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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Kraft hindurchleuchtet, und daß er immer unter die großen Künstler gezählt wer¬
den wird, deren Wille stets ein edler, deren Sinn stets ein hoher und reiner
war. Aber nicht alle jene inneren Processe sind der Schönheit verwandt. Wenn
die von Riehl so getaufte "Nestanrationsmufit" in inhaltslosem Geklingel Anfang,
Mittel und Ende fand, so neigte sich Schumanns künstlerische Gesinnung dem
entgegengesetzten Extrem zu und glaubte irrthümlich, alles innerlich Empfun¬
dene sei darstellenswerth und der Darstellung bedürftig, und in der Wahrheit
und künstlerischen Gewissenhaftigkeit, mit welcher das Spiel der guten und bösen
Dämonen in unsrer Seele musikalisch zur Erscheinung gebracht werde, sei die
Aufgabe der Musik erfüllt und beschlossen. So viele seiner Werke sreie und
von der Person des Schöpfers losgelöste Schönheit in sich tragen, so viele
haben auch wieder den unverkennbaren Charakter von Tagebuchblättern im
großen Stile, von inneren Erlebnissen großer und wunderbarer Tiefe, aber
auch von einer Subjectivität. die aus den unbefangenen Hörer verwirrend
und quälend wirkt. Wir fühlen, daß hier eine feinsinnige und tiefe Natur
uns ihre Geheimnisse offenbaren will, aber wir sonnen ihre Sprache nicht
verstehen, da diese Geheimnisse selbst noch nicht sprech- und spruchreif ge¬
worden sind. Wir scheuen uns fast über das Werk zu urtheilen, da wir deut¬
lich herausempfinden, daß vermöge seiner Beschaffenheit wir mit unserem Ur¬
theile nicht die Schöpfung, sondern die Persönlichkeit des Schöpfers in ihren
innersten und geheimsten Fasern berühren. Wissen wir doch alle, daß nicht
wir es sind, die Herzen und Nieren prüfen, aber eben deshalb wollen wir auch
nicht Kunstwerke geboten haben, welche diese Unmöglichkeit von uns zu fordern
scheinen. Schumanns Ausgangspunkt ist das Romantische, wenn auch die Idee
des Romantischen in ihm viel ernster und sittlich-bedeutender gefaßt worden ist,
als in der Mehrzahl der Dichter jener Schule und andrerseits selbst in Mendels¬
sohn, welcher später diesen Boden mehr und mehr verließ und ein freieres
Feld eroberte. Und so, aus dem bekannten Kernpunkt jener Schule, ihrer
Anschauung von der absoluten Bedeutung des Individuums erklärt sich Schu¬
manns oben angedeuteter Standpunkt, erklärt es sich, daß er nicht überein¬
stimmen konnte oder wollte mit jenem Fundamentalsatze unsrer neueren Aesthetik,
welchen Schiller im Briefwechsel mit Goethe in genialer Kürze so formulirt:
"Dem Inhalte nach muß in dem Werke alles liegen, was zu seiner Erklärung
nöthig ist, und der Form nach muß es nothwendig darin liegen""). Trotzdem
daß wir insbesondre in der frühesten und späteren Zeit Schumanns manchen
Werken begegnen, welche diesem Satze nach keiner Seite hin entsprechen,
können und mögen wir diese Werke nicht als die seine Compositionsweise vor¬
züglich charakterisirenden ansehen; wir hoffen und wünschen vielmehr, daß sie
vor allem dem größeren Publicum womöglich nicht oder nur sehr sparsam zum



") Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. 2. Ausgabe. I. S. 18S.

Kraft hindurchleuchtet, und daß er immer unter die großen Künstler gezählt wer¬
den wird, deren Wille stets ein edler, deren Sinn stets ein hoher und reiner
war. Aber nicht alle jene inneren Processe sind der Schönheit verwandt. Wenn
die von Riehl so getaufte „Nestanrationsmufit" in inhaltslosem Geklingel Anfang,
Mittel und Ende fand, so neigte sich Schumanns künstlerische Gesinnung dem
entgegengesetzten Extrem zu und glaubte irrthümlich, alles innerlich Empfun¬
dene sei darstellenswerth und der Darstellung bedürftig, und in der Wahrheit
und künstlerischen Gewissenhaftigkeit, mit welcher das Spiel der guten und bösen
Dämonen in unsrer Seele musikalisch zur Erscheinung gebracht werde, sei die
Aufgabe der Musik erfüllt und beschlossen. So viele seiner Werke sreie und
von der Person des Schöpfers losgelöste Schönheit in sich tragen, so viele
haben auch wieder den unverkennbaren Charakter von Tagebuchblättern im
großen Stile, von inneren Erlebnissen großer und wunderbarer Tiefe, aber
auch von einer Subjectivität. die aus den unbefangenen Hörer verwirrend
und quälend wirkt. Wir fühlen, daß hier eine feinsinnige und tiefe Natur
uns ihre Geheimnisse offenbaren will, aber wir sonnen ihre Sprache nicht
verstehen, da diese Geheimnisse selbst noch nicht sprech- und spruchreif ge¬
worden sind. Wir scheuen uns fast über das Werk zu urtheilen, da wir deut¬
lich herausempfinden, daß vermöge seiner Beschaffenheit wir mit unserem Ur¬
theile nicht die Schöpfung, sondern die Persönlichkeit des Schöpfers in ihren
innersten und geheimsten Fasern berühren. Wissen wir doch alle, daß nicht
wir es sind, die Herzen und Nieren prüfen, aber eben deshalb wollen wir auch
nicht Kunstwerke geboten haben, welche diese Unmöglichkeit von uns zu fordern
scheinen. Schumanns Ausgangspunkt ist das Romantische, wenn auch die Idee
des Romantischen in ihm viel ernster und sittlich-bedeutender gefaßt worden ist,
als in der Mehrzahl der Dichter jener Schule und andrerseits selbst in Mendels¬
sohn, welcher später diesen Boden mehr und mehr verließ und ein freieres
Feld eroberte. Und so, aus dem bekannten Kernpunkt jener Schule, ihrer
Anschauung von der absoluten Bedeutung des Individuums erklärt sich Schu¬
manns oben angedeuteter Standpunkt, erklärt es sich, daß er nicht überein¬
stimmen konnte oder wollte mit jenem Fundamentalsatze unsrer neueren Aesthetik,
welchen Schiller im Briefwechsel mit Goethe in genialer Kürze so formulirt:
„Dem Inhalte nach muß in dem Werke alles liegen, was zu seiner Erklärung
nöthig ist, und der Form nach muß es nothwendig darin liegen""). Trotzdem
daß wir insbesondre in der frühesten und späteren Zeit Schumanns manchen
Werken begegnen, welche diesem Satze nach keiner Seite hin entsprechen,
können und mögen wir diese Werke nicht als die seine Compositionsweise vor¬
züglich charakterisirenden ansehen; wir hoffen und wünschen vielmehr, daß sie
vor allem dem größeren Publicum womöglich nicht oder nur sehr sparsam zum



") Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. 2. Ausgabe. I. S. 18S.
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[0078] Kraft hindurchleuchtet, und daß er immer unter die großen Künstler gezählt wer¬ den wird, deren Wille stets ein edler, deren Sinn stets ein hoher und reiner war. Aber nicht alle jene inneren Processe sind der Schönheit verwandt. Wenn die von Riehl so getaufte „Nestanrationsmufit" in inhaltslosem Geklingel Anfang, Mittel und Ende fand, so neigte sich Schumanns künstlerische Gesinnung dem entgegengesetzten Extrem zu und glaubte irrthümlich, alles innerlich Empfun¬ dene sei darstellenswerth und der Darstellung bedürftig, und in der Wahrheit und künstlerischen Gewissenhaftigkeit, mit welcher das Spiel der guten und bösen Dämonen in unsrer Seele musikalisch zur Erscheinung gebracht werde, sei die Aufgabe der Musik erfüllt und beschlossen. So viele seiner Werke sreie und von der Person des Schöpfers losgelöste Schönheit in sich tragen, so viele haben auch wieder den unverkennbaren Charakter von Tagebuchblättern im großen Stile, von inneren Erlebnissen großer und wunderbarer Tiefe, aber auch von einer Subjectivität. die aus den unbefangenen Hörer verwirrend und quälend wirkt. Wir fühlen, daß hier eine feinsinnige und tiefe Natur uns ihre Geheimnisse offenbaren will, aber wir sonnen ihre Sprache nicht verstehen, da diese Geheimnisse selbst noch nicht sprech- und spruchreif ge¬ worden sind. Wir scheuen uns fast über das Werk zu urtheilen, da wir deut¬ lich herausempfinden, daß vermöge seiner Beschaffenheit wir mit unserem Ur¬ theile nicht die Schöpfung, sondern die Persönlichkeit des Schöpfers in ihren innersten und geheimsten Fasern berühren. Wissen wir doch alle, daß nicht wir es sind, die Herzen und Nieren prüfen, aber eben deshalb wollen wir auch nicht Kunstwerke geboten haben, welche diese Unmöglichkeit von uns zu fordern scheinen. Schumanns Ausgangspunkt ist das Romantische, wenn auch die Idee des Romantischen in ihm viel ernster und sittlich-bedeutender gefaßt worden ist, als in der Mehrzahl der Dichter jener Schule und andrerseits selbst in Mendels¬ sohn, welcher später diesen Boden mehr und mehr verließ und ein freieres Feld eroberte. Und so, aus dem bekannten Kernpunkt jener Schule, ihrer Anschauung von der absoluten Bedeutung des Individuums erklärt sich Schu¬ manns oben angedeuteter Standpunkt, erklärt es sich, daß er nicht überein¬ stimmen konnte oder wollte mit jenem Fundamentalsatze unsrer neueren Aesthetik, welchen Schiller im Briefwechsel mit Goethe in genialer Kürze so formulirt: „Dem Inhalte nach muß in dem Werke alles liegen, was zu seiner Erklärung nöthig ist, und der Form nach muß es nothwendig darin liegen""). Trotzdem daß wir insbesondre in der frühesten und späteren Zeit Schumanns manchen Werken begegnen, welche diesem Satze nach keiner Seite hin entsprechen, können und mögen wir diese Werke nicht als die seine Compositionsweise vor¬ züglich charakterisirenden ansehen; wir hoffen und wünschen vielmehr, daß sie vor allem dem größeren Publicum womöglich nicht oder nur sehr sparsam zum ") Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. 2. Ausgabe. I. S. 18S.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/78>, abgerufen am 24.07.2024.