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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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und daß eine Bewegung, eine Entwickelung der östreichischen Politik nur auf
dem Gebiete der europäischen Fragen stattgefunden hat. Auf diesem Gebiete
hat Metternich in dem ersten Jahrzehent der heiligen Allianz in der That
glänzende Resultate erreicht. Man mag von einem höheren Standpunkte aus
das ganze System seiner Politik tadeln, seine Doctrin von dem Gleichgewicht
der Mächte für eine Abstraction, sein Princip der Solidarität der conservativen
Interessen für ein verderbliches Hirngespinnst halten: Eins muß man zugestehen,
daß seine Politik aufs glücklichste das Friedensbcdürfniß Oestreichs mit dem
Streben nach Machtentwicklung zu vereinigen wußte. So weit die Wirksamkeit
diplomatischer Virtuosität reichte, ist diese Politik auch mit dem glänzendsten
Erfolg durchgeführt worden. Die Schwäche der Politik lag darin, daß eben
jene oben erwähnten Grundlagen derselben das Product einer willkürlichen
Voraussetzung waren und der Natur der Dinge widersprachen, daß die wirk¬
lichen Interessen der Staaten mächtiger waren als die vermeintlichen Interessen
einer contrerevolutionären Doctrin, und daß das System des Gleichgewichts
durch ausschließlich diplomatische Mittel nur so lange aufrecht erhalten werden
konnte, als es von keiner Seite mit schärferen Waffen als denen der diploma¬
tischen Gegenwirkung bedroht wurde. Der griechische Aufstand und die türkisch¬
russische Verwickelung offenbarte die Ohnmacht einer Vcrmittelungspolitik, die
entschlossen ist, jeden kriegerischen Conflict zu vermeiden. Alle Fehler, die
Metternich in dieser Angelegenheit beging, indem ihren Grund darin, daß er
sein Verfahren so einrichtete, als ob der Gegner gezwungen sei, seine diplo¬
matischen Schachzüge Schritt um Schutt zu erwidern. Er bedachte nicht, daß
Nußland seine Künste von dem Augenblick an verachten konnte, wo es zum be¬
waffneten Angriff gegen die Türkei entschlossen und zugleich überzeugt war,
daß Oestreich unter allen Umständen das Schwert in der Scheide lassen
würde.

Wohl hatte Metternich alle Ursache, im Hinblick auf die inneren Verhält¬
nisse einen Krieg zu scheuen. Um so schwerer wiegt der Vorwurf, daß er,
nicht aus Mangel an Einsicht, sondern aus Charakterschwäche, wie Schmidt
überzeugend nachgewiesen hat, vor jedem Versuch zurückscheute, Leben in die
träge sich fortschleppende Masse des östreichischen Staatskörpers zu bringen,
eine Aufgabe, die, je drohender sich die europäischen Verhältnisse verwickelten,
zwar um so schwieriger, aber auch um so nothwendiger wurde. Die türkische
Frage hatte die heilige Allianz erschüttert; die Julirevolution kittete sie nur
nothdürftig und vorübergehend wieder zusammen. Die Demonstration von
Münchengrätz constatirte nur das von da an unbestrittene Uebergewicht des
Kaisers Nikolaus über Preußen und Oestreich, konnte aber im Uebrigen nur
dazu dienen, den Gegnern jede Furcht vor einem kräftigen Auftreten der con¬
servativen Mächte zu benehmen. Schlimmer noch, als das Zurückweichen in


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und daß eine Bewegung, eine Entwickelung der östreichischen Politik nur auf
dem Gebiete der europäischen Fragen stattgefunden hat. Auf diesem Gebiete
hat Metternich in dem ersten Jahrzehent der heiligen Allianz in der That
glänzende Resultate erreicht. Man mag von einem höheren Standpunkte aus
das ganze System seiner Politik tadeln, seine Doctrin von dem Gleichgewicht
der Mächte für eine Abstraction, sein Princip der Solidarität der conservativen
Interessen für ein verderbliches Hirngespinnst halten: Eins muß man zugestehen,
daß seine Politik aufs glücklichste das Friedensbcdürfniß Oestreichs mit dem
Streben nach Machtentwicklung zu vereinigen wußte. So weit die Wirksamkeit
diplomatischer Virtuosität reichte, ist diese Politik auch mit dem glänzendsten
Erfolg durchgeführt worden. Die Schwäche der Politik lag darin, daß eben
jene oben erwähnten Grundlagen derselben das Product einer willkürlichen
Voraussetzung waren und der Natur der Dinge widersprachen, daß die wirk¬
lichen Interessen der Staaten mächtiger waren als die vermeintlichen Interessen
einer contrerevolutionären Doctrin, und daß das System des Gleichgewichts
durch ausschließlich diplomatische Mittel nur so lange aufrecht erhalten werden
konnte, als es von keiner Seite mit schärferen Waffen als denen der diploma¬
tischen Gegenwirkung bedroht wurde. Der griechische Aufstand und die türkisch¬
russische Verwickelung offenbarte die Ohnmacht einer Vcrmittelungspolitik, die
entschlossen ist, jeden kriegerischen Conflict zu vermeiden. Alle Fehler, die
Metternich in dieser Angelegenheit beging, indem ihren Grund darin, daß er
sein Verfahren so einrichtete, als ob der Gegner gezwungen sei, seine diplo¬
matischen Schachzüge Schritt um Schutt zu erwidern. Er bedachte nicht, daß
Nußland seine Künste von dem Augenblick an verachten konnte, wo es zum be¬
waffneten Angriff gegen die Türkei entschlossen und zugleich überzeugt war,
daß Oestreich unter allen Umständen das Schwert in der Scheide lassen
würde.

Wohl hatte Metternich alle Ursache, im Hinblick auf die inneren Verhält¬
nisse einen Krieg zu scheuen. Um so schwerer wiegt der Vorwurf, daß er,
nicht aus Mangel an Einsicht, sondern aus Charakterschwäche, wie Schmidt
überzeugend nachgewiesen hat, vor jedem Versuch zurückscheute, Leben in die
träge sich fortschleppende Masse des östreichischen Staatskörpers zu bringen,
eine Aufgabe, die, je drohender sich die europäischen Verhältnisse verwickelten,
zwar um so schwieriger, aber auch um so nothwendiger wurde. Die türkische
Frage hatte die heilige Allianz erschüttert; die Julirevolution kittete sie nur
nothdürftig und vorübergehend wieder zusammen. Die Demonstration von
Münchengrätz constatirte nur das von da an unbestrittene Uebergewicht des
Kaisers Nikolaus über Preußen und Oestreich, konnte aber im Uebrigen nur
dazu dienen, den Gegnern jede Furcht vor einem kräftigen Auftreten der con¬
servativen Mächte zu benehmen. Schlimmer noch, als das Zurückweichen in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/495>, abgerufen am 27.09.2024.