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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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liberalen Studien, sich auf einen immer kleinern Kreis zusammenschließend,
ausschließliches Eigenthum der für den Beamten- und Gelehrtenstand erzogenen
Fachmänner. Wie die wissenschaftlichen Entdeckungen verloren gingen, zeigt
folgendes Beispiel. 168 v. Chr. schon hatte ein Römer eine Mondfinsterniß
berechnet und das Heer von der Furcht davor befreit, dennoch war im Jahr
14 n. Chr. eine Mondfinsterniß für drei aus römischen Bürgern bestehende
Legionen ein unerklärliches und furchterregendes Ereigniß.

Das eigentliche Princip der harmonischen Erziehung der Griechen ist bei
den Römern niemals völlig zur Anerkennung gelangt. Gymnastik, Musik und
Orchesiik der Griechen lernten jene erst kennen, als nach dem Untergang
der hellenischen Freiheit diese Künsteaus deren Uebung die alte Zeit die ge¬
deihliche Entwickelung des Staates gegründet hatte, zur bloßen Gewohnheits¬
sache geworden waren und nur noch der Unterhaltung wegen betrieben wurden.
Die griechische Gymnastik hatte ihre Blüthe hinter sich, sie neigte zu athletischen
Künsten und zu sittlicher Zügellosigkeit hin. Die Römer ließen sich die Ath¬
leten gefallen, wie sie sich Schauspieler gefallen ließen; ihre Kinder aber in
die Ringschule zu schicken, kam ihnen, soweit sie noch auf alte Ehrbarkeit und
guten Ruf hielten, nicht in den Sinn, und zwar schon wegen der für das
römische Gefühl unanständigen Nacktheit der sich übenden Turner und wegen
der in den Palästren herrschenden Laster. Nicht viel anders verhielt sichs mit
der Musik und der Tanzkunst. Die erste gelangte allerdings zu einer gewissen
Geltung im Cultus, seitdem der durch die sibyllinischen Bücher eingeführte
"griechische Ritus" bei den Apollofesten und den Supplicationen die vornehme
Jugend nöthigte, sich an d^r Ausführung der Gesänge zu betheiligen, womit
vermuthlich zusammenhängt, daß seit dem zweiten punischen Kriege auch an¬
ständige Jünglinge und Jungfrauen Gesang- und Tanzunterricht nahmen. Spä¬
ter erhielt wenigstens die Musik ihre Stelle unter den Gegenständen der fei¬
neren Erziehung. Allein beides, Gesang wie Tanz, ist niemals ein wesent¬
liches und wirksames Bildungsmittel in Rom geworden. Es galt ebenfalls
für eine Unterhaltung, an der man sich zuschauend oder zuhörend erfreute, an
der sich aber activ zu betheiligen seine Bedenken hatte. Kaiser Alexander
Severus noch "sang vortrefflich, doch nur vor seinen Kindern. Er spielte die
Leier, die Flöte, die Wasserorgel, auch die Trompete blies er, was er indeß
niemals zeigte." Während Sokrates bei Xenophon den Tanz lobt und sich
rühmt, als alter Mann noch an ihm Freude zu haben, galt die salttrtio den
Römern als "mmistra, voluMtis", und Cicero sagt: "Beinahe niemand tanzt
nüchtern, er müßte denn stark von Sinnen sein."

Die häusliche Erziehung wurde der Jugend schon am Ende der republi¬
kanischen Zeit, wo alle sittlichen Bande sich immer mehr lösten, ebenso verderb¬
lich als sie bis dahin förderlich gewesen war. Aber die griechische Bonne und


liberalen Studien, sich auf einen immer kleinern Kreis zusammenschließend,
ausschließliches Eigenthum der für den Beamten- und Gelehrtenstand erzogenen
Fachmänner. Wie die wissenschaftlichen Entdeckungen verloren gingen, zeigt
folgendes Beispiel. 168 v. Chr. schon hatte ein Römer eine Mondfinsterniß
berechnet und das Heer von der Furcht davor befreit, dennoch war im Jahr
14 n. Chr. eine Mondfinsterniß für drei aus römischen Bürgern bestehende
Legionen ein unerklärliches und furchterregendes Ereigniß.

Das eigentliche Princip der harmonischen Erziehung der Griechen ist bei
den Römern niemals völlig zur Anerkennung gelangt. Gymnastik, Musik und
Orchesiik der Griechen lernten jene erst kennen, als nach dem Untergang
der hellenischen Freiheit diese Künsteaus deren Uebung die alte Zeit die ge¬
deihliche Entwickelung des Staates gegründet hatte, zur bloßen Gewohnheits¬
sache geworden waren und nur noch der Unterhaltung wegen betrieben wurden.
Die griechische Gymnastik hatte ihre Blüthe hinter sich, sie neigte zu athletischen
Künsten und zu sittlicher Zügellosigkeit hin. Die Römer ließen sich die Ath¬
leten gefallen, wie sie sich Schauspieler gefallen ließen; ihre Kinder aber in
die Ringschule zu schicken, kam ihnen, soweit sie noch auf alte Ehrbarkeit und
guten Ruf hielten, nicht in den Sinn, und zwar schon wegen der für das
römische Gefühl unanständigen Nacktheit der sich übenden Turner und wegen
der in den Palästren herrschenden Laster. Nicht viel anders verhielt sichs mit
der Musik und der Tanzkunst. Die erste gelangte allerdings zu einer gewissen
Geltung im Cultus, seitdem der durch die sibyllinischen Bücher eingeführte
„griechische Ritus" bei den Apollofesten und den Supplicationen die vornehme
Jugend nöthigte, sich an d^r Ausführung der Gesänge zu betheiligen, womit
vermuthlich zusammenhängt, daß seit dem zweiten punischen Kriege auch an¬
ständige Jünglinge und Jungfrauen Gesang- und Tanzunterricht nahmen. Spä¬
ter erhielt wenigstens die Musik ihre Stelle unter den Gegenständen der fei¬
neren Erziehung. Allein beides, Gesang wie Tanz, ist niemals ein wesent¬
liches und wirksames Bildungsmittel in Rom geworden. Es galt ebenfalls
für eine Unterhaltung, an der man sich zuschauend oder zuhörend erfreute, an
der sich aber activ zu betheiligen seine Bedenken hatte. Kaiser Alexander
Severus noch „sang vortrefflich, doch nur vor seinen Kindern. Er spielte die
Leier, die Flöte, die Wasserorgel, auch die Trompete blies er, was er indeß
niemals zeigte." Während Sokrates bei Xenophon den Tanz lobt und sich
rühmt, als alter Mann noch an ihm Freude zu haben, galt die salttrtio den
Römern als „mmistra, voluMtis", und Cicero sagt: „Beinahe niemand tanzt
nüchtern, er müßte denn stark von Sinnen sein."

Die häusliche Erziehung wurde der Jugend schon am Ende der republi¬
kanischen Zeit, wo alle sittlichen Bande sich immer mehr lösten, ebenso verderb¬
lich als sie bis dahin förderlich gewesen war. Aber die griechische Bonne und


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[0164] liberalen Studien, sich auf einen immer kleinern Kreis zusammenschließend, ausschließliches Eigenthum der für den Beamten- und Gelehrtenstand erzogenen Fachmänner. Wie die wissenschaftlichen Entdeckungen verloren gingen, zeigt folgendes Beispiel. 168 v. Chr. schon hatte ein Römer eine Mondfinsterniß berechnet und das Heer von der Furcht davor befreit, dennoch war im Jahr 14 n. Chr. eine Mondfinsterniß für drei aus römischen Bürgern bestehende Legionen ein unerklärliches und furchterregendes Ereigniß. Das eigentliche Princip der harmonischen Erziehung der Griechen ist bei den Römern niemals völlig zur Anerkennung gelangt. Gymnastik, Musik und Orchesiik der Griechen lernten jene erst kennen, als nach dem Untergang der hellenischen Freiheit diese Künsteaus deren Uebung die alte Zeit die ge¬ deihliche Entwickelung des Staates gegründet hatte, zur bloßen Gewohnheits¬ sache geworden waren und nur noch der Unterhaltung wegen betrieben wurden. Die griechische Gymnastik hatte ihre Blüthe hinter sich, sie neigte zu athletischen Künsten und zu sittlicher Zügellosigkeit hin. Die Römer ließen sich die Ath¬ leten gefallen, wie sie sich Schauspieler gefallen ließen; ihre Kinder aber in die Ringschule zu schicken, kam ihnen, soweit sie noch auf alte Ehrbarkeit und guten Ruf hielten, nicht in den Sinn, und zwar schon wegen der für das römische Gefühl unanständigen Nacktheit der sich übenden Turner und wegen der in den Palästren herrschenden Laster. Nicht viel anders verhielt sichs mit der Musik und der Tanzkunst. Die erste gelangte allerdings zu einer gewissen Geltung im Cultus, seitdem der durch die sibyllinischen Bücher eingeführte „griechische Ritus" bei den Apollofesten und den Supplicationen die vornehme Jugend nöthigte, sich an d^r Ausführung der Gesänge zu betheiligen, womit vermuthlich zusammenhängt, daß seit dem zweiten punischen Kriege auch an¬ ständige Jünglinge und Jungfrauen Gesang- und Tanzunterricht nahmen. Spä¬ ter erhielt wenigstens die Musik ihre Stelle unter den Gegenständen der fei¬ neren Erziehung. Allein beides, Gesang wie Tanz, ist niemals ein wesent¬ liches und wirksames Bildungsmittel in Rom geworden. Es galt ebenfalls für eine Unterhaltung, an der man sich zuschauend oder zuhörend erfreute, an der sich aber activ zu betheiligen seine Bedenken hatte. Kaiser Alexander Severus noch „sang vortrefflich, doch nur vor seinen Kindern. Er spielte die Leier, die Flöte, die Wasserorgel, auch die Trompete blies er, was er indeß niemals zeigte." Während Sokrates bei Xenophon den Tanz lobt und sich rühmt, als alter Mann noch an ihm Freude zu haben, galt die salttrtio den Römern als „mmistra, voluMtis", und Cicero sagt: „Beinahe niemand tanzt nüchtern, er müßte denn stark von Sinnen sein." Die häusliche Erziehung wurde der Jugend schon am Ende der republi¬ kanischen Zeit, wo alle sittlichen Bande sich immer mehr lösten, ebenso verderb¬ lich als sie bis dahin förderlich gewesen war. Aber die griechische Bonne und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/164>, abgerufen am 24.07.2024.