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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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gerben mündlich vor, so erlangen sie dadurch die Ueberzeugung, daß er alles
für ihr Recht Erhebliche wirklich vernommen hat. Sie bemerken auch, ob er
ihr Vordringen vollständig aufgefaßt hat, oder ob es einer weiteren Ausführung
bedarf. Dem Richter aber tritt das Streitv crhältniß viel klarer
und anschaulicher entgegen, wenn er dasselbe nicht blos durch das
Lesen der Acten oder durch ein Referat aus den Acten kennen
lernt, sondern die Parteien selbst oder ihre Vertreter mit ihren
mehr lebensvollen Vorträgen hört, soweit möglich, selbst Zeugen wie
Sachverständige vernimmt und jede in den Auslassungen der Parteien, Zeugen
oder Sachverständigen zum Vorschein kommende Dunkelheit oder Zweideutigkeit
sofort durch Fragen aufklären kann." Und weiter S. 263 f.: "Die Gründe,
welche die Öffentlichkeit der gerichtlichen Verhandlung für den Strafproceß
empfehlen, sprechen dafür, daß sie auch für den bürgerlichen Proceß verstattet
werde. Angemessen beschränkt kann sie hier niemals schaden, ist aber wohl das
geeignetste Mittel, der Rechtspflege eine gedeihliche, zweckentsprechende Wirk¬
samkeit zu sichern. Wo sie schon besteht, hat sie wesentlich dazu beigetragen,
das Vertrauen zu den Gerichten zu kräftigen, das Rechtsgefühl zu beleben,
vom Chikaniren und muthwilligen Proceßfiihren abzuhalten, tüchtige Richter zu
bilden, den Advocatenstand zu heben, dem Volke die Gelegenheit zu geben, die,
Sachwalter in ihrer Geschicklicht'eit, Zuverlässigkeit und Ehrenhaftigkeit kennen
zu lernen und den Richter gegen Verdächtigungen zu schützen" ?c.

Dahin gehen auch übereinstimmend die Gutachten, welche die hannöversche
Negierung seit dem Erlaß der neuen Proceßordnung (1850) über deren Ergeb¬
nisse von den Vorständen der Obergerichte :c. eingeholt hat*). Ich bedaure
daß der Raum mir nicht gestattet einige davon anzuführen.

Im regelmäßigen Verfahren wird zwar die mündliche Verhandlung durch
Schriftsätze vorbereitet, maßgebend aber bleibt -- mit Ausnahme der Klage,
bei welcher eigentliche Aenderungen ohne Einwilligung des Gegners nicht zu¬
lässig sind -- der Inhalt der mündlichen Vorträge. Der hannöversche Proceß
kennt neben dem regelmäßigen noch ein schriftliches Ausnahmcverfahren mit
mündlicher Schlußverhandlung für besonders weitläufige oder verwickelte Sa¬
chen. Die Fälle, in denen dies zur Anwendung gebracht wird, waren im An¬
fange häusiger, jetzt verhalten sie sich zur Regel noch nicht wie 1:100 --gewiß
der beste Beweis für die Vortrefflichfeit des mündlichen Verfahrens. Nach einer
Negistrande, die ich in Hannover sah, kam auf circa 700 Sachen, welche im
regelmäßigen Verfahren erledigt waren, ein einziges Ausnahmcverfahren.
Die dortigen Juristen stimmen darin überein, daß, sobald der Inhalt der Schrift-



") Sie finden sich übersichtlich zusammengestellt bei Leonhardt, das Civilproceszverfahren
des Königreichs Hannover. Hannover 18l>1. Dieses Schuhleder kann denen, welche sich für
die Sache interessiren, nicht genug empfohlen werden.
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gerben mündlich vor, so erlangen sie dadurch die Ueberzeugung, daß er alles
für ihr Recht Erhebliche wirklich vernommen hat. Sie bemerken auch, ob er
ihr Vordringen vollständig aufgefaßt hat, oder ob es einer weiteren Ausführung
bedarf. Dem Richter aber tritt das Streitv crhältniß viel klarer
und anschaulicher entgegen, wenn er dasselbe nicht blos durch das
Lesen der Acten oder durch ein Referat aus den Acten kennen
lernt, sondern die Parteien selbst oder ihre Vertreter mit ihren
mehr lebensvollen Vorträgen hört, soweit möglich, selbst Zeugen wie
Sachverständige vernimmt und jede in den Auslassungen der Parteien, Zeugen
oder Sachverständigen zum Vorschein kommende Dunkelheit oder Zweideutigkeit
sofort durch Fragen aufklären kann." Und weiter S. 263 f.: „Die Gründe,
welche die Öffentlichkeit der gerichtlichen Verhandlung für den Strafproceß
empfehlen, sprechen dafür, daß sie auch für den bürgerlichen Proceß verstattet
werde. Angemessen beschränkt kann sie hier niemals schaden, ist aber wohl das
geeignetste Mittel, der Rechtspflege eine gedeihliche, zweckentsprechende Wirk¬
samkeit zu sichern. Wo sie schon besteht, hat sie wesentlich dazu beigetragen,
das Vertrauen zu den Gerichten zu kräftigen, das Rechtsgefühl zu beleben,
vom Chikaniren und muthwilligen Proceßfiihren abzuhalten, tüchtige Richter zu
bilden, den Advocatenstand zu heben, dem Volke die Gelegenheit zu geben, die,
Sachwalter in ihrer Geschicklicht'eit, Zuverlässigkeit und Ehrenhaftigkeit kennen
zu lernen und den Richter gegen Verdächtigungen zu schützen" ?c.

Dahin gehen auch übereinstimmend die Gutachten, welche die hannöversche
Negierung seit dem Erlaß der neuen Proceßordnung (1850) über deren Ergeb¬
nisse von den Vorständen der Obergerichte :c. eingeholt hat*). Ich bedaure
daß der Raum mir nicht gestattet einige davon anzuführen.

Im regelmäßigen Verfahren wird zwar die mündliche Verhandlung durch
Schriftsätze vorbereitet, maßgebend aber bleibt — mit Ausnahme der Klage,
bei welcher eigentliche Aenderungen ohne Einwilligung des Gegners nicht zu¬
lässig sind — der Inhalt der mündlichen Vorträge. Der hannöversche Proceß
kennt neben dem regelmäßigen noch ein schriftliches Ausnahmcverfahren mit
mündlicher Schlußverhandlung für besonders weitläufige oder verwickelte Sa¬
chen. Die Fälle, in denen dies zur Anwendung gebracht wird, waren im An¬
fange häusiger, jetzt verhalten sie sich zur Regel noch nicht wie 1:100 —gewiß
der beste Beweis für die Vortrefflichfeit des mündlichen Verfahrens. Nach einer
Negistrande, die ich in Hannover sah, kam auf circa 700 Sachen, welche im
regelmäßigen Verfahren erledigt waren, ein einziges Ausnahmcverfahren.
Die dortigen Juristen stimmen darin überein, daß, sobald der Inhalt der Schrift-



") Sie finden sich übersichtlich zusammengestellt bei Leonhardt, das Civilproceszverfahren
des Königreichs Hannover. Hannover 18l>1. Dieses Schuhleder kann denen, welche sich für
die Sache interessiren, nicht genug empfohlen werden.
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[0457] gerben mündlich vor, so erlangen sie dadurch die Ueberzeugung, daß er alles für ihr Recht Erhebliche wirklich vernommen hat. Sie bemerken auch, ob er ihr Vordringen vollständig aufgefaßt hat, oder ob es einer weiteren Ausführung bedarf. Dem Richter aber tritt das Streitv crhältniß viel klarer und anschaulicher entgegen, wenn er dasselbe nicht blos durch das Lesen der Acten oder durch ein Referat aus den Acten kennen lernt, sondern die Parteien selbst oder ihre Vertreter mit ihren mehr lebensvollen Vorträgen hört, soweit möglich, selbst Zeugen wie Sachverständige vernimmt und jede in den Auslassungen der Parteien, Zeugen oder Sachverständigen zum Vorschein kommende Dunkelheit oder Zweideutigkeit sofort durch Fragen aufklären kann." Und weiter S. 263 f.: „Die Gründe, welche die Öffentlichkeit der gerichtlichen Verhandlung für den Strafproceß empfehlen, sprechen dafür, daß sie auch für den bürgerlichen Proceß verstattet werde. Angemessen beschränkt kann sie hier niemals schaden, ist aber wohl das geeignetste Mittel, der Rechtspflege eine gedeihliche, zweckentsprechende Wirk¬ samkeit zu sichern. Wo sie schon besteht, hat sie wesentlich dazu beigetragen, das Vertrauen zu den Gerichten zu kräftigen, das Rechtsgefühl zu beleben, vom Chikaniren und muthwilligen Proceßfiihren abzuhalten, tüchtige Richter zu bilden, den Advocatenstand zu heben, dem Volke die Gelegenheit zu geben, die, Sachwalter in ihrer Geschicklicht'eit, Zuverlässigkeit und Ehrenhaftigkeit kennen zu lernen und den Richter gegen Verdächtigungen zu schützen" ?c. Dahin gehen auch übereinstimmend die Gutachten, welche die hannöversche Negierung seit dem Erlaß der neuen Proceßordnung (1850) über deren Ergeb¬ nisse von den Vorständen der Obergerichte :c. eingeholt hat*). Ich bedaure daß der Raum mir nicht gestattet einige davon anzuführen. Im regelmäßigen Verfahren wird zwar die mündliche Verhandlung durch Schriftsätze vorbereitet, maßgebend aber bleibt — mit Ausnahme der Klage, bei welcher eigentliche Aenderungen ohne Einwilligung des Gegners nicht zu¬ lässig sind — der Inhalt der mündlichen Vorträge. Der hannöversche Proceß kennt neben dem regelmäßigen noch ein schriftliches Ausnahmcverfahren mit mündlicher Schlußverhandlung für besonders weitläufige oder verwickelte Sa¬ chen. Die Fälle, in denen dies zur Anwendung gebracht wird, waren im An¬ fange häusiger, jetzt verhalten sie sich zur Regel noch nicht wie 1:100 —gewiß der beste Beweis für die Vortrefflichfeit des mündlichen Verfahrens. Nach einer Negistrande, die ich in Hannover sah, kam auf circa 700 Sachen, welche im regelmäßigen Verfahren erledigt waren, ein einziges Ausnahmcverfahren. Die dortigen Juristen stimmen darin überein, daß, sobald der Inhalt der Schrift- ") Sie finden sich übersichtlich zusammengestellt bei Leonhardt, das Civilproceszverfahren des Königreichs Hannover. Hannover 18l>1. Dieses Schuhleder kann denen, welche sich für die Sache interessiren, nicht genug empfohlen werden. 57*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/457>, abgerufen am 24.07.2024.