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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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und von diesem Gesichtspunkt die Aspecten dieses Jahres für das übrige Europa
zu betrachten.

Außer Schleswig-Holstein sind es Polen, Italien, die Türkei, welche dem
Frieden Europas Gefahr drohen.

Ob der polnische Aufstand im Frühjahr noch einmal größere Verhältnisse
annehmen wird, ist sehr zweifelhaft. Er gilt bereits in den Augen vieler be¬
geisterter Polen für hoffnungslos, und er wird gegenwärtig auch von den
Mächten Europas fo betrachtet. Die Minorität, welche diese Art von Kampf
organisirt hat, ist zu klein und die verzweifelten Mittel, deren sie sich bedient
hat, sind zum Theil zu schlecht gewesen. Mordthaten, Raub und Brand haben
die Masse der Bevölkerung gegen die Jnsurrection ebenso wie gegen die russische
Negierung verstockt. Polen ist aus das Aeußerste erschöpft, wer dort noch etwas
zu verlieren hat, fordert Ruhe um jeden Preis. Selbst die Furcht vor den
Henkern der Nationalregierung vermag diesen Schrei nicht mehr zu unter¬
drücken.

Nußland hat für diesen Kampf die größten Anstrengungen gemacht, denn
die Gefahr traf diesen Staat in seiner schwächsten Stunde. Sie hat aber viel¬
leicht dazu beigetragen, die Schwierigkeiten, welche der Regierung in Nußland
selbst durch die Bauernfrage bereitet wurden, für die Gegenwart zu verringern.
Denn die furchtbare Gefahr hat für Rußland die Folge gehabt, daß eine
größere Energie in der Staatsleitung, geeignete Persönlichkeiten, ein zum Aeu-
ßersten entschlossener Wille herausgekommen sind, das Heer, welches seit dem
Krimkriege fast desorganisirt war, ist wiederhergestellt und ergänzt, das Volk
ist sich seines Russenthums bewußt worden. Rußland ist in der That jetzt weit
stärker, als es beim Beginn des polnischen Aufstandes war. Dennoch hat der
große Staat durch mehr als ein Menschenalter mit einem innern Siechthum
zu kämpfen, die Finanzen sind tief zerrüttet, die Emancipation der Bauern in
der That noch lange nicht durchgesetzt; die Anfänge einer Repräsentativverfassung
drohen der Regierung eine unabsehbare Reihe von neuen Schwierigkeiten zu
bereiten, deren größte in der sittlichen Corruption liegt, welche durch die Leib¬
eigenschaft in die Grundbesitzer, das Beamtenthum, das Heer gekommen ist.
Für Unternehmungen nach Außen ist Rußland in diesem Jahre keiner großen
Kraftentwicklung fähig. Jedermann weiß, daß es in Schleswig-Holstein sich
mit einem diplomatischen Protest begnügen müßte und daß auch dieser durch
die Rücksicht auf die befreundete preußische Regierung nicht nachdrücklich geltend
gemacht werden könnte. Schwerer - allerdings fällt das Gewicht in die Wag¬
schale, welches Nußland gegen die Türkei einzusetzen hat. Bereits ist in den
südwestlichen Provinzen Rußlands eine Armee aufgestellt, welche nicht nur gegen
die polnische Erhebung sichern soll, sondern auch bei einem Aufbrechen der tür¬
kischen Wunden verwandt werden kann.


und von diesem Gesichtspunkt die Aspecten dieses Jahres für das übrige Europa
zu betrachten.

Außer Schleswig-Holstein sind es Polen, Italien, die Türkei, welche dem
Frieden Europas Gefahr drohen.

Ob der polnische Aufstand im Frühjahr noch einmal größere Verhältnisse
annehmen wird, ist sehr zweifelhaft. Er gilt bereits in den Augen vieler be¬
geisterter Polen für hoffnungslos, und er wird gegenwärtig auch von den
Mächten Europas fo betrachtet. Die Minorität, welche diese Art von Kampf
organisirt hat, ist zu klein und die verzweifelten Mittel, deren sie sich bedient
hat, sind zum Theil zu schlecht gewesen. Mordthaten, Raub und Brand haben
die Masse der Bevölkerung gegen die Jnsurrection ebenso wie gegen die russische
Negierung verstockt. Polen ist aus das Aeußerste erschöpft, wer dort noch etwas
zu verlieren hat, fordert Ruhe um jeden Preis. Selbst die Furcht vor den
Henkern der Nationalregierung vermag diesen Schrei nicht mehr zu unter¬
drücken.

Nußland hat für diesen Kampf die größten Anstrengungen gemacht, denn
die Gefahr traf diesen Staat in seiner schwächsten Stunde. Sie hat aber viel¬
leicht dazu beigetragen, die Schwierigkeiten, welche der Regierung in Nußland
selbst durch die Bauernfrage bereitet wurden, für die Gegenwart zu verringern.
Denn die furchtbare Gefahr hat für Rußland die Folge gehabt, daß eine
größere Energie in der Staatsleitung, geeignete Persönlichkeiten, ein zum Aeu-
ßersten entschlossener Wille herausgekommen sind, das Heer, welches seit dem
Krimkriege fast desorganisirt war, ist wiederhergestellt und ergänzt, das Volk
ist sich seines Russenthums bewußt worden. Rußland ist in der That jetzt weit
stärker, als es beim Beginn des polnischen Aufstandes war. Dennoch hat der
große Staat durch mehr als ein Menschenalter mit einem innern Siechthum
zu kämpfen, die Finanzen sind tief zerrüttet, die Emancipation der Bauern in
der That noch lange nicht durchgesetzt; die Anfänge einer Repräsentativverfassung
drohen der Regierung eine unabsehbare Reihe von neuen Schwierigkeiten zu
bereiten, deren größte in der sittlichen Corruption liegt, welche durch die Leib¬
eigenschaft in die Grundbesitzer, das Beamtenthum, das Heer gekommen ist.
Für Unternehmungen nach Außen ist Rußland in diesem Jahre keiner großen
Kraftentwicklung fähig. Jedermann weiß, daß es in Schleswig-Holstein sich
mit einem diplomatischen Protest begnügen müßte und daß auch dieser durch
die Rücksicht auf die befreundete preußische Regierung nicht nachdrücklich geltend
gemacht werden könnte. Schwerer - allerdings fällt das Gewicht in die Wag¬
schale, welches Nußland gegen die Türkei einzusetzen hat. Bereits ist in den
südwestlichen Provinzen Rußlands eine Armee aufgestellt, welche nicht nur gegen
die polnische Erhebung sichern soll, sondern auch bei einem Aufbrechen der tür¬
kischen Wunden verwandt werden kann.


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[0292] und von diesem Gesichtspunkt die Aspecten dieses Jahres für das übrige Europa zu betrachten. Außer Schleswig-Holstein sind es Polen, Italien, die Türkei, welche dem Frieden Europas Gefahr drohen. Ob der polnische Aufstand im Frühjahr noch einmal größere Verhältnisse annehmen wird, ist sehr zweifelhaft. Er gilt bereits in den Augen vieler be¬ geisterter Polen für hoffnungslos, und er wird gegenwärtig auch von den Mächten Europas fo betrachtet. Die Minorität, welche diese Art von Kampf organisirt hat, ist zu klein und die verzweifelten Mittel, deren sie sich bedient hat, sind zum Theil zu schlecht gewesen. Mordthaten, Raub und Brand haben die Masse der Bevölkerung gegen die Jnsurrection ebenso wie gegen die russische Negierung verstockt. Polen ist aus das Aeußerste erschöpft, wer dort noch etwas zu verlieren hat, fordert Ruhe um jeden Preis. Selbst die Furcht vor den Henkern der Nationalregierung vermag diesen Schrei nicht mehr zu unter¬ drücken. Nußland hat für diesen Kampf die größten Anstrengungen gemacht, denn die Gefahr traf diesen Staat in seiner schwächsten Stunde. Sie hat aber viel¬ leicht dazu beigetragen, die Schwierigkeiten, welche der Regierung in Nußland selbst durch die Bauernfrage bereitet wurden, für die Gegenwart zu verringern. Denn die furchtbare Gefahr hat für Rußland die Folge gehabt, daß eine größere Energie in der Staatsleitung, geeignete Persönlichkeiten, ein zum Aeu- ßersten entschlossener Wille herausgekommen sind, das Heer, welches seit dem Krimkriege fast desorganisirt war, ist wiederhergestellt und ergänzt, das Volk ist sich seines Russenthums bewußt worden. Rußland ist in der That jetzt weit stärker, als es beim Beginn des polnischen Aufstandes war. Dennoch hat der große Staat durch mehr als ein Menschenalter mit einem innern Siechthum zu kämpfen, die Finanzen sind tief zerrüttet, die Emancipation der Bauern in der That noch lange nicht durchgesetzt; die Anfänge einer Repräsentativverfassung drohen der Regierung eine unabsehbare Reihe von neuen Schwierigkeiten zu bereiten, deren größte in der sittlichen Corruption liegt, welche durch die Leib¬ eigenschaft in die Grundbesitzer, das Beamtenthum, das Heer gekommen ist. Für Unternehmungen nach Außen ist Rußland in diesem Jahre keiner großen Kraftentwicklung fähig. Jedermann weiß, daß es in Schleswig-Holstein sich mit einem diplomatischen Protest begnügen müßte und daß auch dieser durch die Rücksicht auf die befreundete preußische Regierung nicht nachdrücklich geltend gemacht werden könnte. Schwerer - allerdings fällt das Gewicht in die Wag¬ schale, welches Nußland gegen die Türkei einzusetzen hat. Bereits ist in den südwestlichen Provinzen Rußlands eine Armee aufgestellt, welche nicht nur gegen die polnische Erhebung sichern soll, sondern auch bei einem Aufbrechen der tür¬ kischen Wunden verwandt werden kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/292>, abgerufen am 24.07.2024.