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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Mittelglied besteht nicht mehr: frei und losgelöst steht der Einzelne dem All¬
gemeinen gegenüber.

Noch weniger kann natürlich bei dem Münchener Dichterbuch von einer
Schule mit localen Hintergrund die Rede sein. Es hat nie eine bairische
Schule gegeben, so wenig wie eine bairische Kunst, obwohl wir eine bairische
Litcratmgeschichte und eine bairische Kunstgeschichte besitzen. Die Blüthe, welche
Wissenschaft und Kunst neuerdings in Jsar-Mhen getrieben hat, ist ein aus¬
ländisches Gewächs, das mit dem bairischen^Volkscharakter wenig gemein hat,
ja gegen das der letztere von Zeit zu Zeit zu rebelliren Pflegt. Die viel¬
berufenen "Berufenen" sind es, die in der literarischen Welt den Ton angeben,
sie bilden den Kern, an den sich auch die einheimischen Kräfte anschließen.
Emanuel Geibel insbesondere waltet dort in der Stellung einer Art von Präsi¬
denten oder Protectors der literarischen Republik. Wie er bereits mehre
bairische Dichter in die Literatur eingeführt hat, so kam es ihm auch zu, das
Münchener Dichterbuch unter den Schutz seiner Autorität zu nehmen. Von
localen Einflüssen also kann hier nicht die Rede sein. Bei der eigenthümlichen
Mischung fremder und einheimischer Elemente, bei dem quantitativ und qua¬
litativ bedeutenden Hervortreten norddeutscher Einflüsse, wird, wenn von einer
gleichartigen Richtung gesprochen werden kann, das Gemeinsame nur darin
bestehen können, daß der rein künstlerische Standpunkt als der beherrschende
in den Vordergrund tritt. Das literarische Leben ist mit Bewußtsein hinaus¬
gehoben über das unmittelbar es umgebende Volksleben, es nimmt eine eigene
abgesonderte Sphäre ein, und die Poesie wird unter diesen Umständen im
eminenten Sinn den Charakter der Kunstdichtung an sich tragen. Nicht allein
in dem Sinn, daß nun auf die feine Ausfeilung der Form ein besonderes
Gewicht fällt, sondern auch die Stoffe, die ganze Haltung werden dem entsprechen.
Das Empfindungsleben, das zum Ausdruck gelangt, wird den höher gebildeten
Schichten der Gesellschaft entnommen und angepaßt sein. Probleme, die einer
verfeinerten Cultur angehören, werden besonders beliebt sein, die Situationen
wenig gemein haben mit den unmittelbaren Interessen der Gegenwart. Was
nach irgend einer Seite anstoßen oder verdächtig fein könnte, wird vermieden.
Fern von den Kämpfen und Gegensätzen der Zeit liegt das ideale Reich, das
die Dichtungsstoffe liefert, und wo die Zeitinteressen gleichwohl berührt sind,
wird es in zartester Weise geschehen und die ästhetische Behandlung streng alles
Tendentiöse ausschließen. Es soll nicht gerade behauptet werden, daß die Hofluft,
welche jene Münchener Dichter zum Theil genossen oder genießen, einigen Ein¬
fluß, vielleicht unbewußt, ausgeübt hat. Aber unzweifelhaft ist es ein aristo¬
kratischer Ton, der durch ihre Erzeugnisse geht.

In dieser Beziehung bildet nun freilich das schwäbische Dichlerbuch den
geraden Gegensatz zum Münchener, obwohl auch bei ihm mehre der Münchener


Mittelglied besteht nicht mehr: frei und losgelöst steht der Einzelne dem All¬
gemeinen gegenüber.

Noch weniger kann natürlich bei dem Münchener Dichterbuch von einer
Schule mit localen Hintergrund die Rede sein. Es hat nie eine bairische
Schule gegeben, so wenig wie eine bairische Kunst, obwohl wir eine bairische
Litcratmgeschichte und eine bairische Kunstgeschichte besitzen. Die Blüthe, welche
Wissenschaft und Kunst neuerdings in Jsar-Mhen getrieben hat, ist ein aus¬
ländisches Gewächs, das mit dem bairischen^Volkscharakter wenig gemein hat,
ja gegen das der letztere von Zeit zu Zeit zu rebelliren Pflegt. Die viel¬
berufenen „Berufenen" sind es, die in der literarischen Welt den Ton angeben,
sie bilden den Kern, an den sich auch die einheimischen Kräfte anschließen.
Emanuel Geibel insbesondere waltet dort in der Stellung einer Art von Präsi¬
denten oder Protectors der literarischen Republik. Wie er bereits mehre
bairische Dichter in die Literatur eingeführt hat, so kam es ihm auch zu, das
Münchener Dichterbuch unter den Schutz seiner Autorität zu nehmen. Von
localen Einflüssen also kann hier nicht die Rede sein. Bei der eigenthümlichen
Mischung fremder und einheimischer Elemente, bei dem quantitativ und qua¬
litativ bedeutenden Hervortreten norddeutscher Einflüsse, wird, wenn von einer
gleichartigen Richtung gesprochen werden kann, das Gemeinsame nur darin
bestehen können, daß der rein künstlerische Standpunkt als der beherrschende
in den Vordergrund tritt. Das literarische Leben ist mit Bewußtsein hinaus¬
gehoben über das unmittelbar es umgebende Volksleben, es nimmt eine eigene
abgesonderte Sphäre ein, und die Poesie wird unter diesen Umständen im
eminenten Sinn den Charakter der Kunstdichtung an sich tragen. Nicht allein
in dem Sinn, daß nun auf die feine Ausfeilung der Form ein besonderes
Gewicht fällt, sondern auch die Stoffe, die ganze Haltung werden dem entsprechen.
Das Empfindungsleben, das zum Ausdruck gelangt, wird den höher gebildeten
Schichten der Gesellschaft entnommen und angepaßt sein. Probleme, die einer
verfeinerten Cultur angehören, werden besonders beliebt sein, die Situationen
wenig gemein haben mit den unmittelbaren Interessen der Gegenwart. Was
nach irgend einer Seite anstoßen oder verdächtig fein könnte, wird vermieden.
Fern von den Kämpfen und Gegensätzen der Zeit liegt das ideale Reich, das
die Dichtungsstoffe liefert, und wo die Zeitinteressen gleichwohl berührt sind,
wird es in zartester Weise geschehen und die ästhetische Behandlung streng alles
Tendentiöse ausschließen. Es soll nicht gerade behauptet werden, daß die Hofluft,
welche jene Münchener Dichter zum Theil genossen oder genießen, einigen Ein¬
fluß, vielleicht unbewußt, ausgeübt hat. Aber unzweifelhaft ist es ein aristo¬
kratischer Ton, der durch ihre Erzeugnisse geht.

In dieser Beziehung bildet nun freilich das schwäbische Dichlerbuch den
geraden Gegensatz zum Münchener, obwohl auch bei ihm mehre der Münchener


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[0054] Mittelglied besteht nicht mehr: frei und losgelöst steht der Einzelne dem All¬ gemeinen gegenüber. Noch weniger kann natürlich bei dem Münchener Dichterbuch von einer Schule mit localen Hintergrund die Rede sein. Es hat nie eine bairische Schule gegeben, so wenig wie eine bairische Kunst, obwohl wir eine bairische Litcratmgeschichte und eine bairische Kunstgeschichte besitzen. Die Blüthe, welche Wissenschaft und Kunst neuerdings in Jsar-Mhen getrieben hat, ist ein aus¬ ländisches Gewächs, das mit dem bairischen^Volkscharakter wenig gemein hat, ja gegen das der letztere von Zeit zu Zeit zu rebelliren Pflegt. Die viel¬ berufenen „Berufenen" sind es, die in der literarischen Welt den Ton angeben, sie bilden den Kern, an den sich auch die einheimischen Kräfte anschließen. Emanuel Geibel insbesondere waltet dort in der Stellung einer Art von Präsi¬ denten oder Protectors der literarischen Republik. Wie er bereits mehre bairische Dichter in die Literatur eingeführt hat, so kam es ihm auch zu, das Münchener Dichterbuch unter den Schutz seiner Autorität zu nehmen. Von localen Einflüssen also kann hier nicht die Rede sein. Bei der eigenthümlichen Mischung fremder und einheimischer Elemente, bei dem quantitativ und qua¬ litativ bedeutenden Hervortreten norddeutscher Einflüsse, wird, wenn von einer gleichartigen Richtung gesprochen werden kann, das Gemeinsame nur darin bestehen können, daß der rein künstlerische Standpunkt als der beherrschende in den Vordergrund tritt. Das literarische Leben ist mit Bewußtsein hinaus¬ gehoben über das unmittelbar es umgebende Volksleben, es nimmt eine eigene abgesonderte Sphäre ein, und die Poesie wird unter diesen Umständen im eminenten Sinn den Charakter der Kunstdichtung an sich tragen. Nicht allein in dem Sinn, daß nun auf die feine Ausfeilung der Form ein besonderes Gewicht fällt, sondern auch die Stoffe, die ganze Haltung werden dem entsprechen. Das Empfindungsleben, das zum Ausdruck gelangt, wird den höher gebildeten Schichten der Gesellschaft entnommen und angepaßt sein. Probleme, die einer verfeinerten Cultur angehören, werden besonders beliebt sein, die Situationen wenig gemein haben mit den unmittelbaren Interessen der Gegenwart. Was nach irgend einer Seite anstoßen oder verdächtig fein könnte, wird vermieden. Fern von den Kämpfen und Gegensätzen der Zeit liegt das ideale Reich, das die Dichtungsstoffe liefert, und wo die Zeitinteressen gleichwohl berührt sind, wird es in zartester Weise geschehen und die ästhetische Behandlung streng alles Tendentiöse ausschließen. Es soll nicht gerade behauptet werden, daß die Hofluft, welche jene Münchener Dichter zum Theil genossen oder genießen, einigen Ein¬ fluß, vielleicht unbewußt, ausgeübt hat. Aber unzweifelhaft ist es ein aristo¬ kratischer Ton, der durch ihre Erzeugnisse geht. In dieser Beziehung bildet nun freilich das schwäbische Dichlerbuch den geraden Gegensatz zum Münchener, obwohl auch bei ihm mehre der Münchener

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/54>, abgerufen am 24.07.2024.