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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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ländlicher Idylle urplötzlich über den fünf bis sechs Stockwerke hohen städtischen
Wohnhäusern, die den Anspruch machen, Palastarchitektur zu sein, ist von rüh¬
render Naivetät. Seitdem die liebenswürdige Naturalistik der ländlichen Bau¬
art an den niedrigen Wohnhäusern, Scheunen und Ställen der Landleute, welchen
sie so vortrefflich anstand, leider immer mehr verschwindet, scheint sie sich in die
Stadt zu flüchten, wo sie von dem neuen Stile mit dem gewohnten UnVer¬
ständniß als willkommene Bereicherung für sein Formendurcheinander aufge¬
nommen wird. Auch geradezu entgegengesetzte Bauweisen in die unnatür¬
lichste Verbindung zu bringen, scheut sich diese Architektur nicht. Doch sollte
wenigstens die Baupolizei ein Einsehen haben und diese leicht Feuer fangenden
und fortpflanzenden Dachkränze um so weniger dulden, als an ihnen eine
schlimme Erfahrung in derselben Straße schon einmal gemacht worden. --

Genug und schon zu viel; gälte es, den Gegenstand zu erschöpfen, so würde
man kein Ende finden. Wollten wir noch nach der praktischen Zweckmäßigkeit
der innern Räume fragen, so würden uns die Hausbewohner wohl ein Stück¬
lein erzählen können. Daß ein Architekt, der in der Fayade über die innere
Naumvertheilung zu täuschen und die Zweckbestimmung des Baues zu verheim¬
lichen sucht, weil er sie nicht auszusprechen weiß, es verstehen sollte, durch eine
praktische und verständige Anordnung für das Behagen und die Bequemlichkeit
des häuslichen Lebens zu sorgen, ist nicht wohl anzunehmen. Dahinaus, in
der zweckmäßigen und heimlichen Einrichtung des modernen Privathauses, die
vielleicht auch in einer bescheidenen künstlerischen Weise sich äußerlich aussprechen
könnte, liegt eine wenn auch beschränkte, doch immerhin dankbare Aufgabe der
heutigen Architektur. Unsere Zustände bringen es so mit sich, daß der Ein¬
zelne, von der Oeffentlichkeit zurückgedrängt, fast nur in seinen vier Wänden
lebt und der Ausbildung seiner Individualität nachhängt, und so sollte hier die
Baukunst aus der Noth eine Tugend machen. Aber es ist Thatsache, daß es
sich nicht leicht wo kahler und unbequemer wohnt, als in den Münchener Neu¬
bauten. ----




Der Leser, der den ermüdenden Gang durch die neue Straße mit uns
gemacht hat, mag nun entscheiden, ob das Bild, das wir ihm Anfangs von
ihrem allgemeinen Eindruck entworfen haben, zu grell war. Das eigentliche
Geheimniß des neuen Baustils war, wie wir gesehen, nicht schwer zu finden.
Doch lohnt es sich, wegen der Bedeutung des ganzen Unternehmens, wohl der
Mühe, seine gemeinsamen Grundzüge noch einmal hervorzuheben.

Vorab drängt sich die neue S er ceti is en e n o rdn u n g. auf die man sich
nicht wenig zu gute thut, ins Auge. Die Lisene. vornehmlich von der roma¬
nischen Baukunst ausgebildet, bezeichnet ursprünglich im Außenbau das Wider-


ländlicher Idylle urplötzlich über den fünf bis sechs Stockwerke hohen städtischen
Wohnhäusern, die den Anspruch machen, Palastarchitektur zu sein, ist von rüh¬
render Naivetät. Seitdem die liebenswürdige Naturalistik der ländlichen Bau¬
art an den niedrigen Wohnhäusern, Scheunen und Ställen der Landleute, welchen
sie so vortrefflich anstand, leider immer mehr verschwindet, scheint sie sich in die
Stadt zu flüchten, wo sie von dem neuen Stile mit dem gewohnten UnVer¬
ständniß als willkommene Bereicherung für sein Formendurcheinander aufge¬
nommen wird. Auch geradezu entgegengesetzte Bauweisen in die unnatür¬
lichste Verbindung zu bringen, scheut sich diese Architektur nicht. Doch sollte
wenigstens die Baupolizei ein Einsehen haben und diese leicht Feuer fangenden
und fortpflanzenden Dachkränze um so weniger dulden, als an ihnen eine
schlimme Erfahrung in derselben Straße schon einmal gemacht worden. —

Genug und schon zu viel; gälte es, den Gegenstand zu erschöpfen, so würde
man kein Ende finden. Wollten wir noch nach der praktischen Zweckmäßigkeit
der innern Räume fragen, so würden uns die Hausbewohner wohl ein Stück¬
lein erzählen können. Daß ein Architekt, der in der Fayade über die innere
Naumvertheilung zu täuschen und die Zweckbestimmung des Baues zu verheim¬
lichen sucht, weil er sie nicht auszusprechen weiß, es verstehen sollte, durch eine
praktische und verständige Anordnung für das Behagen und die Bequemlichkeit
des häuslichen Lebens zu sorgen, ist nicht wohl anzunehmen. Dahinaus, in
der zweckmäßigen und heimlichen Einrichtung des modernen Privathauses, die
vielleicht auch in einer bescheidenen künstlerischen Weise sich äußerlich aussprechen
könnte, liegt eine wenn auch beschränkte, doch immerhin dankbare Aufgabe der
heutigen Architektur. Unsere Zustände bringen es so mit sich, daß der Ein¬
zelne, von der Oeffentlichkeit zurückgedrängt, fast nur in seinen vier Wänden
lebt und der Ausbildung seiner Individualität nachhängt, und so sollte hier die
Baukunst aus der Noth eine Tugend machen. Aber es ist Thatsache, daß es
sich nicht leicht wo kahler und unbequemer wohnt, als in den Münchener Neu¬
bauten. —--




Der Leser, der den ermüdenden Gang durch die neue Straße mit uns
gemacht hat, mag nun entscheiden, ob das Bild, das wir ihm Anfangs von
ihrem allgemeinen Eindruck entworfen haben, zu grell war. Das eigentliche
Geheimniß des neuen Baustils war, wie wir gesehen, nicht schwer zu finden.
Doch lohnt es sich, wegen der Bedeutung des ganzen Unternehmens, wohl der
Mühe, seine gemeinsamen Grundzüge noch einmal hervorzuheben.

Vorab drängt sich die neue S er ceti is en e n o rdn u n g. auf die man sich
nicht wenig zu gute thut, ins Auge. Die Lisene. vornehmlich von der roma¬
nischen Baukunst ausgebildet, bezeichnet ursprünglich im Außenbau das Wider-


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[0451] ländlicher Idylle urplötzlich über den fünf bis sechs Stockwerke hohen städtischen Wohnhäusern, die den Anspruch machen, Palastarchitektur zu sein, ist von rüh¬ render Naivetät. Seitdem die liebenswürdige Naturalistik der ländlichen Bau¬ art an den niedrigen Wohnhäusern, Scheunen und Ställen der Landleute, welchen sie so vortrefflich anstand, leider immer mehr verschwindet, scheint sie sich in die Stadt zu flüchten, wo sie von dem neuen Stile mit dem gewohnten UnVer¬ ständniß als willkommene Bereicherung für sein Formendurcheinander aufge¬ nommen wird. Auch geradezu entgegengesetzte Bauweisen in die unnatür¬ lichste Verbindung zu bringen, scheut sich diese Architektur nicht. Doch sollte wenigstens die Baupolizei ein Einsehen haben und diese leicht Feuer fangenden und fortpflanzenden Dachkränze um so weniger dulden, als an ihnen eine schlimme Erfahrung in derselben Straße schon einmal gemacht worden. — Genug und schon zu viel; gälte es, den Gegenstand zu erschöpfen, so würde man kein Ende finden. Wollten wir noch nach der praktischen Zweckmäßigkeit der innern Räume fragen, so würden uns die Hausbewohner wohl ein Stück¬ lein erzählen können. Daß ein Architekt, der in der Fayade über die innere Naumvertheilung zu täuschen und die Zweckbestimmung des Baues zu verheim¬ lichen sucht, weil er sie nicht auszusprechen weiß, es verstehen sollte, durch eine praktische und verständige Anordnung für das Behagen und die Bequemlichkeit des häuslichen Lebens zu sorgen, ist nicht wohl anzunehmen. Dahinaus, in der zweckmäßigen und heimlichen Einrichtung des modernen Privathauses, die vielleicht auch in einer bescheidenen künstlerischen Weise sich äußerlich aussprechen könnte, liegt eine wenn auch beschränkte, doch immerhin dankbare Aufgabe der heutigen Architektur. Unsere Zustände bringen es so mit sich, daß der Ein¬ zelne, von der Oeffentlichkeit zurückgedrängt, fast nur in seinen vier Wänden lebt und der Ausbildung seiner Individualität nachhängt, und so sollte hier die Baukunst aus der Noth eine Tugend machen. Aber es ist Thatsache, daß es sich nicht leicht wo kahler und unbequemer wohnt, als in den Münchener Neu¬ bauten. —-- Der Leser, der den ermüdenden Gang durch die neue Straße mit uns gemacht hat, mag nun entscheiden, ob das Bild, das wir ihm Anfangs von ihrem allgemeinen Eindruck entworfen haben, zu grell war. Das eigentliche Geheimniß des neuen Baustils war, wie wir gesehen, nicht schwer zu finden. Doch lohnt es sich, wegen der Bedeutung des ganzen Unternehmens, wohl der Mühe, seine gemeinsamen Grundzüge noch einmal hervorzuheben. Vorab drängt sich die neue S er ceti is en e n o rdn u n g. auf die man sich nicht wenig zu gute thut, ins Auge. Die Lisene. vornehmlich von der roma¬ nischen Baukunst ausgebildet, bezeichnet ursprünglich im Außenbau das Wider-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/451>, abgerufen am 27.09.2024.