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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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welcher er mit den Mitstrebenden erscheinen kann. Neue bahnbrechende Genies
wird man in unsrer Zeit am wenigsten suchen wollen. Unsere jungen Poeten
treten gleich als fertige Künstler auf. Sie werden die Welt nicht durch ur¬
wüchsige Productionen einer noch ungebändigten Naturkraft in Staunen setzen,
die sich dann durch einen Läuterungsproceß der dichterischen Persönlichkeit cill-
mälig zu einem Kunstproducte abklärt, sondern sie sind von vornherein mit
allen Mitteln der fortgeschrittenen Cultur ausgestattet, der Proceß, den sie selbst
durchzumachen hätten, ist bereits für sie vollbracht in einer vergangenen Literatur¬
epoche, auf deren Schultern sie stehen, sie werden leicht jenes Durchschnitts¬
maß erreichen, aber sie werden es selten überragen. Ihre Verse werden sich
gut lesen lassen, aber eigentlich Neues werden wir kaum erwarten; der Inhalt
ist uns wohlbekannt, der Vorstellungskreis ist gegeben, und es fragt sich nur
noch, mit welcher Geschicklichkeit sie ihn zu verwerthen wissen, welche individuelle
Färbung sie den aus diesem Kreis genommenen Gestalten zu geben vermögen.

Eben auf der Erlernbarkeit des seit unsrer großen Literaturperiode durch
tausend Kanäle in die allgemeine Bildung übergeströmten Stoffes läßt sich
allein die Ueberfluthung des lyrischen Markes erklären. Eben daraus erklärt
sich aber auch die Erscheinung, daß die Bedeutung, welche sonst das landschaft¬
liche oder landsmannschaftliche Moment für die dichterische Produktion hatte,
mehr und mehr zurücktritt. Wie die Bildung eine allgemeinere wird, so ver¬
wischen sich auch die Unterschiede der localen Schulen. Es ist kürzlich aus
Anlaß der Herausgabe eines östreichischen Dichterbuchs gegen die Bezeichnung:
östreichische Dichterschule protestirt worden. Man wird auch von einer schwä¬
bischen Dichterschule nicht mehr reden können. Enthielt schon das, was man
so nannte, ziemlich disparate Elemente, so fehlt jetzt in der That jedes äußere
oder innere Band, das diese Bezeichnung rechtfertigen würde. Das Dichter¬
buch aus Schwaben enthält nicht nur eine große Reihe von Namen, die den
Verschiedensten deutschen Landschaften angehören, und mit denen sich nicht die
mindeste Verwandtschaft nachweisen ließe, sondern es wäre auch -- die schwä¬
bischen Dichter, die hier versammelt sind, sür sich genommen -- schwer zu
sagen, welche Züge ihnen gemeinschaftlich wären. Man muß sich an frühere
Dichterbücher, an die 1812 und 1813 von Kerner und Uhland herausgegebenen
Musenalmanache erinnern, um mit einem Mal zu ermessen, welche Veränderung
in dieser Beziehung mit unserer Literatur vorgegangen ist. Allerdings haben
auch an diesen Almanachen eine Reihe norddeutscher, aber innerlich verwandter
Dichter Theil genommen, so daß sie weniger ein Ausdruck der schwäbischen als
der neuromantischen Schule waren. Aber nach beiden Seiten ist die Auf-
lösung der alten Verbände vollständig. Die Schulen, mochten sie nun mehr
localen oder mehr ästhetisch-literarischen Charakters sein, bildeten gewissermaßen
eine Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der allgemeinen Literatur. Dieses


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welcher er mit den Mitstrebenden erscheinen kann. Neue bahnbrechende Genies
wird man in unsrer Zeit am wenigsten suchen wollen. Unsere jungen Poeten
treten gleich als fertige Künstler auf. Sie werden die Welt nicht durch ur¬
wüchsige Productionen einer noch ungebändigten Naturkraft in Staunen setzen,
die sich dann durch einen Läuterungsproceß der dichterischen Persönlichkeit cill-
mälig zu einem Kunstproducte abklärt, sondern sie sind von vornherein mit
allen Mitteln der fortgeschrittenen Cultur ausgestattet, der Proceß, den sie selbst
durchzumachen hätten, ist bereits für sie vollbracht in einer vergangenen Literatur¬
epoche, auf deren Schultern sie stehen, sie werden leicht jenes Durchschnitts¬
maß erreichen, aber sie werden es selten überragen. Ihre Verse werden sich
gut lesen lassen, aber eigentlich Neues werden wir kaum erwarten; der Inhalt
ist uns wohlbekannt, der Vorstellungskreis ist gegeben, und es fragt sich nur
noch, mit welcher Geschicklichkeit sie ihn zu verwerthen wissen, welche individuelle
Färbung sie den aus diesem Kreis genommenen Gestalten zu geben vermögen.

Eben auf der Erlernbarkeit des seit unsrer großen Literaturperiode durch
tausend Kanäle in die allgemeine Bildung übergeströmten Stoffes läßt sich
allein die Ueberfluthung des lyrischen Markes erklären. Eben daraus erklärt
sich aber auch die Erscheinung, daß die Bedeutung, welche sonst das landschaft¬
liche oder landsmannschaftliche Moment für die dichterische Produktion hatte,
mehr und mehr zurücktritt. Wie die Bildung eine allgemeinere wird, so ver¬
wischen sich auch die Unterschiede der localen Schulen. Es ist kürzlich aus
Anlaß der Herausgabe eines östreichischen Dichterbuchs gegen die Bezeichnung:
östreichische Dichterschule protestirt worden. Man wird auch von einer schwä¬
bischen Dichterschule nicht mehr reden können. Enthielt schon das, was man
so nannte, ziemlich disparate Elemente, so fehlt jetzt in der That jedes äußere
oder innere Band, das diese Bezeichnung rechtfertigen würde. Das Dichter¬
buch aus Schwaben enthält nicht nur eine große Reihe von Namen, die den
Verschiedensten deutschen Landschaften angehören, und mit denen sich nicht die
mindeste Verwandtschaft nachweisen ließe, sondern es wäre auch — die schwä¬
bischen Dichter, die hier versammelt sind, sür sich genommen — schwer zu
sagen, welche Züge ihnen gemeinschaftlich wären. Man muß sich an frühere
Dichterbücher, an die 1812 und 1813 von Kerner und Uhland herausgegebenen
Musenalmanache erinnern, um mit einem Mal zu ermessen, welche Veränderung
in dieser Beziehung mit unserer Literatur vorgegangen ist. Allerdings haben
auch an diesen Almanachen eine Reihe norddeutscher, aber innerlich verwandter
Dichter Theil genommen, so daß sie weniger ein Ausdruck der schwäbischen als
der neuromantischen Schule waren. Aber nach beiden Seiten ist die Auf-
lösung der alten Verbände vollständig. Die Schulen, mochten sie nun mehr
localen oder mehr ästhetisch-literarischen Charakters sein, bildeten gewissermaßen
eine Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der allgemeinen Literatur. Dieses


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/53>, abgerufen am 24.07.2024.