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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Geister nach sich zieht und sie in seine Fesseln schlägt, Robert Schumann wird
nie dahin gelangen, derartigen Einfluß auszuüben; denn seine ?!re zu schreiben
weicht so sehr von den einfachen und natürlichen Grundsätzen der Komposition ab,
besteht aus so viel Ausnahmen und außergewöhnlichen Fällen. daß ein blindes
und ergebenes nachahme" nur potenzirte Ausnahmen hervorzubringen im Stande ist."

Der Erfolg hat gelehrt, daß diese Bemerkungen volle Geltung hatten,
und zwar nicht blos für die Zeit, da sie geschrieben wurden. Es ist unverkenn¬
bar, daß Mendelssohns Manier lange Jahre hindurch einer ganzen Generation
von Musikern Inhalt und Form zugleich geboten hat, und daß lange genug von
den Brocken gezehrt worden ist. welche von seiner nicht gerade üppig-reichen,
aber stets behaglich-wohlhabenden Tafel sielen. Dies schwand aber immer mehr,
je mehr Schumann bekannt wurde, und man darf jetzt behaupten, daß von
den Symphonien, welche heutzutage entstehen, sehr viele keine Spur directen
mendelssohnschen Einflusses verrathen, daß aber von den bedeutenderen leine
ist, in der sich nicht mehr oder weniger schumannsche Züge finde". Nur wird
man die erfreuliche Wahrnehmung machen können, daß sich die Nachahmung
des letzteren ungleich freier und selbständiger zu bewegen weiß als die große
Schaar der mendelssohnschen Copien. Den Grund hiervon aufzufinden würde
nicht schwer, ihn darzulegen aber sehr weitläufig sein. Er liegt in der ver¬
schiedenen Individualität jener beiden Componisten und dem "nmerklich ge¬
kommenen, aber jetzt sehr merklich vorhandenen Umschwunge unseres gesammten
geistigen Lebens, welcher sich, seit längerer Zeit vorbereitet, in den letztverflosse¬
nen Jahren vollzogen hat. Welche Richtung die Musik hierbei einschlagen
wird -- wer kann es wissen; nur müssen wir bekennen, daß wir nicht zu glau¬
ben vermögen, es werde sich eine neue, organisch-kräftige Entwickelungsstufe
an die Wirksamkeit Schumanns anschließen, so sehr man geneigt sein kann,
manche Anzeichen darauf zu deuten. Schumanns ganze künstlerische Persön¬
lichkeit ist eigenthümlich und individuell wie wenige andere. Sein Interesse
für die voraufgegangenen und mitlebendcn Musiker war rein und schön; aber er
war trotz alledem eine einsiedlerische Natur. Daher jene Fülle von sonder¬
baren und Wunderlichem, die sich neben dem Schönsten und Klarsten findet;
jener peinigende Wechsel der Stimmung und Empfindung, der, wenn auch
wahrhaft erlebt, dennoch dem Kunstwerk die zum Existiren unentbehrliche Con-
sequenz nimmt. Schumann war sicherlich eine musikalische Kraft ersten Ranges,
aber er unterließ es. von der Erde, der er selbst angehörte. Fleisch und Blut
seinen Werken zu geben. Sein reicher Geist glaubte sich selbst zu genügen und
unterlag dem Irrthume, daß das Wesen des Kunstwerkes begründet liege in
dem wirklichen Borhandensein der innerlichen Empfindung, in der vielberufenen
Innerlichkeit, welche allerdings allen seinen Werken eigenthümlich ist. Sie ist
der Grund, daß aus allen seinen Schöpfungen eine ernste und echte sittliche


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Geister nach sich zieht und sie in seine Fesseln schlägt, Robert Schumann wird
nie dahin gelangen, derartigen Einfluß auszuüben; denn seine ?!re zu schreiben
weicht so sehr von den einfachen und natürlichen Grundsätzen der Komposition ab,
besteht aus so viel Ausnahmen und außergewöhnlichen Fällen. daß ein blindes
und ergebenes nachahme» nur potenzirte Ausnahmen hervorzubringen im Stande ist."

Der Erfolg hat gelehrt, daß diese Bemerkungen volle Geltung hatten,
und zwar nicht blos für die Zeit, da sie geschrieben wurden. Es ist unverkenn¬
bar, daß Mendelssohns Manier lange Jahre hindurch einer ganzen Generation
von Musikern Inhalt und Form zugleich geboten hat, und daß lange genug von
den Brocken gezehrt worden ist. welche von seiner nicht gerade üppig-reichen,
aber stets behaglich-wohlhabenden Tafel sielen. Dies schwand aber immer mehr,
je mehr Schumann bekannt wurde, und man darf jetzt behaupten, daß von
den Symphonien, welche heutzutage entstehen, sehr viele keine Spur directen
mendelssohnschen Einflusses verrathen, daß aber von den bedeutenderen leine
ist, in der sich nicht mehr oder weniger schumannsche Züge finde». Nur wird
man die erfreuliche Wahrnehmung machen können, daß sich die Nachahmung
des letzteren ungleich freier und selbständiger zu bewegen weiß als die große
Schaar der mendelssohnschen Copien. Den Grund hiervon aufzufinden würde
nicht schwer, ihn darzulegen aber sehr weitläufig sein. Er liegt in der ver¬
schiedenen Individualität jener beiden Componisten und dem »nmerklich ge¬
kommenen, aber jetzt sehr merklich vorhandenen Umschwunge unseres gesammten
geistigen Lebens, welcher sich, seit längerer Zeit vorbereitet, in den letztverflosse¬
nen Jahren vollzogen hat. Welche Richtung die Musik hierbei einschlagen
wird — wer kann es wissen; nur müssen wir bekennen, daß wir nicht zu glau¬
ben vermögen, es werde sich eine neue, organisch-kräftige Entwickelungsstufe
an die Wirksamkeit Schumanns anschließen, so sehr man geneigt sein kann,
manche Anzeichen darauf zu deuten. Schumanns ganze künstlerische Persön¬
lichkeit ist eigenthümlich und individuell wie wenige andere. Sein Interesse
für die voraufgegangenen und mitlebendcn Musiker war rein und schön; aber er
war trotz alledem eine einsiedlerische Natur. Daher jene Fülle von sonder¬
baren und Wunderlichem, die sich neben dem Schönsten und Klarsten findet;
jener peinigende Wechsel der Stimmung und Empfindung, der, wenn auch
wahrhaft erlebt, dennoch dem Kunstwerk die zum Existiren unentbehrliche Con-
sequenz nimmt. Schumann war sicherlich eine musikalische Kraft ersten Ranges,
aber er unterließ es. von der Erde, der er selbst angehörte. Fleisch und Blut
seinen Werken zu geben. Sein reicher Geist glaubte sich selbst zu genügen und
unterlag dem Irrthume, daß das Wesen des Kunstwerkes begründet liege in
dem wirklichen Borhandensein der innerlichen Empfindung, in der vielberufenen
Innerlichkeit, welche allerdings allen seinen Werken eigenthümlich ist. Sie ist
der Grund, daß aus allen seinen Schöpfungen eine ernste und echte sittliche


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[0077] Geister nach sich zieht und sie in seine Fesseln schlägt, Robert Schumann wird nie dahin gelangen, derartigen Einfluß auszuüben; denn seine ?!re zu schreiben weicht so sehr von den einfachen und natürlichen Grundsätzen der Komposition ab, besteht aus so viel Ausnahmen und außergewöhnlichen Fällen. daß ein blindes und ergebenes nachahme» nur potenzirte Ausnahmen hervorzubringen im Stande ist." Der Erfolg hat gelehrt, daß diese Bemerkungen volle Geltung hatten, und zwar nicht blos für die Zeit, da sie geschrieben wurden. Es ist unverkenn¬ bar, daß Mendelssohns Manier lange Jahre hindurch einer ganzen Generation von Musikern Inhalt und Form zugleich geboten hat, und daß lange genug von den Brocken gezehrt worden ist. welche von seiner nicht gerade üppig-reichen, aber stets behaglich-wohlhabenden Tafel sielen. Dies schwand aber immer mehr, je mehr Schumann bekannt wurde, und man darf jetzt behaupten, daß von den Symphonien, welche heutzutage entstehen, sehr viele keine Spur directen mendelssohnschen Einflusses verrathen, daß aber von den bedeutenderen leine ist, in der sich nicht mehr oder weniger schumannsche Züge finde». Nur wird man die erfreuliche Wahrnehmung machen können, daß sich die Nachahmung des letzteren ungleich freier und selbständiger zu bewegen weiß als die große Schaar der mendelssohnschen Copien. Den Grund hiervon aufzufinden würde nicht schwer, ihn darzulegen aber sehr weitläufig sein. Er liegt in der ver¬ schiedenen Individualität jener beiden Componisten und dem »nmerklich ge¬ kommenen, aber jetzt sehr merklich vorhandenen Umschwunge unseres gesammten geistigen Lebens, welcher sich, seit längerer Zeit vorbereitet, in den letztverflosse¬ nen Jahren vollzogen hat. Welche Richtung die Musik hierbei einschlagen wird — wer kann es wissen; nur müssen wir bekennen, daß wir nicht zu glau¬ ben vermögen, es werde sich eine neue, organisch-kräftige Entwickelungsstufe an die Wirksamkeit Schumanns anschließen, so sehr man geneigt sein kann, manche Anzeichen darauf zu deuten. Schumanns ganze künstlerische Persön¬ lichkeit ist eigenthümlich und individuell wie wenige andere. Sein Interesse für die voraufgegangenen und mitlebendcn Musiker war rein und schön; aber er war trotz alledem eine einsiedlerische Natur. Daher jene Fülle von sonder¬ baren und Wunderlichem, die sich neben dem Schönsten und Klarsten findet; jener peinigende Wechsel der Stimmung und Empfindung, der, wenn auch wahrhaft erlebt, dennoch dem Kunstwerk die zum Existiren unentbehrliche Con- sequenz nimmt. Schumann war sicherlich eine musikalische Kraft ersten Ranges, aber er unterließ es. von der Erde, der er selbst angehörte. Fleisch und Blut seinen Werken zu geben. Sein reicher Geist glaubte sich selbst zu genügen und unterlag dem Irrthume, daß das Wesen des Kunstwerkes begründet liege in dem wirklichen Borhandensein der innerlichen Empfindung, in der vielberufenen Innerlichkeit, welche allerdings allen seinen Werken eigenthümlich ist. Sie ist der Grund, daß aus allen seinen Schöpfungen eine ernste und echte sittliche 9*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/77>, abgerufen am 24.07.2024.