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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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einer unbefangenen Vorurtheilslosen Auslegung; und wie sie in ihren höheren
Leistungen die Einheit der homerischen Gesänge zerstörte und die älteste Geschichte
Roms in Mythen auflöste, so drang sie mit denselben Waffen der Kritik ein
in die schriftstellerischen Compositionen der urchristlicher Zeit, um deren Veran¬
lassung und Zeit der Entstehung zu ergründen, um sagenhaftes und Geschicht¬
liches zu scheiden. Die Kunde der Religionen des Alterthums hatte den Be¬
dingungen nachgeforscht, unter welchen religiöse Vorstellungen sich erzeugen, sich
verwandeln, sich verfestigen, mit ihren Ergebnissen trat sie jetzt an den Kreis von
Lorstellungen heran, die sich um den Stifter der christlichen Religion gebildet
hatten, und deren Niederschlag den Inhalt der ersten christlichen Urkunden aus¬
macht. Die Geschichte, bestrebt, in die unendliche Masse des Geschehens Ordnung
und Sinn zu bringen, wies den inneren Zusammenhang der Erscheinung Jesu
mit seiner Zeit nach. Sie durchbrach die teleologische Betrachtungsweise und
gewann für die Entstehung des Christenthums einen Standpunkt, von weinten
dasselbe als das Ergebniß der ganzen bisherigen weltgeschichtlichen Entwickelung
sich darstellte. Die Philosophie endlich, alles Gewordene überschauend und auf
ihre letzten Ziele zurückführend, wies dem Christenthum seine absolute Stelle
in der Geschichte des menschlichen Geistes an, und eindringend in das Wesen
der Religion stellte sie als ewige ideelle Wahrheit dasjenige wieder her, was
als religiöse Vorstellung von dem modernen kritisch entwickelten Bewußtsein in
Anspruch genommen war.

Alle diese Momente, welchen die Theologie selbst trotz anfänglichen Wider-
strebens mehr und mehr Eingang verstatten mußte, wirkten zusammen, um die
neutestamentliche Kritik zu dem zu machen, was sie geworden ist, zu einer
Wissenschaft, welche zu der Geschichte deö Urchristenthums zum mindesten die
sicheren Umrisse zu zeichnen vermag. Eben in ihrem Zusammenwirken liegt die
Gewähr für die Objectivität ihrer Resultate. Das eine war gleichsam das
Correctiv fut das andere. Die Philosophie wies die Natulfolschung in ihre
Schranken, und umgekehrt; beiden trat eine lebendige Geschichtsbetrachtung zur
Seite, die wiederum nur durch die genaueste Detailforschung ihren wahren In¬
halt erhielt. Die herkömmlichen Vorstellungen wurden nun freilich durch diese
Kritik aufs gründlichste zerstört, aber zugleich auch die Möglichkeit einer geschicht¬
lichen Kenntniß erst geschaffen. negativ, destructiv waren wohl, wie sich von
selbst versteht, einzelne Theile derselben; aber als Gcsammtarbcit betrachtet ver¬
dient sie keinen Namen weniger als diesen. Wurden die ältesten Thatsachen des
Christenthums der mythischen und dogmatischen Zusätze entkleidet, die sich später
um sie gebildet hatten, so trat dafür das rein Menschliche in sein volles Recht,
und die Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Dinge entschädigte für
so manche Verluste die der Glaube zu beklagen hatte, -- Verluste, die zudem
nur scheinbar waren; denn die biblischen Erzählungen verloren dadurch, daß


einer unbefangenen Vorurtheilslosen Auslegung; und wie sie in ihren höheren
Leistungen die Einheit der homerischen Gesänge zerstörte und die älteste Geschichte
Roms in Mythen auflöste, so drang sie mit denselben Waffen der Kritik ein
in die schriftstellerischen Compositionen der urchristlicher Zeit, um deren Veran¬
lassung und Zeit der Entstehung zu ergründen, um sagenhaftes und Geschicht¬
liches zu scheiden. Die Kunde der Religionen des Alterthums hatte den Be¬
dingungen nachgeforscht, unter welchen religiöse Vorstellungen sich erzeugen, sich
verwandeln, sich verfestigen, mit ihren Ergebnissen trat sie jetzt an den Kreis von
Lorstellungen heran, die sich um den Stifter der christlichen Religion gebildet
hatten, und deren Niederschlag den Inhalt der ersten christlichen Urkunden aus¬
macht. Die Geschichte, bestrebt, in die unendliche Masse des Geschehens Ordnung
und Sinn zu bringen, wies den inneren Zusammenhang der Erscheinung Jesu
mit seiner Zeit nach. Sie durchbrach die teleologische Betrachtungsweise und
gewann für die Entstehung des Christenthums einen Standpunkt, von weinten
dasselbe als das Ergebniß der ganzen bisherigen weltgeschichtlichen Entwickelung
sich darstellte. Die Philosophie endlich, alles Gewordene überschauend und auf
ihre letzten Ziele zurückführend, wies dem Christenthum seine absolute Stelle
in der Geschichte des menschlichen Geistes an, und eindringend in das Wesen
der Religion stellte sie als ewige ideelle Wahrheit dasjenige wieder her, was
als religiöse Vorstellung von dem modernen kritisch entwickelten Bewußtsein in
Anspruch genommen war.

Alle diese Momente, welchen die Theologie selbst trotz anfänglichen Wider-
strebens mehr und mehr Eingang verstatten mußte, wirkten zusammen, um die
neutestamentliche Kritik zu dem zu machen, was sie geworden ist, zu einer
Wissenschaft, welche zu der Geschichte deö Urchristenthums zum mindesten die
sicheren Umrisse zu zeichnen vermag. Eben in ihrem Zusammenwirken liegt die
Gewähr für die Objectivität ihrer Resultate. Das eine war gleichsam das
Correctiv fut das andere. Die Philosophie wies die Natulfolschung in ihre
Schranken, und umgekehrt; beiden trat eine lebendige Geschichtsbetrachtung zur
Seite, die wiederum nur durch die genaueste Detailforschung ihren wahren In¬
halt erhielt. Die herkömmlichen Vorstellungen wurden nun freilich durch diese
Kritik aufs gründlichste zerstört, aber zugleich auch die Möglichkeit einer geschicht¬
lichen Kenntniß erst geschaffen. negativ, destructiv waren wohl, wie sich von
selbst versteht, einzelne Theile derselben; aber als Gcsammtarbcit betrachtet ver¬
dient sie keinen Namen weniger als diesen. Wurden die ältesten Thatsachen des
Christenthums der mythischen und dogmatischen Zusätze entkleidet, die sich später
um sie gebildet hatten, so trat dafür das rein Menschliche in sein volles Recht,
und die Einsicht in den natürlichen Zusammenhang der Dinge entschädigte für
so manche Verluste die der Glaube zu beklagen hatte, — Verluste, die zudem
nur scheinbar waren; denn die biblischen Erzählungen verloren dadurch, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/13>, abgerufen am 23.07.2024.