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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Unter diesen Umständen bieten sich für Frankreich drei Wege dar, um eine
seinen Interessen entsprechende Losung der Frage zu erzielen: entweder es be¬
müht sich Nußland durch Bedrohung und Schwächung so geschmeidig zu machen,
daß es sich in die von Frankreich gestellten Bedingungen fügt; oder es sucht,
falls jene Politik in dem gegebenen Augenblick, dessen Eintreten Frankreich
nicht unbedingt nach Belieben beschleunigen oder verzögern kann, nicht den ge¬
wünschten Erfolg haben sollte, sich an andern Punkten zu entschädigen, oder
es vereinigt beide Methoden. In den letzten beiden Fällen würde das Ent-
schädigungsobjcct nirgendwo anders als am linken Rheinufer zu suchen sein.
Unter allen Umständen ist so dick gewiß, daß Frankreich Alles daran gelegen
sein muß, Nußland vor dem Abschluß eines Bündnisses in eine untergeordnete
und abhängige Stellung zu versetzen. Denn wenn Nußland mit ungeschwächter
und gesammelter Kraft in das Bündniß träte, so würde es die Gunst der
geographischen Lage, die ihm gestattet, seine volle Macht gegen die Türkei
wirken zu lassen, natürlich dazu benutzen, den Verbündeten in die zweite
Linie zu drängen und bei der Theilung der Türkei Frankreich gegenüber die
Rolle zu spielen, die es bei der Theilung Polens Oestreich und besonders
Preußen gegenüber gespielt hat.

Ganz unbegründet wäre-demnach der Schluß, daß Frankreich, weil es
Nußland gegenwärtig in der polnischen Angelegenheit schwere Verlegenheiten
bereitet, den Plan eines Bündnisses mit demselben ganz aufgegeben habe. Die
rasche Annäherung der beiden Mächte nach dem Krimkriege belehrt uns, daß
Frankreich stets bereit ist, dem gedemüthigten Rußland die Hand zu reichen,
und daß Nußland, welches ohne die Mitwirkung Frankreichs seine orientalischen
Pläne schlechterdings nicht verwirklichen kann, sich von der Empfindlichkeit
über die erlittene Demüthigung ganz gewiß nicht wird abhalten lassen, die dar¬
gebotene Hand zu ergreifen. Die Sentimentalität spielt in Rußlands energi¬
scher Interessenpolitik eine sehr untergeordnete Rolle, und auch sein feindseliges
Verhältniß zu Oestreich ist viel weniger aus der Empfindlichkeit über erlittene
Liränkungen hervorgegangen, als aus der klaren Erkenntniß, daß es von diesem
Staate durch eine unausfüllbare Kluft getrennt ist. Nehmen wir selbst an,
daß die Solidarität beider Mächte den politischen Ansprüchen gegenüber eine
Annäherung zwischen ihnen herbeiführen sollte, so würde doch, sobald die pol¬
nischen Wirren, gleich viel auf welche Weise, geschlichtet sei" werden, der na¬
türliche Gegensatz zwischen ihnen wieder in voller Schärfe hervortreten.

Sobald dieser Moment eingetreten sein wird, wird auch die Furcht vor
dem russisch-französischen Bündnisse wieder die europäische Politik in Athem
halten. An Preußen aber wird dann dringender als je die Frage herantreten,
welche Stellung es diesem Bunde gegenüber einzunehmen habe, und, wie wir
glauben, werden die Sirenenstimmen, die es nach dieser Seite hinziehen, ver-


Unter diesen Umständen bieten sich für Frankreich drei Wege dar, um eine
seinen Interessen entsprechende Losung der Frage zu erzielen: entweder es be¬
müht sich Nußland durch Bedrohung und Schwächung so geschmeidig zu machen,
daß es sich in die von Frankreich gestellten Bedingungen fügt; oder es sucht,
falls jene Politik in dem gegebenen Augenblick, dessen Eintreten Frankreich
nicht unbedingt nach Belieben beschleunigen oder verzögern kann, nicht den ge¬
wünschten Erfolg haben sollte, sich an andern Punkten zu entschädigen, oder
es vereinigt beide Methoden. In den letzten beiden Fällen würde das Ent-
schädigungsobjcct nirgendwo anders als am linken Rheinufer zu suchen sein.
Unter allen Umständen ist so dick gewiß, daß Frankreich Alles daran gelegen
sein muß, Nußland vor dem Abschluß eines Bündnisses in eine untergeordnete
und abhängige Stellung zu versetzen. Denn wenn Nußland mit ungeschwächter
und gesammelter Kraft in das Bündniß träte, so würde es die Gunst der
geographischen Lage, die ihm gestattet, seine volle Macht gegen die Türkei
wirken zu lassen, natürlich dazu benutzen, den Verbündeten in die zweite
Linie zu drängen und bei der Theilung der Türkei Frankreich gegenüber die
Rolle zu spielen, die es bei der Theilung Polens Oestreich und besonders
Preußen gegenüber gespielt hat.

Ganz unbegründet wäre-demnach der Schluß, daß Frankreich, weil es
Nußland gegenwärtig in der polnischen Angelegenheit schwere Verlegenheiten
bereitet, den Plan eines Bündnisses mit demselben ganz aufgegeben habe. Die
rasche Annäherung der beiden Mächte nach dem Krimkriege belehrt uns, daß
Frankreich stets bereit ist, dem gedemüthigten Rußland die Hand zu reichen,
und daß Nußland, welches ohne die Mitwirkung Frankreichs seine orientalischen
Pläne schlechterdings nicht verwirklichen kann, sich von der Empfindlichkeit
über die erlittene Demüthigung ganz gewiß nicht wird abhalten lassen, die dar¬
gebotene Hand zu ergreifen. Die Sentimentalität spielt in Rußlands energi¬
scher Interessenpolitik eine sehr untergeordnete Rolle, und auch sein feindseliges
Verhältniß zu Oestreich ist viel weniger aus der Empfindlichkeit über erlittene
Liränkungen hervorgegangen, als aus der klaren Erkenntniß, daß es von diesem
Staate durch eine unausfüllbare Kluft getrennt ist. Nehmen wir selbst an,
daß die Solidarität beider Mächte den politischen Ansprüchen gegenüber eine
Annäherung zwischen ihnen herbeiführen sollte, so würde doch, sobald die pol¬
nischen Wirren, gleich viel auf welche Weise, geschlichtet sei» werden, der na¬
türliche Gegensatz zwischen ihnen wieder in voller Schärfe hervortreten.

Sobald dieser Moment eingetreten sein wird, wird auch die Furcht vor
dem russisch-französischen Bündnisse wieder die europäische Politik in Athem
halten. An Preußen aber wird dann dringender als je die Frage herantreten,
welche Stellung es diesem Bunde gegenüber einzunehmen habe, und, wie wir
glauben, werden die Sirenenstimmen, die es nach dieser Seite hinziehen, ver-


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[0384] Unter diesen Umständen bieten sich für Frankreich drei Wege dar, um eine seinen Interessen entsprechende Losung der Frage zu erzielen: entweder es be¬ müht sich Nußland durch Bedrohung und Schwächung so geschmeidig zu machen, daß es sich in die von Frankreich gestellten Bedingungen fügt; oder es sucht, falls jene Politik in dem gegebenen Augenblick, dessen Eintreten Frankreich nicht unbedingt nach Belieben beschleunigen oder verzögern kann, nicht den ge¬ wünschten Erfolg haben sollte, sich an andern Punkten zu entschädigen, oder es vereinigt beide Methoden. In den letzten beiden Fällen würde das Ent- schädigungsobjcct nirgendwo anders als am linken Rheinufer zu suchen sein. Unter allen Umständen ist so dick gewiß, daß Frankreich Alles daran gelegen sein muß, Nußland vor dem Abschluß eines Bündnisses in eine untergeordnete und abhängige Stellung zu versetzen. Denn wenn Nußland mit ungeschwächter und gesammelter Kraft in das Bündniß träte, so würde es die Gunst der geographischen Lage, die ihm gestattet, seine volle Macht gegen die Türkei wirken zu lassen, natürlich dazu benutzen, den Verbündeten in die zweite Linie zu drängen und bei der Theilung der Türkei Frankreich gegenüber die Rolle zu spielen, die es bei der Theilung Polens Oestreich und besonders Preußen gegenüber gespielt hat. Ganz unbegründet wäre-demnach der Schluß, daß Frankreich, weil es Nußland gegenwärtig in der polnischen Angelegenheit schwere Verlegenheiten bereitet, den Plan eines Bündnisses mit demselben ganz aufgegeben habe. Die rasche Annäherung der beiden Mächte nach dem Krimkriege belehrt uns, daß Frankreich stets bereit ist, dem gedemüthigten Rußland die Hand zu reichen, und daß Nußland, welches ohne die Mitwirkung Frankreichs seine orientalischen Pläne schlechterdings nicht verwirklichen kann, sich von der Empfindlichkeit über die erlittene Demüthigung ganz gewiß nicht wird abhalten lassen, die dar¬ gebotene Hand zu ergreifen. Die Sentimentalität spielt in Rußlands energi¬ scher Interessenpolitik eine sehr untergeordnete Rolle, und auch sein feindseliges Verhältniß zu Oestreich ist viel weniger aus der Empfindlichkeit über erlittene Liränkungen hervorgegangen, als aus der klaren Erkenntniß, daß es von diesem Staate durch eine unausfüllbare Kluft getrennt ist. Nehmen wir selbst an, daß die Solidarität beider Mächte den politischen Ansprüchen gegenüber eine Annäherung zwischen ihnen herbeiführen sollte, so würde doch, sobald die pol¬ nischen Wirren, gleich viel auf welche Weise, geschlichtet sei» werden, der na¬ türliche Gegensatz zwischen ihnen wieder in voller Schärfe hervortreten. Sobald dieser Moment eingetreten sein wird, wird auch die Furcht vor dem russisch-französischen Bündnisse wieder die europäische Politik in Athem halten. An Preußen aber wird dann dringender als je die Frage herantreten, welche Stellung es diesem Bunde gegenüber einzunehmen habe, und, wie wir glauben, werden die Sirenenstimmen, die es nach dieser Seite hinziehen, ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/384>, abgerufen am 20.10.2024.