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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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gewandten Propheten nennt. Das Wichtigste an der 'Geschichte ist ihm das
Gegenwärtige, d. h. nicht sowohl das, was jetzt ist, denn dies wird erst zur
Geschichte, sondern dasjenige, was uns durch die Erkenntniß aufgeschlossen wird,
daß alles hier und jetzt nur die relativ letzte Daseinsform des lebendigen Zuges
sei, der aus den Vergangenheiten zu uns herüberkommt. In der sittlichen Welt
ist alles Frucht und alles Samen; alles zugleich ein Product und ein Anfang.
Die Zustände, in die wir hineingeboren sind, die Gestaltungen, die wir vor¬
finden, stellen sich uns dar als Vermächtnisse derer, die vor uns waren. Was
sie erarbeitet und erstrebt haben liegt nicht abgeschlossen hinter uns, sondern es
lebt fort in dem, was um uns her und in uns sich begiebt. Indem wir so in
allem Vergangenen nur eine vergangene Gegenwart dessen empfinden lernen,
dem wir selber angehören, drängt sich uns die Pflicht auf, mit einzustehen für
seine Vollendung, auf daß wir an ihr "mitarbeitend gewesen".

Alle historische Forschung, die nicht darauf ausgeht, hinter das Geheimniß
des Werdeproccsscs der geschichtlichen Dinge zu gelangen, kann nicht mehr von
sich sagen, als daß sie "die Theile in ihrer Hand hat". Das volle Verständniß
der historischen Erscheinung liegt erst in der Erschließung dieses geheimen Le¬
bens, in der Ausweisung des Persönlichen gleichsam, welches mit Selbstbewußt¬
sein in den Kundgebungen der Menschen waltet, und mit derselben subjectiven
Nothwendigkeit, die den Entwicklungsgang des Einzelnen bestimmt, auch dem
sittlichen Gemeinleben Gesetz und Richtung giebt. Es mag sein, daß nicht alle
geschichtlichen Erscheinungen ihrer Raten nach in gleichem Maße zu solcher Be¬
trachtung auffordern. Es scheint solche in der That zu geben, deren bester Theil
durch ästhetische Würdigung erschöpft wird, sowie andere ihre angemessenste Be¬
urtheilung unter dem Gesichtspunkte des Dynamischen und Physikalischen im
weiteren Sinne finden können. Aber wo immer die Menschheit, und sei es
auch ein noch so kleines Bruchtheil derselben, mit dem Gefühle eines Zieles
und Zweckes arbeitet, wo gemeinsame Ideale ihren Willen regieren, wo sie im
prägnanten Wortverstande "historisch" lebt, da ist jene Anforderung unerläßlich.
Daß die preußische Geschichte hierher gehört, ist nach dem, was einleitend voraus¬
geschickt wurde, nicht erst zu erweisen. Wir möchten sagen, bei ihrer Betrachtung
müßte dieser Gesichtspunkt in ganz besonderem Maß zu seinem Rechte kommen,
wenn er nicht bereits in Anwendung wäre. Denn hier treten fortwährend
Probleme zu Tage, über die wir nur aus dem Munde ihres Genius selber den
Aufschluß erlangen können.
'

Der Ausdruck der Individualität eines Staates aber ist seine Politik. In
ihr prägt sich das innere Leben unmittelbar aus, zeigt sich ganz eigentlich die
Methode seines Wachsthums, seiner Umgestaltungen und seiner Selbsterziehung.
Mit dieser letzten Bezeichnung ist absichtlich ein Begriff eingeführt, der nur aus
das menschliche Individuum anwendbar scheint. Die Politik zeigt den Staat


gewandten Propheten nennt. Das Wichtigste an der 'Geschichte ist ihm das
Gegenwärtige, d. h. nicht sowohl das, was jetzt ist, denn dies wird erst zur
Geschichte, sondern dasjenige, was uns durch die Erkenntniß aufgeschlossen wird,
daß alles hier und jetzt nur die relativ letzte Daseinsform des lebendigen Zuges
sei, der aus den Vergangenheiten zu uns herüberkommt. In der sittlichen Welt
ist alles Frucht und alles Samen; alles zugleich ein Product und ein Anfang.
Die Zustände, in die wir hineingeboren sind, die Gestaltungen, die wir vor¬
finden, stellen sich uns dar als Vermächtnisse derer, die vor uns waren. Was
sie erarbeitet und erstrebt haben liegt nicht abgeschlossen hinter uns, sondern es
lebt fort in dem, was um uns her und in uns sich begiebt. Indem wir so in
allem Vergangenen nur eine vergangene Gegenwart dessen empfinden lernen,
dem wir selber angehören, drängt sich uns die Pflicht auf, mit einzustehen für
seine Vollendung, auf daß wir an ihr „mitarbeitend gewesen".

Alle historische Forschung, die nicht darauf ausgeht, hinter das Geheimniß
des Werdeproccsscs der geschichtlichen Dinge zu gelangen, kann nicht mehr von
sich sagen, als daß sie „die Theile in ihrer Hand hat". Das volle Verständniß
der historischen Erscheinung liegt erst in der Erschließung dieses geheimen Le¬
bens, in der Ausweisung des Persönlichen gleichsam, welches mit Selbstbewußt¬
sein in den Kundgebungen der Menschen waltet, und mit derselben subjectiven
Nothwendigkeit, die den Entwicklungsgang des Einzelnen bestimmt, auch dem
sittlichen Gemeinleben Gesetz und Richtung giebt. Es mag sein, daß nicht alle
geschichtlichen Erscheinungen ihrer Raten nach in gleichem Maße zu solcher Be¬
trachtung auffordern. Es scheint solche in der That zu geben, deren bester Theil
durch ästhetische Würdigung erschöpft wird, sowie andere ihre angemessenste Be¬
urtheilung unter dem Gesichtspunkte des Dynamischen und Physikalischen im
weiteren Sinne finden können. Aber wo immer die Menschheit, und sei es
auch ein noch so kleines Bruchtheil derselben, mit dem Gefühle eines Zieles
und Zweckes arbeitet, wo gemeinsame Ideale ihren Willen regieren, wo sie im
prägnanten Wortverstande „historisch" lebt, da ist jene Anforderung unerläßlich.
Daß die preußische Geschichte hierher gehört, ist nach dem, was einleitend voraus¬
geschickt wurde, nicht erst zu erweisen. Wir möchten sagen, bei ihrer Betrachtung
müßte dieser Gesichtspunkt in ganz besonderem Maß zu seinem Rechte kommen,
wenn er nicht bereits in Anwendung wäre. Denn hier treten fortwährend
Probleme zu Tage, über die wir nur aus dem Munde ihres Genius selber den
Aufschluß erlangen können.
'

Der Ausdruck der Individualität eines Staates aber ist seine Politik. In
ihr prägt sich das innere Leben unmittelbar aus, zeigt sich ganz eigentlich die
Methode seines Wachsthums, seiner Umgestaltungen und seiner Selbsterziehung.
Mit dieser letzten Bezeichnung ist absichtlich ein Begriff eingeführt, der nur aus
das menschliche Individuum anwendbar scheint. Die Politik zeigt den Staat


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/512>, abgerufen am 24.07.2024.