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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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aller Architektur entgegengehandelt, sondern ebenso jenem Grundsatz der Ueber¬
lieferung, welcher, in der Baukunst unverbrüchlicher als in allen andern Künsten,
die Arbeit des älteren Geschlechtes dem jüngeren als den festen Grund seiner
neuen Thätigkeit übergibt. Die Maximiliansstraße schaut mit genialer Ver¬
achtung auf alle Tradition; was fragt sie, die mit beiden Beinen auf einmal
ein Loch in die Weltgeschichte springen will, nach den Gesetzen, welche die Ver¬
gangenheit mühsam aufgestellt hat und nach der organischen Ausbildung der
Architektur in ihrem allmäligen Verlaufe? Doch es zeigt sich hierin nicht blos
ein Mangel an Einsicht und an natürlichem Gefühl für das Wesen aller Ent¬
wickelung; sondern , was noch schlimmer ist, eine Stumpfheit gegen die schönen
Schöpfungen der großen Kunstperioden und eine in ihrer Art vollendete Un¬
bildung. Diesen neuen Architekten, das sieht man ihren Machwerken auf den
ersten Blick an, fehlt durchaus sowohl die gründliche Kenntniß der geschicht¬
lichen Denkmale als das Verständniß für ihre Formen. Und doch bedarf keine
Zeit in allen Fächern des Lebens so nothwendig der Bildung, mit der sie den
Nachlaß der Vergangenheit zu verwerthen hat, als gerade die unsrige in ihrem
rathlosen Hcrumtappen, bei ihrem Mangel an schöpferischer Kraft. Nichts
schlimmer, als wenn eine solche Zeit roh und einsichtslos, ein oberflächlicher
und aufgeblasener Dilettant, die überlieferten Formen mißverstanden, zerstückelt,
abgeschwächt und gänzlich verkehrt zusammcnwürselt, um in dem bunten, lächer¬
lichen Spiel, im Narrenkleid zusammengeflickter Lappen wohlgefällig "seine
Eigenthümlichkeit" zu bespiegeln. Das heißt nicht, die Vergangenheit in sich
aufnehmen, das heißt, bei ihr betteln gehen.

Wie aber, wird mancher Leser fragen, hat es denn die Architektur unse¬
rer Tage anzustellen, wenn sie den Raum für unsere idealen Zwecke in künst¬
lerischer und monumentaler Weise darstellen und doch eine vergangene Form
nicht blos nachahmen soll, ein Neues nicht finden kann? Mit den idealen Zu¬
ständen unseres Jahrhunderts hat es, wie schon angedeutet, eine eigenthümliche
Bewandtniß. Sie sind, wo wir Hinblicken, im religiösen, im politischen, im
socialen Leben, unfaßbar, in einer ungewissen Schwebe schwankend und
wechselnd, noch nicht losgerissen vom Alten, noch nicht entschieden mit dem
Werk der neuen Formen beschäftigt, in der dunkeln Gährung des Werdens.
Die vertiefte, zugleich erweiterte Bildung ist das einzige ideale Element, das
die Zeit sicher besitzt. Dagegen werden die Zwecke und Mittel des realen
Lebens durch Verkehr, Handel und Industrie in einer Weise ausgebildet, von
der kein früheres Zeitalter ein Beispiel gibt, und damit allerdings der Grund
zu einer neuen Ordnung der Dinge gelegt. Aber diese ist noch nicht da, und
, der Mechanismus des realen Daseins fragt wenig nach künstlerischer Form.
So hat unsere Zeit den für technische und industrielle Zwecke vortrefflichen
Eisenbau erfunden; doch wenn dieser auch einer gewissen künstlerischen Ausbil-


aller Architektur entgegengehandelt, sondern ebenso jenem Grundsatz der Ueber¬
lieferung, welcher, in der Baukunst unverbrüchlicher als in allen andern Künsten,
die Arbeit des älteren Geschlechtes dem jüngeren als den festen Grund seiner
neuen Thätigkeit übergibt. Die Maximiliansstraße schaut mit genialer Ver¬
achtung auf alle Tradition; was fragt sie, die mit beiden Beinen auf einmal
ein Loch in die Weltgeschichte springen will, nach den Gesetzen, welche die Ver¬
gangenheit mühsam aufgestellt hat und nach der organischen Ausbildung der
Architektur in ihrem allmäligen Verlaufe? Doch es zeigt sich hierin nicht blos
ein Mangel an Einsicht und an natürlichem Gefühl für das Wesen aller Ent¬
wickelung; sondern , was noch schlimmer ist, eine Stumpfheit gegen die schönen
Schöpfungen der großen Kunstperioden und eine in ihrer Art vollendete Un¬
bildung. Diesen neuen Architekten, das sieht man ihren Machwerken auf den
ersten Blick an, fehlt durchaus sowohl die gründliche Kenntniß der geschicht¬
lichen Denkmale als das Verständniß für ihre Formen. Und doch bedarf keine
Zeit in allen Fächern des Lebens so nothwendig der Bildung, mit der sie den
Nachlaß der Vergangenheit zu verwerthen hat, als gerade die unsrige in ihrem
rathlosen Hcrumtappen, bei ihrem Mangel an schöpferischer Kraft. Nichts
schlimmer, als wenn eine solche Zeit roh und einsichtslos, ein oberflächlicher
und aufgeblasener Dilettant, die überlieferten Formen mißverstanden, zerstückelt,
abgeschwächt und gänzlich verkehrt zusammcnwürselt, um in dem bunten, lächer¬
lichen Spiel, im Narrenkleid zusammengeflickter Lappen wohlgefällig „seine
Eigenthümlichkeit" zu bespiegeln. Das heißt nicht, die Vergangenheit in sich
aufnehmen, das heißt, bei ihr betteln gehen.

Wie aber, wird mancher Leser fragen, hat es denn die Architektur unse¬
rer Tage anzustellen, wenn sie den Raum für unsere idealen Zwecke in künst¬
lerischer und monumentaler Weise darstellen und doch eine vergangene Form
nicht blos nachahmen soll, ein Neues nicht finden kann? Mit den idealen Zu¬
ständen unseres Jahrhunderts hat es, wie schon angedeutet, eine eigenthümliche
Bewandtniß. Sie sind, wo wir Hinblicken, im religiösen, im politischen, im
socialen Leben, unfaßbar, in einer ungewissen Schwebe schwankend und
wechselnd, noch nicht losgerissen vom Alten, noch nicht entschieden mit dem
Werk der neuen Formen beschäftigt, in der dunkeln Gährung des Werdens.
Die vertiefte, zugleich erweiterte Bildung ist das einzige ideale Element, das
die Zeit sicher besitzt. Dagegen werden die Zwecke und Mittel des realen
Lebens durch Verkehr, Handel und Industrie in einer Weise ausgebildet, von
der kein früheres Zeitalter ein Beispiel gibt, und damit allerdings der Grund
zu einer neuen Ordnung der Dinge gelegt. Aber diese ist noch nicht da, und
, der Mechanismus des realen Daseins fragt wenig nach künstlerischer Form.
So hat unsere Zeit den für technische und industrielle Zwecke vortrefflichen
Eisenbau erfunden; doch wenn dieser auch einer gewissen künstlerischen Ausbil-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/378>, abgerufen am 27.09.2024.