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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Hältnisse geboten, so scheint daraus zu folgen, daß andrerseits Nußland und
Frankreich auf ein ebenso enges Gegenbündniß angewiesen sind. Und in der
That dreht sich um die Eventualität dieses Bündnisses seit Jahren alle Furcht
und Hoffnung der europäischen Diplomatie, Ja die öffentliche Meinung hat
sich so daran gewöhnt, dasselbe als eine vollendete Thatsache anzusehen, daß
die infolge der polnischen Angelegenheit zwischen beiden Mächten eingetretene
Spannung nicht nur das Publicum überrascht, sondern auch vielfach die Be¬
rechnungen der Diplomatie durchkreuzt hat.

Es scheint, daß die öffentliche Meinung mit richtigem Takte die Strömung
erkannt hat, welche aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem Bündnisse zwischen
Frankreich und Nußland führen wird, daß sie sich aber darin getäuscht hat,
daß sie den Abschluß dieses Bündnisses für unmittelbar bevorstehend oder gar
schon vollendet hielt, gerade wie sie sich jetzt darin täuscht, wenn sie die gegen¬
wärtige Spannung zwischen den beiden Mächten als einen dauernden Abbruch
der zwischen ihnen bestehenden freundlichen Beziehungen auffaßt. Unzweifelhaft
haben in den Pausen zwischen den allgemeinen Erschütterungen, mit welchen
die orientalische Frage den Erdtheil bedroht, Frankreich und Rußland seit langer
Zeit das gemeinsame Ziel verfolgt, die Existenz des ottomanischen Reiches zu
untergraben. Natürlich hat dies gemeinsame negative Wirken in Zeiten, wo
es für keine der beiden Mächte geboten war, sich der andern gegenüber scharf
und bestimmt über die schließlich erstrebten positiven Ziele auszusprechen, eine
große Annäherung, ein allgemeines Einvernehmen herbeigeführt. Je mehr man
sich aber einer Krisis nähert, je dringender also an beide das Bedürfniß völligen
Einverständnisses, zugleich aber an jede von ihnen die Nothwendigkeit, sich der
eigenen Absichten klar bewußt zu werden, herantritt, desto bestimmter müssen
auch die nothwendig vorhandenen Differenzen über die positiven Ziele sich
geltend machen. Im Allgemeinen waren ja auch Alexander der Erste und Na¬
poleon der Erste in ihren Ansichten über das der Türkei zu bereitende Schicksal
einig. Sobald man den Versuch machte, sich im Einzelnen über die erhoffte
Beute auseinanderzusetzen, traten so große Verschiedenheiten der Wünsche nicht
blos über Nebenfragen, sondern über die Hauptpunkte hervor, daß sofort jede
Aussicht verschwand, die orientalische Frage zum Ausgangspunkt einer gemein¬
schaftlichen Politik zu machen. Und diese Differenzen sind auch heute noch
nicht geschlichtet. Rußland will, sei es mittelbar, sei es unmittelbar, in Kon¬
stantinopel herrschen. Frankreich will den Löwenantheil, auch wenn es selbst
nicht daraus rechnet, ihn zu erwerben, doch wenigstens Rußland nicht zugestehen;
sein Ideal ist die Zerstückelung der Türkei in eine Reihe von Staaten, die
Frankreich ihre Existenz verdanken und der französischen Unterstützung zur Er¬
haltung derselben bedürfen. Für Frankreich fällt daher die orientalische Frage
genau mit der Frage über die Beherrschung des mittelländischen Meeres zusammen.


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Hältnisse geboten, so scheint daraus zu folgen, daß andrerseits Nußland und
Frankreich auf ein ebenso enges Gegenbündniß angewiesen sind. Und in der
That dreht sich um die Eventualität dieses Bündnisses seit Jahren alle Furcht
und Hoffnung der europäischen Diplomatie, Ja die öffentliche Meinung hat
sich so daran gewöhnt, dasselbe als eine vollendete Thatsache anzusehen, daß
die infolge der polnischen Angelegenheit zwischen beiden Mächten eingetretene
Spannung nicht nur das Publicum überrascht, sondern auch vielfach die Be¬
rechnungen der Diplomatie durchkreuzt hat.

Es scheint, daß die öffentliche Meinung mit richtigem Takte die Strömung
erkannt hat, welche aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem Bündnisse zwischen
Frankreich und Nußland führen wird, daß sie sich aber darin getäuscht hat,
daß sie den Abschluß dieses Bündnisses für unmittelbar bevorstehend oder gar
schon vollendet hielt, gerade wie sie sich jetzt darin täuscht, wenn sie die gegen¬
wärtige Spannung zwischen den beiden Mächten als einen dauernden Abbruch
der zwischen ihnen bestehenden freundlichen Beziehungen auffaßt. Unzweifelhaft
haben in den Pausen zwischen den allgemeinen Erschütterungen, mit welchen
die orientalische Frage den Erdtheil bedroht, Frankreich und Rußland seit langer
Zeit das gemeinsame Ziel verfolgt, die Existenz des ottomanischen Reiches zu
untergraben. Natürlich hat dies gemeinsame negative Wirken in Zeiten, wo
es für keine der beiden Mächte geboten war, sich der andern gegenüber scharf
und bestimmt über die schließlich erstrebten positiven Ziele auszusprechen, eine
große Annäherung, ein allgemeines Einvernehmen herbeigeführt. Je mehr man
sich aber einer Krisis nähert, je dringender also an beide das Bedürfniß völligen
Einverständnisses, zugleich aber an jede von ihnen die Nothwendigkeit, sich der
eigenen Absichten klar bewußt zu werden, herantritt, desto bestimmter müssen
auch die nothwendig vorhandenen Differenzen über die positiven Ziele sich
geltend machen. Im Allgemeinen waren ja auch Alexander der Erste und Na¬
poleon der Erste in ihren Ansichten über das der Türkei zu bereitende Schicksal
einig. Sobald man den Versuch machte, sich im Einzelnen über die erhoffte
Beute auseinanderzusetzen, traten so große Verschiedenheiten der Wünsche nicht
blos über Nebenfragen, sondern über die Hauptpunkte hervor, daß sofort jede
Aussicht verschwand, die orientalische Frage zum Ausgangspunkt einer gemein¬
schaftlichen Politik zu machen. Und diese Differenzen sind auch heute noch
nicht geschlichtet. Rußland will, sei es mittelbar, sei es unmittelbar, in Kon¬
stantinopel herrschen. Frankreich will den Löwenantheil, auch wenn es selbst
nicht daraus rechnet, ihn zu erwerben, doch wenigstens Rußland nicht zugestehen;
sein Ideal ist die Zerstückelung der Türkei in eine Reihe von Staaten, die
Frankreich ihre Existenz verdanken und der französischen Unterstützung zur Er¬
haltung derselben bedürfen. Für Frankreich fällt daher die orientalische Frage
genau mit der Frage über die Beherrschung des mittelländischen Meeres zusammen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/383>, abgerufen am 20.10.2024.