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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band.

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Scene, in welcher Northumberland den Häuptern des Aufstandes seinen Ent-
schluß sich zurückzuhalten verkündet und die sodann nach seinem Abschied sich be-
rathen.

Daß irgend ein Bedürfniß für diese Zusätze vorhanden, muß ich ganz-
lich in Abrede stellen. Aber gesetzt, nicht zugegeben, in der shakespearischer
Darstellung bliebe eine kleine Lücke, und eine gewisse Unzulänglichkeit der
Motivirung könnte entdeckt werden: wahrhaftig das Heilmittel wäre Schlum-
mer als das Uebel, Dingelstedt ist ein dichterisches Gemüth und ein Mann
von geläutertem Geschmack: seine Zusätze sind in edlem und würdigem Stile
gehalten. Aber ihm so wenig als irgend einem andern kann das Recht
zugestanden werden, einem Dichter wie Shakespeare Motive, ganze Reden, aus¬
gearbeitete Scenen zu octroyiren, an die derselbe nicht gedacht hat. Das
würde in der That gegen die ehrfurchtsvolle Pietät verstoßen, die wir einem
Genius wie Shakespeare schuldig sind. Und was sollte gar werden, wenn we¬
niger feinsinnige Dramaturgen, als Dingelstedt ist. wenn das servum pecms
iwitAtorum ihm auf dem betretenen Weg nachzufolgen sich erkühnte? Wenn
der eine es für nöthig fände, hier einen herzrührenden Auftritt s. ig, Kotzebue
und Jffland, der andere eine Effeclscene im Geschmack Victor Hugos "hinzu¬
zudichten?" Möchte Dingelstedt für dergleichen Auswüchse, die sein Beispiel
etwa hervorgerufen, die Mitverantwortlichkeit übernehmen? Mit derselben Ent¬
schiedenheit, mit welcher ich die Verdienste Dingelstedts, die er sich durch seine
Bearbeitung und Jnscenesetzung dieser shakespeareschen Historien erworben, an¬
erkenne -- mit derselben Entschiedenheit muß ich gegen derartige Veränderungen
in den Werken des größten Dramatikers aller Zeiten, wie hiermit geschieht,
Verwahrung einlegen. Gewiß wird Dingelstedt bei nochmaliger Berathung mit
sich selbst dieser Vorstellung Folge zu geben sich gedrungen finden.

Auch in Heinrich dem Fünften haben sehr durchgreifende Aenderungen statt¬
gefunden. Durch Wegfall der ersten Scene geht ein Moment verloren, wel¬
ches zu dem französischen Krieg mächtig mitgewirkt hat, der Umstand nämlich,
daß die Geistlichkeit, welche so gelehrt Heinrichs Rechte auf den französischen
Thron begründet, dabei das kleine Nebeninteresse hat, daß sie durch einen
Krieg von einer ihr drohenden sehr harten Auflage befreit zu werden hofft.
Aber noch viel freier ist das Folgende behandelt und die verschiedenen Aufzüge
durcheinandergemischt: ich kann es nicht in das Einzelne verfolgen, sondern
führe nur ein paar Beispiele an. So ist der ganz umgearbeitete Abschied Pistols
aus dem zweiten in den ersten Act verlegt, ein Theil des vom Chorus Ge¬
sprochenen dem Burschen in den Mund gelegt, die Belagerung von Harfleur
gestrichen, dagegen die Gesandtenscene am französischen Hof wesentlich erwei¬
tert. Die sechste Scene des dritten Acts zwischen Pistol und Fluellen ist in
den zweiten versetzt, und das Urtheil des Königs über Bardolph und ähnliches


Scene, in welcher Northumberland den Häuptern des Aufstandes seinen Ent-
schluß sich zurückzuhalten verkündet und die sodann nach seinem Abschied sich be-
rathen.

Daß irgend ein Bedürfniß für diese Zusätze vorhanden, muß ich ganz-
lich in Abrede stellen. Aber gesetzt, nicht zugegeben, in der shakespearischer
Darstellung bliebe eine kleine Lücke, und eine gewisse Unzulänglichkeit der
Motivirung könnte entdeckt werden: wahrhaftig das Heilmittel wäre Schlum-
mer als das Uebel, Dingelstedt ist ein dichterisches Gemüth und ein Mann
von geläutertem Geschmack: seine Zusätze sind in edlem und würdigem Stile
gehalten. Aber ihm so wenig als irgend einem andern kann das Recht
zugestanden werden, einem Dichter wie Shakespeare Motive, ganze Reden, aus¬
gearbeitete Scenen zu octroyiren, an die derselbe nicht gedacht hat. Das
würde in der That gegen die ehrfurchtsvolle Pietät verstoßen, die wir einem
Genius wie Shakespeare schuldig sind. Und was sollte gar werden, wenn we¬
niger feinsinnige Dramaturgen, als Dingelstedt ist. wenn das servum pecms
iwitAtorum ihm auf dem betretenen Weg nachzufolgen sich erkühnte? Wenn
der eine es für nöthig fände, hier einen herzrührenden Auftritt s. ig, Kotzebue
und Jffland, der andere eine Effeclscene im Geschmack Victor Hugos „hinzu¬
zudichten?" Möchte Dingelstedt für dergleichen Auswüchse, die sein Beispiel
etwa hervorgerufen, die Mitverantwortlichkeit übernehmen? Mit derselben Ent¬
schiedenheit, mit welcher ich die Verdienste Dingelstedts, die er sich durch seine
Bearbeitung und Jnscenesetzung dieser shakespeareschen Historien erworben, an¬
erkenne — mit derselben Entschiedenheit muß ich gegen derartige Veränderungen
in den Werken des größten Dramatikers aller Zeiten, wie hiermit geschieht,
Verwahrung einlegen. Gewiß wird Dingelstedt bei nochmaliger Berathung mit
sich selbst dieser Vorstellung Folge zu geben sich gedrungen finden.

Auch in Heinrich dem Fünften haben sehr durchgreifende Aenderungen statt¬
gefunden. Durch Wegfall der ersten Scene geht ein Moment verloren, wel¬
ches zu dem französischen Krieg mächtig mitgewirkt hat, der Umstand nämlich,
daß die Geistlichkeit, welche so gelehrt Heinrichs Rechte auf den französischen
Thron begründet, dabei das kleine Nebeninteresse hat, daß sie durch einen
Krieg von einer ihr drohenden sehr harten Auflage befreit zu werden hofft.
Aber noch viel freier ist das Folgende behandelt und die verschiedenen Aufzüge
durcheinandergemischt: ich kann es nicht in das Einzelne verfolgen, sondern
führe nur ein paar Beispiele an. So ist der ganz umgearbeitete Abschied Pistols
aus dem zweiten in den ersten Act verlegt, ein Theil des vom Chorus Ge¬
sprochenen dem Burschen in den Mund gelegt, die Belagerung von Harfleur
gestrichen, dagegen die Gesandtenscene am französischen Hof wesentlich erwei¬
tert. Die sechste Scene des dritten Acts zwischen Pistol und Fluellen ist in
den zweiten versetzt, und das Urtheil des Königs über Bardolph und ähnliches


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[0110] Scene, in welcher Northumberland den Häuptern des Aufstandes seinen Ent- schluß sich zurückzuhalten verkündet und die sodann nach seinem Abschied sich be- rathen. Daß irgend ein Bedürfniß für diese Zusätze vorhanden, muß ich ganz- lich in Abrede stellen. Aber gesetzt, nicht zugegeben, in der shakespearischer Darstellung bliebe eine kleine Lücke, und eine gewisse Unzulänglichkeit der Motivirung könnte entdeckt werden: wahrhaftig das Heilmittel wäre Schlum- mer als das Uebel, Dingelstedt ist ein dichterisches Gemüth und ein Mann von geläutertem Geschmack: seine Zusätze sind in edlem und würdigem Stile gehalten. Aber ihm so wenig als irgend einem andern kann das Recht zugestanden werden, einem Dichter wie Shakespeare Motive, ganze Reden, aus¬ gearbeitete Scenen zu octroyiren, an die derselbe nicht gedacht hat. Das würde in der That gegen die ehrfurchtsvolle Pietät verstoßen, die wir einem Genius wie Shakespeare schuldig sind. Und was sollte gar werden, wenn we¬ niger feinsinnige Dramaturgen, als Dingelstedt ist. wenn das servum pecms iwitAtorum ihm auf dem betretenen Weg nachzufolgen sich erkühnte? Wenn der eine es für nöthig fände, hier einen herzrührenden Auftritt s. ig, Kotzebue und Jffland, der andere eine Effeclscene im Geschmack Victor Hugos „hinzu¬ zudichten?" Möchte Dingelstedt für dergleichen Auswüchse, die sein Beispiel etwa hervorgerufen, die Mitverantwortlichkeit übernehmen? Mit derselben Ent¬ schiedenheit, mit welcher ich die Verdienste Dingelstedts, die er sich durch seine Bearbeitung und Jnscenesetzung dieser shakespeareschen Historien erworben, an¬ erkenne — mit derselben Entschiedenheit muß ich gegen derartige Veränderungen in den Werken des größten Dramatikers aller Zeiten, wie hiermit geschieht, Verwahrung einlegen. Gewiß wird Dingelstedt bei nochmaliger Berathung mit sich selbst dieser Vorstellung Folge zu geben sich gedrungen finden. Auch in Heinrich dem Fünften haben sehr durchgreifende Aenderungen statt¬ gefunden. Durch Wegfall der ersten Scene geht ein Moment verloren, wel¬ ches zu dem französischen Krieg mächtig mitgewirkt hat, der Umstand nämlich, daß die Geistlichkeit, welche so gelehrt Heinrichs Rechte auf den französischen Thron begründet, dabei das kleine Nebeninteresse hat, daß sie durch einen Krieg von einer ihr drohenden sehr harten Auflage befreit zu werden hofft. Aber noch viel freier ist das Folgende behandelt und die verschiedenen Aufzüge durcheinandergemischt: ich kann es nicht in das Einzelne verfolgen, sondern führe nur ein paar Beispiele an. So ist der ganz umgearbeitete Abschied Pistols aus dem zweiten in den ersten Act verlegt, ein Theil des vom Chorus Ge¬ sprochenen dem Burschen in den Mund gelegt, die Belagerung von Harfleur gestrichen, dagegen die Gesandtenscene am französischen Hof wesentlich erwei¬ tert. Die sechste Scene des dritten Acts zwischen Pistol und Fluellen ist in den zweiten versetzt, und das Urtheil des Königs über Bardolph und ähnliches

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_116464/110>, abgerufen am 24.07.2024.