Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eindrangen und sich hier festsetzten. Gläubige, freidenkerische und vermittelnde
Systeme traten einander auf dem Boden der Kirche selbst gegenüber. Der Geist
der Zeit widerstrebte einer Einheit, welche die Gegensätze künstlich zusammen¬
hielt; freie Forschung, vernünftiges Denken war die Losung. Gerade diejenige
Kirche, welche am Schriftwort die allerbesteste Norm zu haben schien, verfiel in
Richtungen, welche wenig mit einander gemein hatten, als daß sie sich gleicher¬
weise aus die Schrift beriefen, welche aber jede in ihrem Sinne sich auslegte.
Dieser Zustand enthielt die dringendste Aufforderung sich mit allem Eifer eben
auf die Schrift zu werfen, um durch eine möglichst eindringende Untersuchung
in ihr eine objective Begründung für die Glaubensmeinungen zu finden.

Eine solche Schriftbetrachtung war nun aber natürlich zunächst wesentlich
polemisch und an Voraussetzungen gebunden, die von vornherein feststanden.
Es handelte sich darum, die eigene Meinung zu vertheidigen, die fremde zu
widerlegen. Das Interesse war ein wesentlich theologisches, der Standpunkt
der des eignen Systems, von welchem aus nicht schwer wurde, dasjenige in
die Schrift hineinzulegen, was das andere- aus ihr hinausbcutcte. Auch so war
also noch wenig Aussicht aus objective Ergebnisse 'der Kritik. Nur das Ein¬
dringen des kritischen Triebs in die Theologie selbst war ein wesentlicher
Fortschritt.

Allein der kritische Trieb selbst hatte noch ganz andere Wurzeln, welche
von dem Interesse an der Rechtgläubigkeit ganz unabhängig waren. Es war
jetzt nicht mehr ausschließlich die Theologie, welche sich den Anfängen des
Christenthums zuwandte. Eine Reihe von Wissenschaften, ehemals im Dienst
der Kirche, hatte sich emancipirt und aus die eigenen Füße gestellt. Jede von
ihnen hatte, sobald sie ihres selbständigen Rechts sich bewußt waren, ein
Interesse, von ihrem eigenen Standpunkt aus sich mit dem Christenthum aus¬
einanderzusetzen. Wie, wenn die Naturforschung, die Philologie, die Geschichte,
die Philosophie, die einst von der Kirche ihre Gesetze empfangen hatten, wiederum
sich auf dem mütterlichen Boden zusammenfanden, aber jetzt, um das kirchliche
Christenthum auf einen Punkte, wo sie alle gleichmäßig betheiligr waren, gemein¬
sam anzugreifen; wenn sie ein Gebäude, das durch innere Risse bereits morsch
war, niederreißen, aber nur, um mit vereinten Kräften die Grundlinien eines
N.cubaueS zu ziehen? Eben dieses geschah. Die Naturfor-schung hatte, seitdem
ihr der innere Zusammenhang der Weltgesetze immer klarer ausgegangen war,
die Aufgabe, auch alles das zu beseitigen, was mit dem Anspruch auftrat, eine
Störung der ewigen Ordnung zu sein. Sie zog die Wunderberichte erst des
alten Testaments, dann kühner auch die des neuen Testaments vor ihr Forum
und maß sie an den unveränderlichen Gesetzen des Seins. Die Philologie
bemächtigte sich des Textes der kanonischen Schriften, entdeckte Unterschiede, welche
bisher verborgen waren, sonderte Echtes und Unechtes und lehrte die Kunst


eindrangen und sich hier festsetzten. Gläubige, freidenkerische und vermittelnde
Systeme traten einander auf dem Boden der Kirche selbst gegenüber. Der Geist
der Zeit widerstrebte einer Einheit, welche die Gegensätze künstlich zusammen¬
hielt; freie Forschung, vernünftiges Denken war die Losung. Gerade diejenige
Kirche, welche am Schriftwort die allerbesteste Norm zu haben schien, verfiel in
Richtungen, welche wenig mit einander gemein hatten, als daß sie sich gleicher¬
weise aus die Schrift beriefen, welche aber jede in ihrem Sinne sich auslegte.
Dieser Zustand enthielt die dringendste Aufforderung sich mit allem Eifer eben
auf die Schrift zu werfen, um durch eine möglichst eindringende Untersuchung
in ihr eine objective Begründung für die Glaubensmeinungen zu finden.

Eine solche Schriftbetrachtung war nun aber natürlich zunächst wesentlich
polemisch und an Voraussetzungen gebunden, die von vornherein feststanden.
Es handelte sich darum, die eigene Meinung zu vertheidigen, die fremde zu
widerlegen. Das Interesse war ein wesentlich theologisches, der Standpunkt
der des eignen Systems, von welchem aus nicht schwer wurde, dasjenige in
die Schrift hineinzulegen, was das andere- aus ihr hinausbcutcte. Auch so war
also noch wenig Aussicht aus objective Ergebnisse 'der Kritik. Nur das Ein¬
dringen des kritischen Triebs in die Theologie selbst war ein wesentlicher
Fortschritt.

Allein der kritische Trieb selbst hatte noch ganz andere Wurzeln, welche
von dem Interesse an der Rechtgläubigkeit ganz unabhängig waren. Es war
jetzt nicht mehr ausschließlich die Theologie, welche sich den Anfängen des
Christenthums zuwandte. Eine Reihe von Wissenschaften, ehemals im Dienst
der Kirche, hatte sich emancipirt und aus die eigenen Füße gestellt. Jede von
ihnen hatte, sobald sie ihres selbständigen Rechts sich bewußt waren, ein
Interesse, von ihrem eigenen Standpunkt aus sich mit dem Christenthum aus¬
einanderzusetzen. Wie, wenn die Naturforschung, die Philologie, die Geschichte,
die Philosophie, die einst von der Kirche ihre Gesetze empfangen hatten, wiederum
sich auf dem mütterlichen Boden zusammenfanden, aber jetzt, um das kirchliche
Christenthum auf einen Punkte, wo sie alle gleichmäßig betheiligr waren, gemein¬
sam anzugreifen; wenn sie ein Gebäude, das durch innere Risse bereits morsch
war, niederreißen, aber nur, um mit vereinten Kräften die Grundlinien eines
N.cubaueS zu ziehen? Eben dieses geschah. Die Naturfor-schung hatte, seitdem
ihr der innere Zusammenhang der Weltgesetze immer klarer ausgegangen war,
die Aufgabe, auch alles das zu beseitigen, was mit dem Anspruch auftrat, eine
Störung der ewigen Ordnung zu sein. Sie zog die Wunderberichte erst des
alten Testaments, dann kühner auch die des neuen Testaments vor ihr Forum
und maß sie an den unveränderlichen Gesetzen des Seins. Die Philologie
bemächtigte sich des Textes der kanonischen Schriften, entdeckte Unterschiede, welche
bisher verborgen waren, sonderte Echtes und Unechtes und lehrte die Kunst


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0012" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188573"/>
          <p xml:id="ID_14" prev="#ID_13"> eindrangen und sich hier festsetzten. Gläubige, freidenkerische und vermittelnde<lb/>
Systeme traten einander auf dem Boden der Kirche selbst gegenüber. Der Geist<lb/>
der Zeit widerstrebte einer Einheit, welche die Gegensätze künstlich zusammen¬<lb/>
hielt; freie Forschung, vernünftiges Denken war die Losung. Gerade diejenige<lb/>
Kirche, welche am Schriftwort die allerbesteste Norm zu haben schien, verfiel in<lb/>
Richtungen, welche wenig mit einander gemein hatten, als daß sie sich gleicher¬<lb/>
weise aus die Schrift beriefen, welche aber jede in ihrem Sinne sich auslegte.<lb/>
Dieser Zustand enthielt die dringendste Aufforderung sich mit allem Eifer eben<lb/>
auf die Schrift zu werfen, um durch eine möglichst eindringende Untersuchung<lb/>
in ihr eine objective Begründung für die Glaubensmeinungen zu finden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_15"> Eine solche Schriftbetrachtung war nun aber natürlich zunächst wesentlich<lb/>
polemisch und an Voraussetzungen gebunden, die von vornherein feststanden.<lb/>
Es handelte sich darum, die eigene Meinung zu vertheidigen, die fremde zu<lb/>
widerlegen. Das Interesse war ein wesentlich theologisches, der Standpunkt<lb/>
der des eignen Systems, von welchem aus nicht schwer wurde, dasjenige in<lb/>
die Schrift hineinzulegen, was das andere- aus ihr hinausbcutcte. Auch so war<lb/>
also noch wenig Aussicht aus objective Ergebnisse 'der Kritik. Nur das Ein¬<lb/>
dringen des kritischen Triebs in die Theologie selbst war ein wesentlicher<lb/>
Fortschritt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_16" next="#ID_17"> Allein der kritische Trieb selbst hatte noch ganz andere Wurzeln, welche<lb/>
von dem Interesse an der Rechtgläubigkeit ganz unabhängig waren. Es war<lb/>
jetzt nicht mehr ausschließlich die Theologie, welche sich den Anfängen des<lb/>
Christenthums zuwandte. Eine Reihe von Wissenschaften, ehemals im Dienst<lb/>
der Kirche, hatte sich emancipirt und aus die eigenen Füße gestellt. Jede von<lb/>
ihnen hatte, sobald sie ihres selbständigen Rechts sich bewußt waren, ein<lb/>
Interesse, von ihrem eigenen Standpunkt aus sich mit dem Christenthum aus¬<lb/>
einanderzusetzen. Wie, wenn die Naturforschung, die Philologie, die Geschichte,<lb/>
die Philosophie, die einst von der Kirche ihre Gesetze empfangen hatten, wiederum<lb/>
sich auf dem mütterlichen Boden zusammenfanden, aber jetzt, um das kirchliche<lb/>
Christenthum auf einen Punkte, wo sie alle gleichmäßig betheiligr waren, gemein¬<lb/>
sam anzugreifen; wenn sie ein Gebäude, das durch innere Risse bereits morsch<lb/>
war, niederreißen, aber nur, um mit vereinten Kräften die Grundlinien eines<lb/>
N.cubaueS zu ziehen? Eben dieses geschah. Die Naturfor-schung hatte, seitdem<lb/>
ihr der innere Zusammenhang der Weltgesetze immer klarer ausgegangen war,<lb/>
die Aufgabe, auch alles das zu beseitigen, was mit dem Anspruch auftrat, eine<lb/>
Störung der ewigen Ordnung zu sein. Sie zog die Wunderberichte erst des<lb/>
alten Testaments, dann kühner auch die des neuen Testaments vor ihr Forum<lb/>
und maß sie an den unveränderlichen Gesetzen des Seins. Die Philologie<lb/>
bemächtigte sich des Textes der kanonischen Schriften, entdeckte Unterschiede, welche<lb/>
bisher verborgen waren, sonderte Echtes und Unechtes und lehrte die Kunst</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0012] eindrangen und sich hier festsetzten. Gläubige, freidenkerische und vermittelnde Systeme traten einander auf dem Boden der Kirche selbst gegenüber. Der Geist der Zeit widerstrebte einer Einheit, welche die Gegensätze künstlich zusammen¬ hielt; freie Forschung, vernünftiges Denken war die Losung. Gerade diejenige Kirche, welche am Schriftwort die allerbesteste Norm zu haben schien, verfiel in Richtungen, welche wenig mit einander gemein hatten, als daß sie sich gleicher¬ weise aus die Schrift beriefen, welche aber jede in ihrem Sinne sich auslegte. Dieser Zustand enthielt die dringendste Aufforderung sich mit allem Eifer eben auf die Schrift zu werfen, um durch eine möglichst eindringende Untersuchung in ihr eine objective Begründung für die Glaubensmeinungen zu finden. Eine solche Schriftbetrachtung war nun aber natürlich zunächst wesentlich polemisch und an Voraussetzungen gebunden, die von vornherein feststanden. Es handelte sich darum, die eigene Meinung zu vertheidigen, die fremde zu widerlegen. Das Interesse war ein wesentlich theologisches, der Standpunkt der des eignen Systems, von welchem aus nicht schwer wurde, dasjenige in die Schrift hineinzulegen, was das andere- aus ihr hinausbcutcte. Auch so war also noch wenig Aussicht aus objective Ergebnisse 'der Kritik. Nur das Ein¬ dringen des kritischen Triebs in die Theologie selbst war ein wesentlicher Fortschritt. Allein der kritische Trieb selbst hatte noch ganz andere Wurzeln, welche von dem Interesse an der Rechtgläubigkeit ganz unabhängig waren. Es war jetzt nicht mehr ausschließlich die Theologie, welche sich den Anfängen des Christenthums zuwandte. Eine Reihe von Wissenschaften, ehemals im Dienst der Kirche, hatte sich emancipirt und aus die eigenen Füße gestellt. Jede von ihnen hatte, sobald sie ihres selbständigen Rechts sich bewußt waren, ein Interesse, von ihrem eigenen Standpunkt aus sich mit dem Christenthum aus¬ einanderzusetzen. Wie, wenn die Naturforschung, die Philologie, die Geschichte, die Philosophie, die einst von der Kirche ihre Gesetze empfangen hatten, wiederum sich auf dem mütterlichen Boden zusammenfanden, aber jetzt, um das kirchliche Christenthum auf einen Punkte, wo sie alle gleichmäßig betheiligr waren, gemein¬ sam anzugreifen; wenn sie ein Gebäude, das durch innere Risse bereits morsch war, niederreißen, aber nur, um mit vereinten Kräften die Grundlinien eines N.cubaueS zu ziehen? Eben dieses geschah. Die Naturfor-schung hatte, seitdem ihr der innere Zusammenhang der Weltgesetze immer klarer ausgegangen war, die Aufgabe, auch alles das zu beseitigen, was mit dem Anspruch auftrat, eine Störung der ewigen Ordnung zu sein. Sie zog die Wunderberichte erst des alten Testaments, dann kühner auch die des neuen Testaments vor ihr Forum und maß sie an den unveränderlichen Gesetzen des Seins. Die Philologie bemächtigte sich des Textes der kanonischen Schriften, entdeckte Unterschiede, welche bisher verborgen waren, sonderte Echtes und Unechtes und lehrte die Kunst

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/12
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/12>, abgerufen am 25.08.2024.