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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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unseren Gegenstand, die Urgeschichte des Christenthums betrifft, wo eben die
größten und eigenthümlichsten Verdienste Bcmrs liegen, so wäre es hier nicht
möglich, alle hierauf bezüglichen Schriften, alle Einzeluntersuchungen, alle Gänge
mit den (Aegnern aufzuzählen und zu charakterisiren, denn es liegt eine ganz
erstaunliche Fülle von Abhandlungen und Werken vor, in welchen Baur seine
Forschungen ausreiste, immer mit neuen Gründen stützte, wiederholter Prüfung
unterwarf und sich mit den Einwürfen der verschiedensten Gegner oder auch
mit den Aufstellungen der eigenen Schüler auseinandersetzte. Wir müssen uns
darauf beschränken, den Gang, den seine Forschungen nahmen, im Allgemeinen
zu verfolgen und die Hauptresultate anzugeben, zu welchen sie ihn leiteten.

Das Interesse von Strauß war ein kritisches; es war im Grund zufällig,
wenn bei der Rechnung irgend ein Nest, ein positiver Niederschlag zurückblieb.
Das Interesse Baurs war von Haus aus ein positiv geschichtliches; die Kritik
war nur Mittel zu diesem Zweck. Hatte Baur auf seinem Wege altgcwurzelte
Vorurtheile zu beseitigen, irrige Meiungen über Autorschaft, Ursprung und
Zeit der kanonischen Schriften umzustoßen, so ging er diesem Geschäft mit allem
Freimuth und Scharfsinn nach. Aber was er seiner angeblichen Autorität ent¬
kleidet hatte, reihte er sofort an der ihm gebührenden Stelle in der urchristlichcu
Entwickelung ein und verwandte es somit als Baustein für die Geschichte dieser
Zeit. Er konnte mit Recht sagen, seine Kritik sei eine conservative, "weil sie
ja nur auf dem einfachen Grundsatz beruht, jedem das Seine zu lassen und
zu geben, aber freilich auch nur das Seine." Für einen Forscher dieser Art
konnte der Ausgangspunkt nur die fest beglaubigte Geschichte sein. Der nächste
Anhalt fand sich in den Hauptbriefen des Apostels Paulus, welche, unbestritten
echt, nicht blos ein Denkmal der Geisicsart ihres Verfassers, sondern zugleich
ein Denkmal ihrer Zeit mit den sie bewegenden Kämpfen und Gegensätzen sind.
In diesen Briefen fand nun Baur, daß das harmonische Verhältniß, welches
man gewöhnlich zwischen dem Apostel Paulus und den Judenchristen, an deren
Spitze die älteren Apostel standen, angenommen hatte, in Wahrheit nicht statt¬
gefunden, daß vielmehr der Gegensatz zwischen den judaistisch beschränkten Urapo-
ftcln und dem universellen Heidenapvstel ein viel tiefer gehender gewesen sei
und wesentlich den Entwickelungsgang der ältesten Kirche bestimmt habe. Die
Geschichte der ältesten Kirche ist die Geschichte des Kampfes zwischen Juden¬
christenthum und Heidcnchristenthum, zwischen Petrinismus und Paulinismus.
Da das Christenthum aus dem Judenthum hervorgegangen ist und mit ihm
im engsten Zusammenhange stand, so lag es in der Natur der Sache, daß es
auf der ersten Stufe seiner Entwicklung selbst noch den Charakter des Juden-
thums an sich trug; es war nur der Glaube an den nicht erst künstigen, sondern
an den bereits erschienenen Messias, was die ersten Christen von ihren bis¬
herigen Glaubensgenossen unterschied. Je enger aber dieser Glaube an das


unseren Gegenstand, die Urgeschichte des Christenthums betrifft, wo eben die
größten und eigenthümlichsten Verdienste Bcmrs liegen, so wäre es hier nicht
möglich, alle hierauf bezüglichen Schriften, alle Einzeluntersuchungen, alle Gänge
mit den (Aegnern aufzuzählen und zu charakterisiren, denn es liegt eine ganz
erstaunliche Fülle von Abhandlungen und Werken vor, in welchen Baur seine
Forschungen ausreiste, immer mit neuen Gründen stützte, wiederholter Prüfung
unterwarf und sich mit den Einwürfen der verschiedensten Gegner oder auch
mit den Aufstellungen der eigenen Schüler auseinandersetzte. Wir müssen uns
darauf beschränken, den Gang, den seine Forschungen nahmen, im Allgemeinen
zu verfolgen und die Hauptresultate anzugeben, zu welchen sie ihn leiteten.

Das Interesse von Strauß war ein kritisches; es war im Grund zufällig,
wenn bei der Rechnung irgend ein Nest, ein positiver Niederschlag zurückblieb.
Das Interesse Baurs war von Haus aus ein positiv geschichtliches; die Kritik
war nur Mittel zu diesem Zweck. Hatte Baur auf seinem Wege altgcwurzelte
Vorurtheile zu beseitigen, irrige Meiungen über Autorschaft, Ursprung und
Zeit der kanonischen Schriften umzustoßen, so ging er diesem Geschäft mit allem
Freimuth und Scharfsinn nach. Aber was er seiner angeblichen Autorität ent¬
kleidet hatte, reihte er sofort an der ihm gebührenden Stelle in der urchristlichcu
Entwickelung ein und verwandte es somit als Baustein für die Geschichte dieser
Zeit. Er konnte mit Recht sagen, seine Kritik sei eine conservative, „weil sie
ja nur auf dem einfachen Grundsatz beruht, jedem das Seine zu lassen und
zu geben, aber freilich auch nur das Seine." Für einen Forscher dieser Art
konnte der Ausgangspunkt nur die fest beglaubigte Geschichte sein. Der nächste
Anhalt fand sich in den Hauptbriefen des Apostels Paulus, welche, unbestritten
echt, nicht blos ein Denkmal der Geisicsart ihres Verfassers, sondern zugleich
ein Denkmal ihrer Zeit mit den sie bewegenden Kämpfen und Gegensätzen sind.
In diesen Briefen fand nun Baur, daß das harmonische Verhältniß, welches
man gewöhnlich zwischen dem Apostel Paulus und den Judenchristen, an deren
Spitze die älteren Apostel standen, angenommen hatte, in Wahrheit nicht statt¬
gefunden, daß vielmehr der Gegensatz zwischen den judaistisch beschränkten Urapo-
ftcln und dem universellen Heidenapvstel ein viel tiefer gehender gewesen sei
und wesentlich den Entwickelungsgang der ältesten Kirche bestimmt habe. Die
Geschichte der ältesten Kirche ist die Geschichte des Kampfes zwischen Juden¬
christenthum und Heidcnchristenthum, zwischen Petrinismus und Paulinismus.
Da das Christenthum aus dem Judenthum hervorgegangen ist und mit ihm
im engsten Zusammenhange stand, so lag es in der Natur der Sache, daß es
auf der ersten Stufe seiner Entwicklung selbst noch den Charakter des Juden-
thums an sich trug; es war nur der Glaube an den nicht erst künstigen, sondern
an den bereits erschienenen Messias, was die ersten Christen von ihren bis¬
herigen Glaubensgenossen unterschied. Je enger aber dieser Glaube an das


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[0143] unseren Gegenstand, die Urgeschichte des Christenthums betrifft, wo eben die größten und eigenthümlichsten Verdienste Bcmrs liegen, so wäre es hier nicht möglich, alle hierauf bezüglichen Schriften, alle Einzeluntersuchungen, alle Gänge mit den (Aegnern aufzuzählen und zu charakterisiren, denn es liegt eine ganz erstaunliche Fülle von Abhandlungen und Werken vor, in welchen Baur seine Forschungen ausreiste, immer mit neuen Gründen stützte, wiederholter Prüfung unterwarf und sich mit den Einwürfen der verschiedensten Gegner oder auch mit den Aufstellungen der eigenen Schüler auseinandersetzte. Wir müssen uns darauf beschränken, den Gang, den seine Forschungen nahmen, im Allgemeinen zu verfolgen und die Hauptresultate anzugeben, zu welchen sie ihn leiteten. Das Interesse von Strauß war ein kritisches; es war im Grund zufällig, wenn bei der Rechnung irgend ein Nest, ein positiver Niederschlag zurückblieb. Das Interesse Baurs war von Haus aus ein positiv geschichtliches; die Kritik war nur Mittel zu diesem Zweck. Hatte Baur auf seinem Wege altgcwurzelte Vorurtheile zu beseitigen, irrige Meiungen über Autorschaft, Ursprung und Zeit der kanonischen Schriften umzustoßen, so ging er diesem Geschäft mit allem Freimuth und Scharfsinn nach. Aber was er seiner angeblichen Autorität ent¬ kleidet hatte, reihte er sofort an der ihm gebührenden Stelle in der urchristlichcu Entwickelung ein und verwandte es somit als Baustein für die Geschichte dieser Zeit. Er konnte mit Recht sagen, seine Kritik sei eine conservative, „weil sie ja nur auf dem einfachen Grundsatz beruht, jedem das Seine zu lassen und zu geben, aber freilich auch nur das Seine." Für einen Forscher dieser Art konnte der Ausgangspunkt nur die fest beglaubigte Geschichte sein. Der nächste Anhalt fand sich in den Hauptbriefen des Apostels Paulus, welche, unbestritten echt, nicht blos ein Denkmal der Geisicsart ihres Verfassers, sondern zugleich ein Denkmal ihrer Zeit mit den sie bewegenden Kämpfen und Gegensätzen sind. In diesen Briefen fand nun Baur, daß das harmonische Verhältniß, welches man gewöhnlich zwischen dem Apostel Paulus und den Judenchristen, an deren Spitze die älteren Apostel standen, angenommen hatte, in Wahrheit nicht statt¬ gefunden, daß vielmehr der Gegensatz zwischen den judaistisch beschränkten Urapo- ftcln und dem universellen Heidenapvstel ein viel tiefer gehender gewesen sei und wesentlich den Entwickelungsgang der ältesten Kirche bestimmt habe. Die Geschichte der ältesten Kirche ist die Geschichte des Kampfes zwischen Juden¬ christenthum und Heidcnchristenthum, zwischen Petrinismus und Paulinismus. Da das Christenthum aus dem Judenthum hervorgegangen ist und mit ihm im engsten Zusammenhange stand, so lag es in der Natur der Sache, daß es auf der ersten Stufe seiner Entwicklung selbst noch den Charakter des Juden- thums an sich trug; es war nur der Glaube an den nicht erst künstigen, sondern an den bereits erschienenen Messias, was die ersten Christen von ihren bis¬ herigen Glaubensgenossen unterschied. Je enger aber dieser Glaube an das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/143>, abgerufen am 23.07.2024.