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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Strauß über Lessings Nathan der Weise.

Unter dem Titel "Lessings Nathan der Weise. Ein Vortrag von
David Friedrich Strauß" ist soeben bei Gnttentag in Berlin eine kleine Schrift
erschienen, die wir den Lesern als das Beste, was in solcher Kürze bisher über den
Gegenstand gesagt ist, angelegentlich empfehlen*). Die Entstehungsgeschichte des
Dramas ist kurz besprochen und enthält nichts Neues, der Gang der Handlung und
das Wesen der einzelnen Personen dagegen ist mit der Feinheit und Klarheit charak-
terisirt, die uns in Strauß einen Geistesverwandten Lessings bewundern lassen.
Zum Schluß widerlegt der Verfasser gewisse ästhetische Ausstellungen, die man an
dem Stück gemacht hat, auf sehr einleuchtende und zugleich höchst anmuthige Weise.
"Man hat," sagt er, "ein Mißverhältniß darin gefunden, daß es, ursprünglich auf
den großen geschichtlichen Conflict zwischen christlichem Fanatismus und reiner Ver-
nunftreligion angelegt, zuletzt auf die ordinäre Rührung eines bürgerlichen Familien¬
stücks auslaufe. Allerdings ist es eine Familie, die sich am Schlüsse aus der Zer¬
streuung wieder zusammenfindet; aber was für eine Familie? Eine Familie, die
ihre Angehörige" bei drei Religionen herum verzettelt hatte und sie nun wieder
sammelt, nicht unter den Fittigen einer bestimmten positiven Religion, sondern in
den Armen der Einen allgemeinen Religion der Vernunft und Humanität, deren
versprengte und sich entfremdete Kinder die einzelnen Religionen sind. Durch diese
gewissermaßen symbolische Bedeutung der Personen und Schicksale in unserm Drama
erledigt sich auch der Tadel, den die Wendung am Schlüsse ersahren hat, daß zwei
Liebende sich als Geschwister erkennen, sich folglich entsagen müssen. Dem Dichter
wäre es ein Leichtes gewesen, durch eine Wendung seiner Fabel das Paar als lieben¬
des zu beglücken, wenn er es seiner Absicht gemäß gesunden hätte. Allein eben
weil sein Absehen über alles Persönliche hinausging, durfte er es nicht. Er muß
jede sinnliche Befriedigung versagen, um desto nachdrücklicher auf die ideelle hinzuweisen,
die er uns gewähren will." "

Strauß wendet sich dann gegen die, welche gerade diese ideelle, gedankenhafte
Haltung des Schauspiels verwerfen und mehr Handlung und Kampf verlangen, in¬
dem er allerdings zugiebt, daß diese Einwendungen, den Nathan nur als Drama schlecht¬
hin betrachtet, nicht zu widerlegen sind, dann aber fortfährt: "Drastischer, erschütternder
wäre das Stück sicher geworden, hätte der Dichter die Kräfte, die er darin in
Bewegung setzt, ganz entfesselt in ihrer vollen Macht auf einander stoßen und eine
an der andern zerbrechen lassen, als so, wo es vom Vorsatz zur wirklichen That
gar nicht kommt, das Feuer schon als Funke wieder erstickt wird. Allein durch eine



") Wir zeigen dabei zugleich an, daß über denselben Gegenstand soeben eine Schrift von
I. G. Rönnefahrt (Stendal, Franzen und Große) die Presse verlassen hat, und daß von
Adolf Stahls "G. E. Lessing. Sein Leben und seine Werke" (Berlin. Guttentag) eine dritte
Auflage erschienen ist.
Strauß über Lessings Nathan der Weise.

Unter dem Titel „Lessings Nathan der Weise. Ein Vortrag von
David Friedrich Strauß" ist soeben bei Gnttentag in Berlin eine kleine Schrift
erschienen, die wir den Lesern als das Beste, was in solcher Kürze bisher über den
Gegenstand gesagt ist, angelegentlich empfehlen*). Die Entstehungsgeschichte des
Dramas ist kurz besprochen und enthält nichts Neues, der Gang der Handlung und
das Wesen der einzelnen Personen dagegen ist mit der Feinheit und Klarheit charak-
terisirt, die uns in Strauß einen Geistesverwandten Lessings bewundern lassen.
Zum Schluß widerlegt der Verfasser gewisse ästhetische Ausstellungen, die man an
dem Stück gemacht hat, auf sehr einleuchtende und zugleich höchst anmuthige Weise.
„Man hat," sagt er, „ein Mißverhältniß darin gefunden, daß es, ursprünglich auf
den großen geschichtlichen Conflict zwischen christlichem Fanatismus und reiner Ver-
nunftreligion angelegt, zuletzt auf die ordinäre Rührung eines bürgerlichen Familien¬
stücks auslaufe. Allerdings ist es eine Familie, die sich am Schlüsse aus der Zer¬
streuung wieder zusammenfindet; aber was für eine Familie? Eine Familie, die
ihre Angehörige» bei drei Religionen herum verzettelt hatte und sie nun wieder
sammelt, nicht unter den Fittigen einer bestimmten positiven Religion, sondern in
den Armen der Einen allgemeinen Religion der Vernunft und Humanität, deren
versprengte und sich entfremdete Kinder die einzelnen Religionen sind. Durch diese
gewissermaßen symbolische Bedeutung der Personen und Schicksale in unserm Drama
erledigt sich auch der Tadel, den die Wendung am Schlüsse ersahren hat, daß zwei
Liebende sich als Geschwister erkennen, sich folglich entsagen müssen. Dem Dichter
wäre es ein Leichtes gewesen, durch eine Wendung seiner Fabel das Paar als lieben¬
des zu beglücken, wenn er es seiner Absicht gemäß gesunden hätte. Allein eben
weil sein Absehen über alles Persönliche hinausging, durfte er es nicht. Er muß
jede sinnliche Befriedigung versagen, um desto nachdrücklicher auf die ideelle hinzuweisen,
die er uns gewähren will." "

Strauß wendet sich dann gegen die, welche gerade diese ideelle, gedankenhafte
Haltung des Schauspiels verwerfen und mehr Handlung und Kampf verlangen, in¬
dem er allerdings zugiebt, daß diese Einwendungen, den Nathan nur als Drama schlecht¬
hin betrachtet, nicht zu widerlegen sind, dann aber fortfährt: „Drastischer, erschütternder
wäre das Stück sicher geworden, hätte der Dichter die Kräfte, die er darin in
Bewegung setzt, ganz entfesselt in ihrer vollen Macht auf einander stoßen und eine
an der andern zerbrechen lassen, als so, wo es vom Vorsatz zur wirklichen That
gar nicht kommt, das Feuer schon als Funke wieder erstickt wird. Allein durch eine



") Wir zeigen dabei zugleich an, daß über denselben Gegenstand soeben eine Schrift von
I. G. Rönnefahrt (Stendal, Franzen und Große) die Presse verlassen hat, und daß von
Adolf Stahls „G. E. Lessing. Sein Leben und seine Werke" (Berlin. Guttentag) eine dritte
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[0048] Strauß über Lessings Nathan der Weise. Unter dem Titel „Lessings Nathan der Weise. Ein Vortrag von David Friedrich Strauß" ist soeben bei Gnttentag in Berlin eine kleine Schrift erschienen, die wir den Lesern als das Beste, was in solcher Kürze bisher über den Gegenstand gesagt ist, angelegentlich empfehlen*). Die Entstehungsgeschichte des Dramas ist kurz besprochen und enthält nichts Neues, der Gang der Handlung und das Wesen der einzelnen Personen dagegen ist mit der Feinheit und Klarheit charak- terisirt, die uns in Strauß einen Geistesverwandten Lessings bewundern lassen. Zum Schluß widerlegt der Verfasser gewisse ästhetische Ausstellungen, die man an dem Stück gemacht hat, auf sehr einleuchtende und zugleich höchst anmuthige Weise. „Man hat," sagt er, „ein Mißverhältniß darin gefunden, daß es, ursprünglich auf den großen geschichtlichen Conflict zwischen christlichem Fanatismus und reiner Ver- nunftreligion angelegt, zuletzt auf die ordinäre Rührung eines bürgerlichen Familien¬ stücks auslaufe. Allerdings ist es eine Familie, die sich am Schlüsse aus der Zer¬ streuung wieder zusammenfindet; aber was für eine Familie? Eine Familie, die ihre Angehörige» bei drei Religionen herum verzettelt hatte und sie nun wieder sammelt, nicht unter den Fittigen einer bestimmten positiven Religion, sondern in den Armen der Einen allgemeinen Religion der Vernunft und Humanität, deren versprengte und sich entfremdete Kinder die einzelnen Religionen sind. Durch diese gewissermaßen symbolische Bedeutung der Personen und Schicksale in unserm Drama erledigt sich auch der Tadel, den die Wendung am Schlüsse ersahren hat, daß zwei Liebende sich als Geschwister erkennen, sich folglich entsagen müssen. Dem Dichter wäre es ein Leichtes gewesen, durch eine Wendung seiner Fabel das Paar als lieben¬ des zu beglücken, wenn er es seiner Absicht gemäß gesunden hätte. Allein eben weil sein Absehen über alles Persönliche hinausging, durfte er es nicht. Er muß jede sinnliche Befriedigung versagen, um desto nachdrücklicher auf die ideelle hinzuweisen, die er uns gewähren will." " Strauß wendet sich dann gegen die, welche gerade diese ideelle, gedankenhafte Haltung des Schauspiels verwerfen und mehr Handlung und Kampf verlangen, in¬ dem er allerdings zugiebt, daß diese Einwendungen, den Nathan nur als Drama schlecht¬ hin betrachtet, nicht zu widerlegen sind, dann aber fortfährt: „Drastischer, erschütternder wäre das Stück sicher geworden, hätte der Dichter die Kräfte, die er darin in Bewegung setzt, ganz entfesselt in ihrer vollen Macht auf einander stoßen und eine an der andern zerbrechen lassen, als so, wo es vom Vorsatz zur wirklichen That gar nicht kommt, das Feuer schon als Funke wieder erstickt wird. Allein durch eine ") Wir zeigen dabei zugleich an, daß über denselben Gegenstand soeben eine Schrift von I. G. Rönnefahrt (Stendal, Franzen und Große) die Presse verlassen hat, und daß von Adolf Stahls „G. E. Lessing. Sein Leben und seine Werke" (Berlin. Guttentag) eine dritte Auflage erschienen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/48>, abgerufen am 24.07.2024.