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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Gedichte der Gräfin Auguste Egloffstein.

Aus einem Tagcvuchc. Gedichte der Gräfin Auguste von und zu Egloffstein. Wei¬
mar, Hermann Bostan. 1864.

Wer seine Ansprüche auf lyrische Poesie an den starken Talenten unserer
nächsten Vergangenheit groß gezogen hat, der vermag nur selten ein ernstes
Erstaunen fern zu halten, wenn er neue Gedichtsammlungen durchmustert. Wir
wissen wohl, daß Aufblühen und Schwinden der lyrischen Kraft in jeder Pe¬
riode nationaler Entwickelung nach innern Gesetzen erfolgt, und wir vermögen
wohl auch vor den einzelnen Dichtern in der Zeit sinkender Kraft zu erkennen,
wie größere Vorgänger dazu beigetragen haben, das Talent der Späteren zu be¬
schränken, ihnen die innere Wahrheit der Empfindung und Originalität des
Ausdrucks zu beeinträchtigen. Demungeachtet ist sehr auffallend, wie schnell
auch die technische Tüchtigkeit in neuen Leistungen abgenommen hat; saloppe
Form und Unbehilflichkeit des dichterischen Ausdrucks sind sechzig Jahr nach
Schiller und Goethe das gewöhnliche Leiden jüngerer Dichter. Und die Roh-
heit des Dilettantismus, welcher sich jetzt neben einer gewissen Formengewandtheit
ohne entsprechenden Inhalt breit macht, ist nur daraus zu erklären, daß die
poetische Bildung der Nation unter der energischen Einwirkung einer ganz an¬
dern Reihe von bildenden Factoren abgenommen hat. Die Deutschen versuchen
jetzt im wirklichen Leben stärker und fester zu werden. Die Kunst aber darf
sich, auch wo sie vorläufig darunter leidet, dies Ringen unseres Volkes aus
realen Gebieten des Lebens sehr wohl gefallen lassen, denn auch sie bedarf
eine festere und breitere Grundlage für ein neues Aufblühen.

In solcher Zelt, welche trotz massenhafter Production im Ganzen den
Eindruck der Oede und Armuth macht, haben reine Accorde, der würdige Aus¬
druck einer edlen Empfindung auch da Anspruch auf besondere Beachtung,
wo der Reichthum an Stimmungen nicht groß ist. Beides ist für die vor¬
liegende Gedichtsammlung charakteristisch, deren Gedichte allerdings nicht in den
letzten Jahren entstanden sind, sondern nach Melodie und Rythmus der Sprache
unseren großen Dichtern näher stehen. als das junge Geschlecht kunstloser Wald¬
vögel. Und der kleine Band hat noch ein anderes Interesse. Die Dichterin
war durch ein Dasein voll "unablässiger, unsäglicher" Körperleiden seit ihrer
Jugend in einen kleinen Kreis vertrauter Menschen festgebannt, dem Schmerz
und der Entsagung geweiht. Im Jahre 1796 in Weimar geboren, früh in
das Hildesheimische Versetze, lebte sie dort bis zum Jahre 1862 in anmuthiger
Landschaft auf ihrem Krankenlager, oder auf einer Blumenterrasse des ehema¬
ligen Klostergartens Marienrode ein abgeschiedenes innerliches Leben in Leiden
und Sehnsucht. Mit dem Stift zeichnete sie. da ihre schwache Hand die Feder


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Gedichte der Gräfin Auguste Egloffstein.

Aus einem Tagcvuchc. Gedichte der Gräfin Auguste von und zu Egloffstein. Wei¬
mar, Hermann Bostan. 1864.

Wer seine Ansprüche auf lyrische Poesie an den starken Talenten unserer
nächsten Vergangenheit groß gezogen hat, der vermag nur selten ein ernstes
Erstaunen fern zu halten, wenn er neue Gedichtsammlungen durchmustert. Wir
wissen wohl, daß Aufblühen und Schwinden der lyrischen Kraft in jeder Pe¬
riode nationaler Entwickelung nach innern Gesetzen erfolgt, und wir vermögen
wohl auch vor den einzelnen Dichtern in der Zeit sinkender Kraft zu erkennen,
wie größere Vorgänger dazu beigetragen haben, das Talent der Späteren zu be¬
schränken, ihnen die innere Wahrheit der Empfindung und Originalität des
Ausdrucks zu beeinträchtigen. Demungeachtet ist sehr auffallend, wie schnell
auch die technische Tüchtigkeit in neuen Leistungen abgenommen hat; saloppe
Form und Unbehilflichkeit des dichterischen Ausdrucks sind sechzig Jahr nach
Schiller und Goethe das gewöhnliche Leiden jüngerer Dichter. Und die Roh-
heit des Dilettantismus, welcher sich jetzt neben einer gewissen Formengewandtheit
ohne entsprechenden Inhalt breit macht, ist nur daraus zu erklären, daß die
poetische Bildung der Nation unter der energischen Einwirkung einer ganz an¬
dern Reihe von bildenden Factoren abgenommen hat. Die Deutschen versuchen
jetzt im wirklichen Leben stärker und fester zu werden. Die Kunst aber darf
sich, auch wo sie vorläufig darunter leidet, dies Ringen unseres Volkes aus
realen Gebieten des Lebens sehr wohl gefallen lassen, denn auch sie bedarf
eine festere und breitere Grundlage für ein neues Aufblühen.

In solcher Zelt, welche trotz massenhafter Production im Ganzen den
Eindruck der Oede und Armuth macht, haben reine Accorde, der würdige Aus¬
druck einer edlen Empfindung auch da Anspruch auf besondere Beachtung,
wo der Reichthum an Stimmungen nicht groß ist. Beides ist für die vor¬
liegende Gedichtsammlung charakteristisch, deren Gedichte allerdings nicht in den
letzten Jahren entstanden sind, sondern nach Melodie und Rythmus der Sprache
unseren großen Dichtern näher stehen. als das junge Geschlecht kunstloser Wald¬
vögel. Und der kleine Band hat noch ein anderes Interesse. Die Dichterin
war durch ein Dasein voll „unablässiger, unsäglicher" Körperleiden seit ihrer
Jugend in einen kleinen Kreis vertrauter Menschen festgebannt, dem Schmerz
und der Entsagung geweiht. Im Jahre 1796 in Weimar geboren, früh in
das Hildesheimische Versetze, lebte sie dort bis zum Jahre 1862 in anmuthiger
Landschaft auf ihrem Krankenlager, oder auf einer Blumenterrasse des ehema¬
ligen Klostergartens Marienrode ein abgeschiedenes innerliches Leben in Leiden
und Sehnsucht. Mit dem Stift zeichnete sie. da ihre schwache Hand die Feder


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[0409] Gedichte der Gräfin Auguste Egloffstein. Aus einem Tagcvuchc. Gedichte der Gräfin Auguste von und zu Egloffstein. Wei¬ mar, Hermann Bostan. 1864. Wer seine Ansprüche auf lyrische Poesie an den starken Talenten unserer nächsten Vergangenheit groß gezogen hat, der vermag nur selten ein ernstes Erstaunen fern zu halten, wenn er neue Gedichtsammlungen durchmustert. Wir wissen wohl, daß Aufblühen und Schwinden der lyrischen Kraft in jeder Pe¬ riode nationaler Entwickelung nach innern Gesetzen erfolgt, und wir vermögen wohl auch vor den einzelnen Dichtern in der Zeit sinkender Kraft zu erkennen, wie größere Vorgänger dazu beigetragen haben, das Talent der Späteren zu be¬ schränken, ihnen die innere Wahrheit der Empfindung und Originalität des Ausdrucks zu beeinträchtigen. Demungeachtet ist sehr auffallend, wie schnell auch die technische Tüchtigkeit in neuen Leistungen abgenommen hat; saloppe Form und Unbehilflichkeit des dichterischen Ausdrucks sind sechzig Jahr nach Schiller und Goethe das gewöhnliche Leiden jüngerer Dichter. Und die Roh- heit des Dilettantismus, welcher sich jetzt neben einer gewissen Formengewandtheit ohne entsprechenden Inhalt breit macht, ist nur daraus zu erklären, daß die poetische Bildung der Nation unter der energischen Einwirkung einer ganz an¬ dern Reihe von bildenden Factoren abgenommen hat. Die Deutschen versuchen jetzt im wirklichen Leben stärker und fester zu werden. Die Kunst aber darf sich, auch wo sie vorläufig darunter leidet, dies Ringen unseres Volkes aus realen Gebieten des Lebens sehr wohl gefallen lassen, denn auch sie bedarf eine festere und breitere Grundlage für ein neues Aufblühen. In solcher Zelt, welche trotz massenhafter Production im Ganzen den Eindruck der Oede und Armuth macht, haben reine Accorde, der würdige Aus¬ druck einer edlen Empfindung auch da Anspruch auf besondere Beachtung, wo der Reichthum an Stimmungen nicht groß ist. Beides ist für die vor¬ liegende Gedichtsammlung charakteristisch, deren Gedichte allerdings nicht in den letzten Jahren entstanden sind, sondern nach Melodie und Rythmus der Sprache unseren großen Dichtern näher stehen. als das junge Geschlecht kunstloser Wald¬ vögel. Und der kleine Band hat noch ein anderes Interesse. Die Dichterin war durch ein Dasein voll „unablässiger, unsäglicher" Körperleiden seit ihrer Jugend in einen kleinen Kreis vertrauter Menschen festgebannt, dem Schmerz und der Entsagung geweiht. Im Jahre 1796 in Weimar geboren, früh in das Hildesheimische Versetze, lebte sie dort bis zum Jahre 1862 in anmuthiger Landschaft auf ihrem Krankenlager, oder auf einer Blumenterrasse des ehema¬ ligen Klostergartens Marienrode ein abgeschiedenes innerliches Leben in Leiden und Sehnsucht. Mit dem Stift zeichnete sie. da ihre schwache Hand die Feder 61*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/409>, abgerufen am 04.07.2024.