Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Haupt die siructive Bestimmung der Glieder als ihr lebendiger Ausdruck zu be¬
gleiten hat, hat der neue Stil dieser Wohnhäuser keinen oder einen ganz ver¬
kehrten Begriff. Er weiß nichts davon, daß das Ornament die Eigenschaften
des Activen und Passiver, des Beginns und der Endung, der Trennung und
Zusammenfassung, welche in der Function der Glieder liegen, in seinem For¬
menspiele nachdrucksvoll anklingen lassen, daß es mit stärkerem Anschlage die
Punkte, an denen die Kraft sich sammelt, markiren, die, an denen die Bewe¬
gung aufhört, mit gezogenerem Nachklänge vorschweben lassen soll. Ein Bei¬
spiel für viele. Der Schlußstein eines Gewölbes ist der Theil desselben, welcher
die größte Pressung zu erleiden hat und daher in verschiedenen Perioden des
Gewölbebaues, als seinem Dienste gewachsen, durch stärkeres Hervortreten und
durch eine, besondere Kraft andeutende, ornamentale Form bezeichnet ist. Der
neue Stil, welcher die Gedanken der Alten überall, wo er von ihnen Gebrauch
machen will, mißversteht, markirt bisweilen auch den Schlußstein. Aber wie!
er setzt ein schwaches Blümchen darauf, nicht hervortretend, sondern in eine
Vertiefung, die er in dem Schlußstein anbringt, und durch welche er also den¬
selben, statt ihn recht kräftig erscheinen zu lassen, vielmehr schwächt. Ueberall
begegnen wir diesem UnVerständniß. Nicht einmal das Oben und Unten, die
wagrechte und senkrechte Erstreckung weiß dies moderne Ornament anzudeuten,
und in dieser Verlegenheit sucht es sich damit zu helfen, daß es sich überall
neutral verhält, b. h. sich einförmig, Sinn- und bedeutungslos nach allen Seiten
gleichmäßig verbreitet. Daher kennt es hauptsächlich nur die roscttenartige Bil¬
dung, eine Form, die nur in neutrale Füllungen paßt, hier aber überall auf¬
tritt, selbst da, wo sie schlechterdings nicht hingehört. Und mit dieser Armuth
kokettirt man noch; nicht selten werden diese Rosetten, die zudem von derber
unschöner Zeichnung sind, noch recht hervorgehoben, indem allein sie an der
dünn und schmächtig ausstaffirter Faczade ein Relief erhalten, das man durch
einen tiefer gefärbten Grund noch wirksamer zu machen sucht.

Das einfache Gesetz endlich, daß das Hauptgesimse oder die Krönung, der
Abschluß der Umfassungsmauern nach oben eine kräftige Höhe und Ausladung
erhalte, die zu der Höhe des ganzen Hauses in einem gewissen Verhältniß
stehen müsse, ein Gesetz, das vor dieser neuesten Epoche der Architektur wohl
immer beobachtet wurde, ist in dieser durchgängig verletzt. Hartnäckig behält
sie auch bei dem Hauptgesimse die überall beobachtete Dünnheit bei: die Kopf¬
losigkeit der Mauern ist die letzte und nothwendige Folge der Dürftigkeit und
Beschränktheit, mit welcher das Ganze behandelt ist. Doch tragen einige Ge¬
bäudetheile einen weiter ausladenden Dachkranz, indem die hölzernen Dachspar¬
ren über die Mauern hinausspringen, ohne daß sich irgend absehen ließe, wes¬
halb sie diese anspruchsvolle und doch ärmliche Art von Ausladung vor dem
übrigen Bau voraus haben. Doch wie dem auch sein mag: dieses Stückchen


Haupt die siructive Bestimmung der Glieder als ihr lebendiger Ausdruck zu be¬
gleiten hat, hat der neue Stil dieser Wohnhäuser keinen oder einen ganz ver¬
kehrten Begriff. Er weiß nichts davon, daß das Ornament die Eigenschaften
des Activen und Passiver, des Beginns und der Endung, der Trennung und
Zusammenfassung, welche in der Function der Glieder liegen, in seinem For¬
menspiele nachdrucksvoll anklingen lassen, daß es mit stärkerem Anschlage die
Punkte, an denen die Kraft sich sammelt, markiren, die, an denen die Bewe¬
gung aufhört, mit gezogenerem Nachklänge vorschweben lassen soll. Ein Bei¬
spiel für viele. Der Schlußstein eines Gewölbes ist der Theil desselben, welcher
die größte Pressung zu erleiden hat und daher in verschiedenen Perioden des
Gewölbebaues, als seinem Dienste gewachsen, durch stärkeres Hervortreten und
durch eine, besondere Kraft andeutende, ornamentale Form bezeichnet ist. Der
neue Stil, welcher die Gedanken der Alten überall, wo er von ihnen Gebrauch
machen will, mißversteht, markirt bisweilen auch den Schlußstein. Aber wie!
er setzt ein schwaches Blümchen darauf, nicht hervortretend, sondern in eine
Vertiefung, die er in dem Schlußstein anbringt, und durch welche er also den¬
selben, statt ihn recht kräftig erscheinen zu lassen, vielmehr schwächt. Ueberall
begegnen wir diesem UnVerständniß. Nicht einmal das Oben und Unten, die
wagrechte und senkrechte Erstreckung weiß dies moderne Ornament anzudeuten,
und in dieser Verlegenheit sucht es sich damit zu helfen, daß es sich überall
neutral verhält, b. h. sich einförmig, Sinn- und bedeutungslos nach allen Seiten
gleichmäßig verbreitet. Daher kennt es hauptsächlich nur die roscttenartige Bil¬
dung, eine Form, die nur in neutrale Füllungen paßt, hier aber überall auf¬
tritt, selbst da, wo sie schlechterdings nicht hingehört. Und mit dieser Armuth
kokettirt man noch; nicht selten werden diese Rosetten, die zudem von derber
unschöner Zeichnung sind, noch recht hervorgehoben, indem allein sie an der
dünn und schmächtig ausstaffirter Faczade ein Relief erhalten, das man durch
einen tiefer gefärbten Grund noch wirksamer zu machen sucht.

Das einfache Gesetz endlich, daß das Hauptgesimse oder die Krönung, der
Abschluß der Umfassungsmauern nach oben eine kräftige Höhe und Ausladung
erhalte, die zu der Höhe des ganzen Hauses in einem gewissen Verhältniß
stehen müsse, ein Gesetz, das vor dieser neuesten Epoche der Architektur wohl
immer beobachtet wurde, ist in dieser durchgängig verletzt. Hartnäckig behält
sie auch bei dem Hauptgesimse die überall beobachtete Dünnheit bei: die Kopf¬
losigkeit der Mauern ist die letzte und nothwendige Folge der Dürftigkeit und
Beschränktheit, mit welcher das Ganze behandelt ist. Doch tragen einige Ge¬
bäudetheile einen weiter ausladenden Dachkranz, indem die hölzernen Dachspar¬
ren über die Mauern hinausspringen, ohne daß sich irgend absehen ließe, wes¬
halb sie diese anspruchsvolle und doch ärmliche Art von Ausladung vor dem
übrigen Bau voraus haben. Doch wie dem auch sein mag: dieses Stückchen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188477"/>
              <p xml:id="ID_1420" prev="#ID_1419"> Haupt die siructive Bestimmung der Glieder als ihr lebendiger Ausdruck zu be¬<lb/>
gleiten hat, hat der neue Stil dieser Wohnhäuser keinen oder einen ganz ver¬<lb/>
kehrten Begriff. Er weiß nichts davon, daß das Ornament die Eigenschaften<lb/>
des Activen und Passiver, des Beginns und der Endung, der Trennung und<lb/>
Zusammenfassung, welche in der Function der Glieder liegen, in seinem For¬<lb/>
menspiele nachdrucksvoll anklingen lassen, daß es mit stärkerem Anschlage die<lb/>
Punkte, an denen die Kraft sich sammelt, markiren, die, an denen die Bewe¬<lb/>
gung aufhört, mit gezogenerem Nachklänge vorschweben lassen soll. Ein Bei¬<lb/>
spiel für viele. Der Schlußstein eines Gewölbes ist der Theil desselben, welcher<lb/>
die größte Pressung zu erleiden hat und daher in verschiedenen Perioden des<lb/>
Gewölbebaues, als seinem Dienste gewachsen, durch stärkeres Hervortreten und<lb/>
durch eine, besondere Kraft andeutende, ornamentale Form bezeichnet ist. Der<lb/>
neue Stil, welcher die Gedanken der Alten überall, wo er von ihnen Gebrauch<lb/>
machen will, mißversteht, markirt bisweilen auch den Schlußstein. Aber wie!<lb/>
er setzt ein schwaches Blümchen darauf, nicht hervortretend, sondern in eine<lb/>
Vertiefung, die er in dem Schlußstein anbringt, und durch welche er also den¬<lb/>
selben, statt ihn recht kräftig erscheinen zu lassen, vielmehr schwächt. Ueberall<lb/>
begegnen wir diesem UnVerständniß. Nicht einmal das Oben und Unten, die<lb/>
wagrechte und senkrechte Erstreckung weiß dies moderne Ornament anzudeuten,<lb/>
und in dieser Verlegenheit sucht es sich damit zu helfen, daß es sich überall<lb/>
neutral verhält, b. h. sich einförmig, Sinn- und bedeutungslos nach allen Seiten<lb/>
gleichmäßig verbreitet. Daher kennt es hauptsächlich nur die roscttenartige Bil¬<lb/>
dung, eine Form, die nur in neutrale Füllungen paßt, hier aber überall auf¬<lb/>
tritt, selbst da, wo sie schlechterdings nicht hingehört. Und mit dieser Armuth<lb/>
kokettirt man noch; nicht selten werden diese Rosetten, die zudem von derber<lb/>
unschöner Zeichnung sind, noch recht hervorgehoben, indem allein sie an der<lb/>
dünn und schmächtig ausstaffirter Faczade ein Relief erhalten, das man durch<lb/>
einen tiefer gefärbten Grund noch wirksamer zu machen sucht.</p><lb/>
              <p xml:id="ID_1421" next="#ID_1422"> Das einfache Gesetz endlich, daß das Hauptgesimse oder die Krönung, der<lb/>
Abschluß der Umfassungsmauern nach oben eine kräftige Höhe und Ausladung<lb/>
erhalte, die zu der Höhe des ganzen Hauses in einem gewissen Verhältniß<lb/>
stehen müsse, ein Gesetz, das vor dieser neuesten Epoche der Architektur wohl<lb/>
immer beobachtet wurde, ist in dieser durchgängig verletzt. Hartnäckig behält<lb/>
sie auch bei dem Hauptgesimse die überall beobachtete Dünnheit bei: die Kopf¬<lb/>
losigkeit der Mauern ist die letzte und nothwendige Folge der Dürftigkeit und<lb/>
Beschränktheit, mit welcher das Ganze behandelt ist. Doch tragen einige Ge¬<lb/>
bäudetheile einen weiter ausladenden Dachkranz, indem die hölzernen Dachspar¬<lb/>
ren über die Mauern hinausspringen, ohne daß sich irgend absehen ließe, wes¬<lb/>
halb sie diese anspruchsvolle und doch ärmliche Art von Ausladung vor dem<lb/>
übrigen Bau voraus haben.  Doch wie dem auch sein mag: dieses Stückchen</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] Haupt die siructive Bestimmung der Glieder als ihr lebendiger Ausdruck zu be¬ gleiten hat, hat der neue Stil dieser Wohnhäuser keinen oder einen ganz ver¬ kehrten Begriff. Er weiß nichts davon, daß das Ornament die Eigenschaften des Activen und Passiver, des Beginns und der Endung, der Trennung und Zusammenfassung, welche in der Function der Glieder liegen, in seinem For¬ menspiele nachdrucksvoll anklingen lassen, daß es mit stärkerem Anschlage die Punkte, an denen die Kraft sich sammelt, markiren, die, an denen die Bewe¬ gung aufhört, mit gezogenerem Nachklänge vorschweben lassen soll. Ein Bei¬ spiel für viele. Der Schlußstein eines Gewölbes ist der Theil desselben, welcher die größte Pressung zu erleiden hat und daher in verschiedenen Perioden des Gewölbebaues, als seinem Dienste gewachsen, durch stärkeres Hervortreten und durch eine, besondere Kraft andeutende, ornamentale Form bezeichnet ist. Der neue Stil, welcher die Gedanken der Alten überall, wo er von ihnen Gebrauch machen will, mißversteht, markirt bisweilen auch den Schlußstein. Aber wie! er setzt ein schwaches Blümchen darauf, nicht hervortretend, sondern in eine Vertiefung, die er in dem Schlußstein anbringt, und durch welche er also den¬ selben, statt ihn recht kräftig erscheinen zu lassen, vielmehr schwächt. Ueberall begegnen wir diesem UnVerständniß. Nicht einmal das Oben und Unten, die wagrechte und senkrechte Erstreckung weiß dies moderne Ornament anzudeuten, und in dieser Verlegenheit sucht es sich damit zu helfen, daß es sich überall neutral verhält, b. h. sich einförmig, Sinn- und bedeutungslos nach allen Seiten gleichmäßig verbreitet. Daher kennt es hauptsächlich nur die roscttenartige Bil¬ dung, eine Form, die nur in neutrale Füllungen paßt, hier aber überall auf¬ tritt, selbst da, wo sie schlechterdings nicht hingehört. Und mit dieser Armuth kokettirt man noch; nicht selten werden diese Rosetten, die zudem von derber unschöner Zeichnung sind, noch recht hervorgehoben, indem allein sie an der dünn und schmächtig ausstaffirter Faczade ein Relief erhalten, das man durch einen tiefer gefärbten Grund noch wirksamer zu machen sucht. Das einfache Gesetz endlich, daß das Hauptgesimse oder die Krönung, der Abschluß der Umfassungsmauern nach oben eine kräftige Höhe und Ausladung erhalte, die zu der Höhe des ganzen Hauses in einem gewissen Verhältniß stehen müsse, ein Gesetz, das vor dieser neuesten Epoche der Architektur wohl immer beobachtet wurde, ist in dieser durchgängig verletzt. Hartnäckig behält sie auch bei dem Hauptgesimse die überall beobachtete Dünnheit bei: die Kopf¬ losigkeit der Mauern ist die letzte und nothwendige Folge der Dürftigkeit und Beschränktheit, mit welcher das Ganze behandelt ist. Doch tragen einige Ge¬ bäudetheile einen weiter ausladenden Dachkranz, indem die hölzernen Dachspar¬ ren über die Mauern hinausspringen, ohne daß sich irgend absehen ließe, wes¬ halb sie diese anspruchsvolle und doch ärmliche Art von Ausladung vor dem übrigen Bau voraus haben. Doch wie dem auch sein mag: dieses Stückchen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/450>, abgerufen am 27.09.2024.