katholischen Kirche führte.<lb/>
Und hier war nun der Ort, wo von den gewonnenen Resultaten aus auch<lb/>
die Kritik der Evangelien wieder aufgenommen werden mußte. Denn auch<lb/>
den Evangelien mußte in jenem Proceß die ihnen zukommende Stelle aus-<lb/>
gemittelt werden. Indem sich Baur &#x2014; allerdings unter der Einwirkung, welche<lb/>
die freie Kritik des Straußfeder Buchs auf ihn ausübte &#x2014; jetzt der Evangelien-<lb/>
kritik zuwandte, stand er von Anfang an auf einem ganz anderen Boden als<lb/>
seine Vorgänger. Diejenigen Fragen, um welche es sich bis jetzt in erster Linie<lb/>
gehandelt hatte, wie sich der historische Stoff in den Evangelien zu einander<lb/>
verhalte, was als geschichtlich, was als ungeschichtlich zu betrachten sei, wurden<lb/>
von Baur vorläufig zurückgedrängt gegen die Hauptfrage: was wollte und<lb/>
bezweckte jeder Verfasser mit seiner Darstellung, was ist seine Individualität<lb/>
und schriftstellerische Eigenthümlichkeit, ist er ein schlichter Referent der evange¬<lb/>
lischen Geschichte, oder blickt nicht da und dort etwas hervor, was uns tiefer<lb/>
in die ihn bewegenden Interessen und Motive hineinblicken läßt? Gelänge es.<lb/>
sagte Baur in diesem Zusammenhang, auch nur einem der Evangelisten das<lb/>
Geheimniß der Conception seines Evangeliums abzulauschen, so hätte die Kritik<lb/>
einen festen Punkt, von welchem aus sie einen weiteren Boden gewinnen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_487" next="#ID_488"> Die Kritik fand diesen festen Punkt. Mit jenem fruchtbaren Gedanken<lb/>
warf sich Baur sogleich auf den Mittelpunkt der Evangelienkritik- er untersuchte<lb/>
das Jvhannesevangelium, um durch eine Analyse seines Inhalts die Stellung<lb/>
zu ermitteln, die es in der Geschichte der christlichen Entwickelung einnimmt.<lb/>
Die Frage nach der Echtheit, nach dem Historischen in diesem Evangelium,<lb/>
wurde also zurückgestellt gegen die Frage nach der Idee, welche seiner Komposi¬<lb/>
tion zu Grund liege. .Daß gerade das vierte Evangelium wesentlich lehrhaft<lb/>
ist und seine Geschichtserzählung innerhalb bestimmter dogmatischer Voraus¬<lb/>
setzungen sich bewegt, hatte man wohl schon früher zugeben müssen. Aber es<lb/>
fragte sich nun, ob die aus der Geschichtserzählung hervorblickende Idee nur<lb/>
als ein verschwindendes Moment der rein geschichtlichen Tendenz anzusehen, oder<lb/>
ob die Idee so übergreifend über die Erzählung sei, daß sie diese selbst nach</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 18*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0147] Je mehre Schriften des neuen Testaments nun von hier aus in den Bereich der Untersuchung gezogen wurden, und je mehr sich diese über die ganze christliche Literatur des ersten und zweiten Jahrhunderts ausdehnte, ums» deut¬ licher gab sich der Gegensatz des Judenchristenthums und Hcidcnchristent.bums als der leitende Faden durch die urchristliche Literatur und damit durch die urchristliche Geschichte zu erkennen. Der streng judaistischc Standpunkt war uns noch in der Offenbarung des Johannes, der streng paulinische in den Haupt¬ briefen des Heidenapostels aufbewahrt. Bei weitem die Mehrzahl der kanonischen Schriften jedoch fiel in die späteren Phasen jenes Entwickelungsgangs, wo von beiden Seiten das Bedürfniß einer Annäherung und Verständigung sich geltend machte und stufenweise wirklich zur Ausgleichung in der katholischen Kirche führte. Und hier war nun der Ort, wo von den gewonnenen Resultaten aus auch die Kritik der Evangelien wieder aufgenommen werden mußte. Denn auch den Evangelien mußte in jenem Proceß die ihnen zukommende Stelle aus- gemittelt werden. Indem sich Baur — allerdings unter der Einwirkung, welche die freie Kritik des Straußfeder Buchs auf ihn ausübte — jetzt der Evangelien- kritik zuwandte, stand er von Anfang an auf einem ganz anderen Boden als seine Vorgänger. Diejenigen Fragen, um welche es sich bis jetzt in erster Linie gehandelt hatte, wie sich der historische Stoff in den Evangelien zu einander verhalte, was als geschichtlich, was als ungeschichtlich zu betrachten sei, wurden von Baur vorläufig zurückgedrängt gegen die Hauptfrage: was wollte und bezweckte jeder Verfasser mit seiner Darstellung, was ist seine Individualität und schriftstellerische Eigenthümlichkeit, ist er ein schlichter Referent der evange¬ lischen Geschichte, oder blickt nicht da und dort etwas hervor, was uns tiefer in die ihn bewegenden Interessen und Motive hineinblicken läßt? Gelänge es. sagte Baur in diesem Zusammenhang, auch nur einem der Evangelisten das Geheimniß der Conception seines Evangeliums abzulauschen, so hätte die Kritik einen festen Punkt, von welchem aus sie einen weiteren Boden gewinnen kann. Die Kritik fand diesen festen Punkt. Mit jenem fruchtbaren Gedanken warf sich Baur sogleich auf den Mittelpunkt der Evangelienkritik- er untersuchte das Jvhannesevangelium, um durch eine Analyse seines Inhalts die Stellung zu ermitteln, die es in der Geschichte der christlichen Entwickelung einnimmt. Die Frage nach der Echtheit, nach dem Historischen in diesem Evangelium, wurde also zurückgestellt gegen die Frage nach der Idee, welche seiner Komposi¬ tion zu Grund liege. .Daß gerade das vierte Evangelium wesentlich lehrhaft ist und seine Geschichtserzählung innerhalb bestimmter dogmatischer Voraus¬ setzungen sich bewegt, hatte man wohl schon früher zugeben müssen. Aber es fragte sich nun, ob die aus der Geschichtserzählung hervorblickende Idee nur als ein verschwindendes Moment der rein geschichtlichen Tendenz anzusehen, oder ob die Idee so übergreifend über die Erzählung sei, daß sie diese selbst nach 18*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/147
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/147>, abgerufen am 23.07.2024.