Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

räumt (innerhalb welcher Frist?) Tagfahrt zur Rechtfertigung der Appellativ"
an. Die Parteien werden zu derselben unter der Eröffnung geladen, daß auch
bei ihrem Ausbleiben werde verhandelt werden. In der Tagfahrt trägt
zuvörderst ein Mitglied des Gerichtes die Lage der Sache vor, worauf
der Appellant seine Beschwerden rechtfertigen, der Appellat die Appellation
widerlegen kann . . . Jede Partei ist auch bei dem Nichterscheinen der Gegen¬
partei mit ihrem Vortrage zu hören. Bei dem Ausbleiben einer Par¬
tei vertritt ti e V or l esun g d er v on d e rs elb e n ein gereicht en S es rif-
ten den mündlichen Part e lo o rtr a g. Von der Vorlesung kann
abgesehen werden, wenn der wesentliche Inhalt der Schriften in
dem Vortrage des Gerichtsmitgliedes enthalten ist."

Auf diese Weise könnte allerdings eine mündliche Verhandlung oder
wenigstens das Scheinbild einer solchen zu Stande kommen; wer aber mit den
Verhältnissen einigermaßen vertraut ist, wird sich im Voraus sagen müssen,
daß schriftliches Verfahren hiernach in zweiter Instanz nach wie vor die Regel
bleiben wird. Wir haben in Sachsen 16 Bezirksgerichte und außerdem
IIS Gerichtsämter, dagegen nur vier Städte, in welcher sich Appellationsgerichte
befinden; meint man vielleicht, die Advocaten in den übrigen Städten würden,
wenn ihnen gestattet ist, eine in erster Instanz von ihnen geführte Sache
in der zweiten Instanz schriftlich selbst weiter zu betreiben, es vorziehen, die
mündliche Verhandlung einem Anwälte in der Stadt des Appellationsgerichts
zu übertragen? Oder hat man an den in unserem Strafproceß gemachten Er¬
sahrungen noch nicht genug?

Aber auch auf die ganze Handhabung des Verfahrens wird es einen ver¬
derblichen Einfluß äußern, wenn dem feindlichen Princip der Schriftlichkeit so
viel Spielraum eingeräumt ist. Man gebe sich doch ja keiner Täuschung hin
über die Schwierigkeiten, welchen die Einführung der Mündlichkeit und Oeffent-
lichkeit bei einem großen Theil, wahrscheinlich bei der Mehrzahl unserer Richter
und Advocaten, namentlich bei den älteren von ihnen, unvermeidlich begegnen
wird. Hat man sich einmal daran gewöhnt, dann -- das lehrt das Beispiel
der hannöverschen Juristen -- wird man auch mit einer jetzt kaum geahnten
Liebe daran hängen. Dazu ist aber nöthig, daß man sich in den Geist des
mündlichen Verfahrens eingelebt habe, und das wird um so schwerer ge¬
schehen, je mehr Hinterthüren das Gesetz offen läßt, durch welche man zu den
altgewohnten Gleisen gelangen kann. Viele Sachwalter würden sich bei solchen
Einrichtungen beim Verfahren in der ersten Instanz auf das Nothdürftigste
beschränken, um dann in zweiter Instanz ihrem Herzen in langen Ausarbei¬
tungen Luft zu machen. Es ist daher Wohl nicht zu viel behauptet, wenn ich
die Hoffnung auf Mündlichkeit in der Rechtsmittelinstanz nach dem vorliegenden
Entwurf eine Illusion genannt habe.


räumt (innerhalb welcher Frist?) Tagfahrt zur Rechtfertigung der Appellativ»
an. Die Parteien werden zu derselben unter der Eröffnung geladen, daß auch
bei ihrem Ausbleiben werde verhandelt werden. In der Tagfahrt trägt
zuvörderst ein Mitglied des Gerichtes die Lage der Sache vor, worauf
der Appellant seine Beschwerden rechtfertigen, der Appellat die Appellation
widerlegen kann . . . Jede Partei ist auch bei dem Nichterscheinen der Gegen¬
partei mit ihrem Vortrage zu hören. Bei dem Ausbleiben einer Par¬
tei vertritt ti e V or l esun g d er v on d e rs elb e n ein gereicht en S es rif-
ten den mündlichen Part e lo o rtr a g. Von der Vorlesung kann
abgesehen werden, wenn der wesentliche Inhalt der Schriften in
dem Vortrage des Gerichtsmitgliedes enthalten ist."

Auf diese Weise könnte allerdings eine mündliche Verhandlung oder
wenigstens das Scheinbild einer solchen zu Stande kommen; wer aber mit den
Verhältnissen einigermaßen vertraut ist, wird sich im Voraus sagen müssen,
daß schriftliches Verfahren hiernach in zweiter Instanz nach wie vor die Regel
bleiben wird. Wir haben in Sachsen 16 Bezirksgerichte und außerdem
IIS Gerichtsämter, dagegen nur vier Städte, in welcher sich Appellationsgerichte
befinden; meint man vielleicht, die Advocaten in den übrigen Städten würden,
wenn ihnen gestattet ist, eine in erster Instanz von ihnen geführte Sache
in der zweiten Instanz schriftlich selbst weiter zu betreiben, es vorziehen, die
mündliche Verhandlung einem Anwälte in der Stadt des Appellationsgerichts
zu übertragen? Oder hat man an den in unserem Strafproceß gemachten Er¬
sahrungen noch nicht genug?

Aber auch auf die ganze Handhabung des Verfahrens wird es einen ver¬
derblichen Einfluß äußern, wenn dem feindlichen Princip der Schriftlichkeit so
viel Spielraum eingeräumt ist. Man gebe sich doch ja keiner Täuschung hin
über die Schwierigkeiten, welchen die Einführung der Mündlichkeit und Oeffent-
lichkeit bei einem großen Theil, wahrscheinlich bei der Mehrzahl unserer Richter
und Advocaten, namentlich bei den älteren von ihnen, unvermeidlich begegnen
wird. Hat man sich einmal daran gewöhnt, dann — das lehrt das Beispiel
der hannöverschen Juristen — wird man auch mit einer jetzt kaum geahnten
Liebe daran hängen. Dazu ist aber nöthig, daß man sich in den Geist des
mündlichen Verfahrens eingelebt habe, und das wird um so schwerer ge¬
schehen, je mehr Hinterthüren das Gesetz offen läßt, durch welche man zu den
altgewohnten Gleisen gelangen kann. Viele Sachwalter würden sich bei solchen
Einrichtungen beim Verfahren in der ersten Instanz auf das Nothdürftigste
beschränken, um dann in zweiter Instanz ihrem Herzen in langen Ausarbei¬
tungen Luft zu machen. Es ist daher Wohl nicht zu viel behauptet, wenn ich
die Hoffnung auf Mündlichkeit in der Rechtsmittelinstanz nach dem vorliegenden
Entwurf eine Illusion genannt habe.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0467" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116933"/>
          <p xml:id="ID_1454" prev="#ID_1453"> räumt (innerhalb welcher Frist?) Tagfahrt zur Rechtfertigung der Appellativ»<lb/>
an. Die Parteien werden zu derselben unter der Eröffnung geladen, daß auch<lb/>
bei ihrem Ausbleiben werde verhandelt werden. In der Tagfahrt trägt<lb/>
zuvörderst ein Mitglied des Gerichtes die Lage der Sache vor, worauf<lb/>
der Appellant seine Beschwerden rechtfertigen, der Appellat die Appellation<lb/>
widerlegen kann . . . Jede Partei ist auch bei dem Nichterscheinen der Gegen¬<lb/>
partei mit ihrem Vortrage zu hören. Bei dem Ausbleiben einer Par¬<lb/>
tei vertritt ti e V or l esun g d er v on d e rs elb e n ein gereicht en S es rif-<lb/>
ten den mündlichen Part e lo o rtr a g. Von der Vorlesung kann<lb/>
abgesehen werden, wenn der wesentliche Inhalt der Schriften in<lb/>
dem Vortrage des Gerichtsmitgliedes enthalten ist."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1455"> Auf diese Weise könnte allerdings eine mündliche Verhandlung oder<lb/>
wenigstens das Scheinbild einer solchen zu Stande kommen; wer aber mit den<lb/>
Verhältnissen einigermaßen vertraut ist, wird sich im Voraus sagen müssen,<lb/>
daß schriftliches Verfahren hiernach in zweiter Instanz nach wie vor die Regel<lb/>
bleiben wird. Wir haben in Sachsen 16 Bezirksgerichte und außerdem<lb/>
IIS Gerichtsämter, dagegen nur vier Städte, in welcher sich Appellationsgerichte<lb/>
befinden; meint man vielleicht, die Advocaten in den übrigen Städten würden,<lb/>
wenn ihnen gestattet ist, eine in erster Instanz von ihnen geführte Sache<lb/>
in der zweiten Instanz schriftlich selbst weiter zu betreiben, es vorziehen, die<lb/>
mündliche Verhandlung einem Anwälte in der Stadt des Appellationsgerichts<lb/>
zu übertragen? Oder hat man an den in unserem Strafproceß gemachten Er¬<lb/>
sahrungen noch nicht genug?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1456"> Aber auch auf die ganze Handhabung des Verfahrens wird es einen ver¬<lb/>
derblichen Einfluß äußern, wenn dem feindlichen Princip der Schriftlichkeit so<lb/>
viel Spielraum eingeräumt ist. Man gebe sich doch ja keiner Täuschung hin<lb/>
über die Schwierigkeiten, welchen die Einführung der Mündlichkeit und Oeffent-<lb/>
lichkeit bei einem großen Theil, wahrscheinlich bei der Mehrzahl unserer Richter<lb/>
und Advocaten, namentlich bei den älteren von ihnen, unvermeidlich begegnen<lb/>
wird. Hat man sich einmal daran gewöhnt, dann &#x2014; das lehrt das Beispiel<lb/>
der hannöverschen Juristen &#x2014; wird man auch mit einer jetzt kaum geahnten<lb/>
Liebe daran hängen. Dazu ist aber nöthig, daß man sich in den Geist des<lb/>
mündlichen Verfahrens eingelebt habe, und das wird um so schwerer ge¬<lb/>
schehen, je mehr Hinterthüren das Gesetz offen läßt, durch welche man zu den<lb/>
altgewohnten Gleisen gelangen kann. Viele Sachwalter würden sich bei solchen<lb/>
Einrichtungen beim Verfahren in der ersten Instanz auf das Nothdürftigste<lb/>
beschränken, um dann in zweiter Instanz ihrem Herzen in langen Ausarbei¬<lb/>
tungen Luft zu machen. Es ist daher Wohl nicht zu viel behauptet, wenn ich<lb/>
die Hoffnung auf Mündlichkeit in der Rechtsmittelinstanz nach dem vorliegenden<lb/>
Entwurf eine Illusion genannt habe.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0467] räumt (innerhalb welcher Frist?) Tagfahrt zur Rechtfertigung der Appellativ» an. Die Parteien werden zu derselben unter der Eröffnung geladen, daß auch bei ihrem Ausbleiben werde verhandelt werden. In der Tagfahrt trägt zuvörderst ein Mitglied des Gerichtes die Lage der Sache vor, worauf der Appellant seine Beschwerden rechtfertigen, der Appellat die Appellation widerlegen kann . . . Jede Partei ist auch bei dem Nichterscheinen der Gegen¬ partei mit ihrem Vortrage zu hören. Bei dem Ausbleiben einer Par¬ tei vertritt ti e V or l esun g d er v on d e rs elb e n ein gereicht en S es rif- ten den mündlichen Part e lo o rtr a g. Von der Vorlesung kann abgesehen werden, wenn der wesentliche Inhalt der Schriften in dem Vortrage des Gerichtsmitgliedes enthalten ist." Auf diese Weise könnte allerdings eine mündliche Verhandlung oder wenigstens das Scheinbild einer solchen zu Stande kommen; wer aber mit den Verhältnissen einigermaßen vertraut ist, wird sich im Voraus sagen müssen, daß schriftliches Verfahren hiernach in zweiter Instanz nach wie vor die Regel bleiben wird. Wir haben in Sachsen 16 Bezirksgerichte und außerdem IIS Gerichtsämter, dagegen nur vier Städte, in welcher sich Appellationsgerichte befinden; meint man vielleicht, die Advocaten in den übrigen Städten würden, wenn ihnen gestattet ist, eine in erster Instanz von ihnen geführte Sache in der zweiten Instanz schriftlich selbst weiter zu betreiben, es vorziehen, die mündliche Verhandlung einem Anwälte in der Stadt des Appellationsgerichts zu übertragen? Oder hat man an den in unserem Strafproceß gemachten Er¬ sahrungen noch nicht genug? Aber auch auf die ganze Handhabung des Verfahrens wird es einen ver¬ derblichen Einfluß äußern, wenn dem feindlichen Princip der Schriftlichkeit so viel Spielraum eingeräumt ist. Man gebe sich doch ja keiner Täuschung hin über die Schwierigkeiten, welchen die Einführung der Mündlichkeit und Oeffent- lichkeit bei einem großen Theil, wahrscheinlich bei der Mehrzahl unserer Richter und Advocaten, namentlich bei den älteren von ihnen, unvermeidlich begegnen wird. Hat man sich einmal daran gewöhnt, dann — das lehrt das Beispiel der hannöverschen Juristen — wird man auch mit einer jetzt kaum geahnten Liebe daran hängen. Dazu ist aber nöthig, daß man sich in den Geist des mündlichen Verfahrens eingelebt habe, und das wird um so schwerer ge¬ schehen, je mehr Hinterthüren das Gesetz offen läßt, durch welche man zu den altgewohnten Gleisen gelangen kann. Viele Sachwalter würden sich bei solchen Einrichtungen beim Verfahren in der ersten Instanz auf das Nothdürftigste beschränken, um dann in zweiter Instanz ihrem Herzen in langen Ausarbei¬ tungen Luft zu machen. Es ist daher Wohl nicht zu viel behauptet, wenn ich die Hoffnung auf Mündlichkeit in der Rechtsmittelinstanz nach dem vorliegenden Entwurf eine Illusion genannt habe.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/467
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/467>, abgerufen am 24.07.2024.