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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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vollen zwei Jahre Ablichtung bedürfen. Andrerseits aber wird die Turner¬
schaft, einen allgemeinen deutsche" Schützenverein zur Rechten, einen solchen
Sängerverein zur Linken, uns einst für den Frieden Nationalspiele geben kön¬
nen, die Alles, was das Alterthum von derartigen öffentlichen Festlichkeiten sah,
und ebenso alle Turniere und Schießfeste des Mittelalters an Glanz, Reich¬
thum und begeisternder Wirkung auf die Seele des Volkes weit hinter sich lassen
werden. Was bis jetzt in dieser Hinsicht versucht wurde, waren bloße Anfänge,
aber wie mächtig wirkten schon diese Anfänge aus die Gemüther!

Indem wir nun einen Ueberblick über die Geschichte und den gegenwärtigen
Stand der Turnerei in Deutschland geben*) senden wir nur noch die Bemerkung
voraus, daß die Kunst Jahns in dem letzten Vierteljahrhundert sich nicht nur
außerordentlich verbreitet, sondern auch ihre Qualität wesentlich gebessert und
sich namentlich mancherlei Unarten und Geschmacklosigkeiten, die ihr zu Anfang
anhingen, bis auf geringe hier und da noch sichtbare Neste abgewöhnt hat.
Die gemüthliche Konfusion, die manierirte Bidcrbhcit, die vierschrötige Deutsch-
thümelei, mit der sie in den zwanziger Jahren alle Leute von Lebensart ab¬
stieß, ist so ziemlich ganz von den Turnplätzen gewichen. Praktischen Sinns
hält man sich an den Kern der Sache, und wo irgend ein guter Junge etwa
noch Neigung zeigt, die Thorheiten des Alten im Bart zu copiren, wird er nur
zur lächerlichen Figur.

Mit der Unterdrückung aller patriotischen Bestrebungen, welche im Gefolge
der Freiheitskriege aufgetreten, siel auch die Turnerei. 1818 schloß die Hand
der Reaction die Turnplätze zu Liegnitz und Breslau, 1819 hob der Geist der
karlsbader Beschlüsse alle noch offen gebliebenen in Preußen auf, ein Jahr dar¬
auf hieß derselbe böse Geist die Turner von Frankfurt a. M. auseinander-
gehen, 1824 Verbot des Turnens in Jena, 1825 in Leipzig. Nur an wenigen
Orten herrschte eine mildere Praxis gegen die Hochverrätherische Kunst. So
auffallender Weise in Mecklenburg, so in dem seit lange schon mit Verstand
und Wohlwollen regierten Oldenburg, so in Braunschweig, Hamburg und Lü¬
beck. Auch wurden in Schnepfenthal und Berlin, hier durch Eiselen, in Stutt¬
gart und München, hier unter Leitung Maßmanus, noch Leibesübungen be¬
trieben. Doch durfte man das Kind nicht mehr beim rechten Namen nennen.
Löbliche Polizei gestattete nur die Bezeichnung "Gymnastik", unter welcher
Firma (um keinen der Reste, welche das Diluvium überdauert, unerwähnt zu



") Wir folgen dabei auszugsweise der von uns kurz schon angezeigten Schrift: "sta-
tistisches Handbuch der Turnvereine Deutschlands von Georg Hirth". welche,
im Austrage des Ausschusses dieser Vereine geschrieben, in Leipzig bei Ernst Keil erschienen
ist. und die auf 302 enggedrucktcn Seiten den Gegenstand in wünschenswerthester Vollständig,
keit und Ueberstchtlichkeit darstellt.

vollen zwei Jahre Ablichtung bedürfen. Andrerseits aber wird die Turner¬
schaft, einen allgemeinen deutsche» Schützenverein zur Rechten, einen solchen
Sängerverein zur Linken, uns einst für den Frieden Nationalspiele geben kön¬
nen, die Alles, was das Alterthum von derartigen öffentlichen Festlichkeiten sah,
und ebenso alle Turniere und Schießfeste des Mittelalters an Glanz, Reich¬
thum und begeisternder Wirkung auf die Seele des Volkes weit hinter sich lassen
werden. Was bis jetzt in dieser Hinsicht versucht wurde, waren bloße Anfänge,
aber wie mächtig wirkten schon diese Anfänge aus die Gemüther!

Indem wir nun einen Ueberblick über die Geschichte und den gegenwärtigen
Stand der Turnerei in Deutschland geben*) senden wir nur noch die Bemerkung
voraus, daß die Kunst Jahns in dem letzten Vierteljahrhundert sich nicht nur
außerordentlich verbreitet, sondern auch ihre Qualität wesentlich gebessert und
sich namentlich mancherlei Unarten und Geschmacklosigkeiten, die ihr zu Anfang
anhingen, bis auf geringe hier und da noch sichtbare Neste abgewöhnt hat.
Die gemüthliche Konfusion, die manierirte Bidcrbhcit, die vierschrötige Deutsch-
thümelei, mit der sie in den zwanziger Jahren alle Leute von Lebensart ab¬
stieß, ist so ziemlich ganz von den Turnplätzen gewichen. Praktischen Sinns
hält man sich an den Kern der Sache, und wo irgend ein guter Junge etwa
noch Neigung zeigt, die Thorheiten des Alten im Bart zu copiren, wird er nur
zur lächerlichen Figur.

Mit der Unterdrückung aller patriotischen Bestrebungen, welche im Gefolge
der Freiheitskriege aufgetreten, siel auch die Turnerei. 1818 schloß die Hand
der Reaction die Turnplätze zu Liegnitz und Breslau, 1819 hob der Geist der
karlsbader Beschlüsse alle noch offen gebliebenen in Preußen auf, ein Jahr dar¬
auf hieß derselbe böse Geist die Turner von Frankfurt a. M. auseinander-
gehen, 1824 Verbot des Turnens in Jena, 1825 in Leipzig. Nur an wenigen
Orten herrschte eine mildere Praxis gegen die Hochverrätherische Kunst. So
auffallender Weise in Mecklenburg, so in dem seit lange schon mit Verstand
und Wohlwollen regierten Oldenburg, so in Braunschweig, Hamburg und Lü¬
beck. Auch wurden in Schnepfenthal und Berlin, hier durch Eiselen, in Stutt¬
gart und München, hier unter Leitung Maßmanus, noch Leibesübungen be¬
trieben. Doch durfte man das Kind nicht mehr beim rechten Namen nennen.
Löbliche Polizei gestattete nur die Bezeichnung „Gymnastik", unter welcher
Firma (um keinen der Reste, welche das Diluvium überdauert, unerwähnt zu



") Wir folgen dabei auszugsweise der von uns kurz schon angezeigten Schrift: „sta-
tistisches Handbuch der Turnvereine Deutschlands von Georg Hirth". welche,
im Austrage des Ausschusses dieser Vereine geschrieben, in Leipzig bei Ernst Keil erschienen
ist. und die auf 302 enggedrucktcn Seiten den Gegenstand in wünschenswerthester Vollständig,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/458>, abgerufen am 27.09.2024.