Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.holte Vervielfältigung, zufällig oder absichtlich, mehr oder weniger entstellt 44"
holte Vervielfältigung, zufällig oder absichtlich, mehr oder weniger entstellt 44"
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0353" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/116819"/> <p xml:id="ID_1073" prev="#ID_1072" next="#ID_1074"> holte Vervielfältigung, zufällig oder absichtlich, mehr oder weniger entstellt<lb/> worden ist, in der Gestalt wiederherzustellen, wie es der Urheber abgefaßt hat.<lb/> Sie hat daher zunächst die Ueberlieferung zu prüfen und die Quelle, oder<lb/> die Quellen, zu ermitteln, aus welchen mit der größten Sicherheit die ursprüng¬<lb/> liche Gestalt entnommen werden kann. Wo es möglich ist die Urschrift des<lb/> Autors zu Rathe zu ziehen, bietet diese natürlich die sicherste Gewähr, doch auch<lb/> sie nicht überall unbedingte Gewißheit, denn selbst der sorgfältigste ist vor<lb/> Schreibfehlern und zufälligen Unachtsamkeiten nicht sicher, und es können sehr<lb/> wohl Verbesserungen, welche Willigkeit haben sollen, noch nach vollendeter Ur¬<lb/> schrift gemacht werden, die man nicht in derselben nachträgt. Abschriften<lb/> und Drucke, welche unter Aufsicht des Autors zu Stande gekommen sind, haben<lb/> daher, auch wenn die Urschrift vorliegt, eine selbständige, mitunter als die letzte<lb/> Revision des Urhebers eine überwiegende Bedeutung für die Kritik. Bei einem<lb/> musikalischen Kunstwerk behaupten Stimmen, welche für eine unter Leitung<lb/> des Komponisten vorgenommene Aufführung geschrieben sind, eine ähnliche<lb/> Stelle, weil sich mit Grund voraussetzen läßt, daß beim Gebrauche die etwa<lb/> eingeschlichenen zufälligen Versehen genau verbessert worden sind. Wenn nun<lb/> diese verschiedenen Mittel der Ueberlieferung zu gegenseitiger Controle voll¬<lb/> ständig vorliegen, so ist die Voraussetzung der durch zufälligen Irrthum ent¬<lb/> standenen Fehler auf möglichst enge Grenzen beschränkt. Allein es steht zu<lb/> erwarten, daß es dennoch nie ganz an solchen fehlen wird, und diese sind<lb/> dann auch gegen die übereinstimmende Tradition zu verbessern, um so<lb/> unbedenklicher, als dies meistens handgreifliche Versehen, und die Besserungen<lb/> zweifellos sein werden. Wenn aber diese Quellen von einander abweichen,<lb/> wenn entweder jede etwas Verschiedenes darbietet, oder einzelne, unter sich<lb/> übereinstimmend, anderen widersprechen, so kann eine Entscheidung zunächst<lb/> aus wesentlich äußerlichen Momenten erfolgen, z. B. wenn augenfällig<lb/> eine Lesart der Abschriften und Drucke nur in einem Mißverständniß der Züge<lb/> der Urschrift seinen Grund hat, oder wenn ein offenbares Flüchtigkeitsversehen<lb/> dieser in jenen verbessert worden ist. Allein in den meisten Fällen eines<lb/> Zwiespaltes in der Ueberlieferung kann das Urtheil über das, was richtig ist<lb/> nur durch Erörterung innerer Gründe festgestellt werden. Diese setzt zunächst<lb/> eine gründliche Kenntniß und bewußte Handhabung der allgem ein en Gesetze<lb/> voraus, unter welchen die Mittel des künstlerischen Ausdrucks allein ihrem<lb/> Zweck entsprechend zur Anwendung gebracht werden können, der Logik und<lb/> Grammatik; denn auch die Ausdrucksweise der Musik, wieder bildenden<lb/> Kunst, wird zu einer organisirten Sprache, indem sie festen Gesetzen der<lb/> Logik und Grammatik folgt, wenn man diese auch nicht so zu benennen<lb/> gewohnt ist. Hierdurch ist zunächst der Maßstab gegeben, um zu beurtheilen,<lb/> was überhaupt möglich und nicht möglich, was absolut falsch oder</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 44"</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0353]
holte Vervielfältigung, zufällig oder absichtlich, mehr oder weniger entstellt
worden ist, in der Gestalt wiederherzustellen, wie es der Urheber abgefaßt hat.
Sie hat daher zunächst die Ueberlieferung zu prüfen und die Quelle, oder
die Quellen, zu ermitteln, aus welchen mit der größten Sicherheit die ursprüng¬
liche Gestalt entnommen werden kann. Wo es möglich ist die Urschrift des
Autors zu Rathe zu ziehen, bietet diese natürlich die sicherste Gewähr, doch auch
sie nicht überall unbedingte Gewißheit, denn selbst der sorgfältigste ist vor
Schreibfehlern und zufälligen Unachtsamkeiten nicht sicher, und es können sehr
wohl Verbesserungen, welche Willigkeit haben sollen, noch nach vollendeter Ur¬
schrift gemacht werden, die man nicht in derselben nachträgt. Abschriften
und Drucke, welche unter Aufsicht des Autors zu Stande gekommen sind, haben
daher, auch wenn die Urschrift vorliegt, eine selbständige, mitunter als die letzte
Revision des Urhebers eine überwiegende Bedeutung für die Kritik. Bei einem
musikalischen Kunstwerk behaupten Stimmen, welche für eine unter Leitung
des Komponisten vorgenommene Aufführung geschrieben sind, eine ähnliche
Stelle, weil sich mit Grund voraussetzen läßt, daß beim Gebrauche die etwa
eingeschlichenen zufälligen Versehen genau verbessert worden sind. Wenn nun
diese verschiedenen Mittel der Ueberlieferung zu gegenseitiger Controle voll¬
ständig vorliegen, so ist die Voraussetzung der durch zufälligen Irrthum ent¬
standenen Fehler auf möglichst enge Grenzen beschränkt. Allein es steht zu
erwarten, daß es dennoch nie ganz an solchen fehlen wird, und diese sind
dann auch gegen die übereinstimmende Tradition zu verbessern, um so
unbedenklicher, als dies meistens handgreifliche Versehen, und die Besserungen
zweifellos sein werden. Wenn aber diese Quellen von einander abweichen,
wenn entweder jede etwas Verschiedenes darbietet, oder einzelne, unter sich
übereinstimmend, anderen widersprechen, so kann eine Entscheidung zunächst
aus wesentlich äußerlichen Momenten erfolgen, z. B. wenn augenfällig
eine Lesart der Abschriften und Drucke nur in einem Mißverständniß der Züge
der Urschrift seinen Grund hat, oder wenn ein offenbares Flüchtigkeitsversehen
dieser in jenen verbessert worden ist. Allein in den meisten Fällen eines
Zwiespaltes in der Ueberlieferung kann das Urtheil über das, was richtig ist
nur durch Erörterung innerer Gründe festgestellt werden. Diese setzt zunächst
eine gründliche Kenntniß und bewußte Handhabung der allgem ein en Gesetze
voraus, unter welchen die Mittel des künstlerischen Ausdrucks allein ihrem
Zweck entsprechend zur Anwendung gebracht werden können, der Logik und
Grammatik; denn auch die Ausdrucksweise der Musik, wieder bildenden
Kunst, wird zu einer organisirten Sprache, indem sie festen Gesetzen der
Logik und Grammatik folgt, wenn man diese auch nicht so zu benennen
gewohnt ist. Hierdurch ist zunächst der Maßstab gegeben, um zu beurtheilen,
was überhaupt möglich und nicht möglich, was absolut falsch oder
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