Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Gesetze finden und befolgen, mit verständiger Anordnung die Zweckbestimmung
erfüllen und doch zugleich den eigenthümlichen Zug der Phantasie, die dunkle,
in der Seele des Geschlechts schwebende Stimmung auszudrücken vermochte.
Und zwei oder drei Münchener Architekten wollten in neuen structiven Formen,
die ihr plötzlicher Einfall sind, wie auf einen Schlag die Zwecke und den
Charakter unseres Jahrhunderts zur Erscheinung bringen?

Wie also jedesmal mit der Entwickelung des Kulturlebens die Ausbildung
der Bauart nach ihrer structiven Seite nur schrittweise vor sich geht, ganz
ebenso vollzieht, sich nur allmälig ihre künstlerische Gestaltung. Die schone
Darstellung des räumlichen Daseins ist in jenem Einklang schon vorbereitet,
gleichsam im Keime enthalten, aber sie muß zur sichtbaren, klaren Gestalt
heraustreten. Die Schönheit beruht immer auf der Freiheit sowohl vom Be¬
dürfniß, als der Fessel des Naturgesetzes; und so erhält sie erst da ihren vollen
architektonischen Ausdruck, wo einerseits der Mensch für ideale Zwecke baut, um
den Raum für sein religiöses, sein sociales oder endlich für den von der Noth¬
durft unabhängigen Genuß eines gebildeten Daseins zu schaffen, und wo er
andrerseits -- ganz im Einklang mit diesen höheren Zwecken -- im Bau selber
das Gesetz der Schwere und die todte Strenge der statischen Grundsätze über¬
windet, indem er ihm den Schein der freien Bewegung, der aus innerem Leben
hervorgegangenen Gliederung gibt und im Spiel der Ornamente die structive
Bestimmung der Glieder durch den Anklang an organische Formen heiter ver-
sinnlicht. Aber der so entstandene Organismus, dieser belebte Bau, ist kein
Product willkürlicher Erfindung; sondern wie er einerseits der künstlerische Aus¬
druck eines großen Zweckes und einer ganzen Weltanschauung ist, so gibt er
andrerseits - nach Böttichers treffendem Wort -- "die Entwickelung des im
Stoff latenten Lebens", das der menschliche Geist entbindet, die freie Erschei¬
nung seiner inneren Gesetzmäßigkeit. Daher neben der klaren, gemessenen Be¬
stimmtheit das Geheimnißvolle der Architektur: sie gibt dem Stein sowohl als
der elementaren Stimmung des Bolksgeistcs die Sprache, in welcher beide ihr
Wesen wie von selbst und doch mit dem Zwang innerer Nothwendigkeit an
den Tag bringen; ein Bild des Weltalls, in welchem nach dessen ewigen Ge¬
setzen der leblose Stoff durch die zugleich schöpferische und ordnende Thätigkeit
des Menschen zur Stätte für den Inhalt seines Lebens sich gestaltet. Wie
nun die Baukunst im todten Material ein Fließen der Bewegung, ein Ansteigen,
Sichausbreiten, Sichzusammcnfassen, ein lebendiges Werden ausprägt, ohne die
streng geschlossene Gediegenheit des von der Erde sich lvsringenden und doch
an sie gebundenen Baues aufzugeben: so ergießt sich über ihr Werk in dem
Spiel der Linien, dem gespannten und wieder gelösten Contrast der Kräfte und
Lasten, dem inneren Zusammenhang der Glieder der Rhythmus der Verhält¬
nisse als der unvergängliche Wohllaut der Schönheit.


47*

Gesetze finden und befolgen, mit verständiger Anordnung die Zweckbestimmung
erfüllen und doch zugleich den eigenthümlichen Zug der Phantasie, die dunkle,
in der Seele des Geschlechts schwebende Stimmung auszudrücken vermochte.
Und zwei oder drei Münchener Architekten wollten in neuen structiven Formen,
die ihr plötzlicher Einfall sind, wie auf einen Schlag die Zwecke und den
Charakter unseres Jahrhunderts zur Erscheinung bringen?

Wie also jedesmal mit der Entwickelung des Kulturlebens die Ausbildung
der Bauart nach ihrer structiven Seite nur schrittweise vor sich geht, ganz
ebenso vollzieht, sich nur allmälig ihre künstlerische Gestaltung. Die schone
Darstellung des räumlichen Daseins ist in jenem Einklang schon vorbereitet,
gleichsam im Keime enthalten, aber sie muß zur sichtbaren, klaren Gestalt
heraustreten. Die Schönheit beruht immer auf der Freiheit sowohl vom Be¬
dürfniß, als der Fessel des Naturgesetzes; und so erhält sie erst da ihren vollen
architektonischen Ausdruck, wo einerseits der Mensch für ideale Zwecke baut, um
den Raum für sein religiöses, sein sociales oder endlich für den von der Noth¬
durft unabhängigen Genuß eines gebildeten Daseins zu schaffen, und wo er
andrerseits — ganz im Einklang mit diesen höheren Zwecken — im Bau selber
das Gesetz der Schwere und die todte Strenge der statischen Grundsätze über¬
windet, indem er ihm den Schein der freien Bewegung, der aus innerem Leben
hervorgegangenen Gliederung gibt und im Spiel der Ornamente die structive
Bestimmung der Glieder durch den Anklang an organische Formen heiter ver-
sinnlicht. Aber der so entstandene Organismus, dieser belebte Bau, ist kein
Product willkürlicher Erfindung; sondern wie er einerseits der künstlerische Aus¬
druck eines großen Zweckes und einer ganzen Weltanschauung ist, so gibt er
andrerseits - nach Böttichers treffendem Wort — „die Entwickelung des im
Stoff latenten Lebens", das der menschliche Geist entbindet, die freie Erschei¬
nung seiner inneren Gesetzmäßigkeit. Daher neben der klaren, gemessenen Be¬
stimmtheit das Geheimnißvolle der Architektur: sie gibt dem Stein sowohl als
der elementaren Stimmung des Bolksgeistcs die Sprache, in welcher beide ihr
Wesen wie von selbst und doch mit dem Zwang innerer Nothwendigkeit an
den Tag bringen; ein Bild des Weltalls, in welchem nach dessen ewigen Ge¬
setzen der leblose Stoff durch die zugleich schöpferische und ordnende Thätigkeit
des Menschen zur Stätte für den Inhalt seines Lebens sich gestaltet. Wie
nun die Baukunst im todten Material ein Fließen der Bewegung, ein Ansteigen,
Sichausbreiten, Sichzusammcnfassen, ein lebendiges Werden ausprägt, ohne die
streng geschlossene Gediegenheit des von der Erde sich lvsringenden und doch
an sie gebundenen Baues aufzugeben: so ergießt sich über ihr Werk in dem
Spiel der Linien, dem gespannten und wieder gelösten Contrast der Kräfte und
Lasten, dem inneren Zusammenhang der Glieder der Rhythmus der Verhält¬
nisse als der unvergängliche Wohllaut der Schönheit.


47*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0375" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188402"/>
            <p xml:id="ID_1189" prev="#ID_1188"> Gesetze finden und befolgen, mit verständiger Anordnung die Zweckbestimmung<lb/>
erfüllen und doch zugleich den eigenthümlichen Zug der Phantasie, die dunkle,<lb/>
in der Seele des Geschlechts schwebende Stimmung auszudrücken vermochte.<lb/>
Und zwei oder drei Münchener Architekten wollten in neuen structiven Formen,<lb/>
die ihr plötzlicher Einfall sind, wie auf einen Schlag die Zwecke und den<lb/>
Charakter unseres Jahrhunderts zur Erscheinung bringen?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1190"> Wie also jedesmal mit der Entwickelung des Kulturlebens die Ausbildung<lb/>
der Bauart nach ihrer structiven Seite nur schrittweise vor sich geht, ganz<lb/>
ebenso vollzieht, sich nur allmälig ihre künstlerische Gestaltung. Die schone<lb/>
Darstellung des räumlichen Daseins ist in jenem Einklang schon vorbereitet,<lb/>
gleichsam im Keime enthalten, aber sie muß zur sichtbaren, klaren Gestalt<lb/>
heraustreten.  Die Schönheit beruht immer auf der Freiheit sowohl vom Be¬<lb/>
dürfniß, als der Fessel des Naturgesetzes; und so erhält sie erst da ihren vollen<lb/>
architektonischen Ausdruck, wo einerseits der Mensch für ideale Zwecke baut, um<lb/>
den Raum für sein religiöses, sein sociales oder endlich für den von der Noth¬<lb/>
durft unabhängigen Genuß eines gebildeten Daseins zu schaffen, und wo er<lb/>
andrerseits &#x2014; ganz im Einklang mit diesen höheren Zwecken &#x2014; im Bau selber<lb/>
das Gesetz der Schwere und die todte Strenge der statischen Grundsätze über¬<lb/>
windet, indem er ihm den Schein der freien Bewegung, der aus innerem Leben<lb/>
hervorgegangenen Gliederung gibt und im Spiel der Ornamente die structive<lb/>
Bestimmung der Glieder durch den Anklang an organische Formen heiter ver-<lb/>
sinnlicht.  Aber der so entstandene Organismus, dieser belebte Bau, ist kein<lb/>
Product willkürlicher Erfindung; sondern wie er einerseits der künstlerische Aus¬<lb/>
druck eines großen Zweckes und einer ganzen Weltanschauung ist, so gibt er<lb/>
andrerseits - nach Böttichers treffendem Wort &#x2014; &#x201E;die Entwickelung des im<lb/>
Stoff latenten Lebens", das der menschliche Geist entbindet, die freie Erschei¬<lb/>
nung seiner inneren Gesetzmäßigkeit.  Daher neben der klaren, gemessenen Be¬<lb/>
stimmtheit das Geheimnißvolle der Architektur: sie gibt dem Stein sowohl als<lb/>
der elementaren Stimmung des Bolksgeistcs die Sprache, in welcher beide ihr<lb/>
Wesen wie von selbst und doch mit dem Zwang innerer Nothwendigkeit an<lb/>
den Tag bringen; ein Bild des Weltalls, in welchem nach dessen ewigen Ge¬<lb/>
setzen der leblose Stoff durch die zugleich schöpferische und ordnende Thätigkeit<lb/>
des Menschen zur Stätte für den Inhalt seines Lebens sich gestaltet. Wie<lb/>
nun die Baukunst im todten Material ein Fließen der Bewegung, ein Ansteigen,<lb/>
Sichausbreiten, Sichzusammcnfassen, ein lebendiges Werden ausprägt, ohne die<lb/>
streng geschlossene Gediegenheit des von der Erde sich lvsringenden und doch<lb/>
an sie gebundenen Baues aufzugeben: so ergießt sich über ihr Werk in dem<lb/>
Spiel der Linien, dem gespannten und wieder gelösten Contrast der Kräfte und<lb/>
Lasten, dem inneren Zusammenhang der Glieder der Rhythmus der Verhält¬<lb/>
nisse als der unvergängliche Wohllaut der Schönheit.</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> 47*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0375] Gesetze finden und befolgen, mit verständiger Anordnung die Zweckbestimmung erfüllen und doch zugleich den eigenthümlichen Zug der Phantasie, die dunkle, in der Seele des Geschlechts schwebende Stimmung auszudrücken vermochte. Und zwei oder drei Münchener Architekten wollten in neuen structiven Formen, die ihr plötzlicher Einfall sind, wie auf einen Schlag die Zwecke und den Charakter unseres Jahrhunderts zur Erscheinung bringen? Wie also jedesmal mit der Entwickelung des Kulturlebens die Ausbildung der Bauart nach ihrer structiven Seite nur schrittweise vor sich geht, ganz ebenso vollzieht, sich nur allmälig ihre künstlerische Gestaltung. Die schone Darstellung des räumlichen Daseins ist in jenem Einklang schon vorbereitet, gleichsam im Keime enthalten, aber sie muß zur sichtbaren, klaren Gestalt heraustreten. Die Schönheit beruht immer auf der Freiheit sowohl vom Be¬ dürfniß, als der Fessel des Naturgesetzes; und so erhält sie erst da ihren vollen architektonischen Ausdruck, wo einerseits der Mensch für ideale Zwecke baut, um den Raum für sein religiöses, sein sociales oder endlich für den von der Noth¬ durft unabhängigen Genuß eines gebildeten Daseins zu schaffen, und wo er andrerseits — ganz im Einklang mit diesen höheren Zwecken — im Bau selber das Gesetz der Schwere und die todte Strenge der statischen Grundsätze über¬ windet, indem er ihm den Schein der freien Bewegung, der aus innerem Leben hervorgegangenen Gliederung gibt und im Spiel der Ornamente die structive Bestimmung der Glieder durch den Anklang an organische Formen heiter ver- sinnlicht. Aber der so entstandene Organismus, dieser belebte Bau, ist kein Product willkürlicher Erfindung; sondern wie er einerseits der künstlerische Aus¬ druck eines großen Zweckes und einer ganzen Weltanschauung ist, so gibt er andrerseits - nach Böttichers treffendem Wort — „die Entwickelung des im Stoff latenten Lebens", das der menschliche Geist entbindet, die freie Erschei¬ nung seiner inneren Gesetzmäßigkeit. Daher neben der klaren, gemessenen Be¬ stimmtheit das Geheimnißvolle der Architektur: sie gibt dem Stein sowohl als der elementaren Stimmung des Bolksgeistcs die Sprache, in welcher beide ihr Wesen wie von selbst und doch mit dem Zwang innerer Nothwendigkeit an den Tag bringen; ein Bild des Weltalls, in welchem nach dessen ewigen Ge¬ setzen der leblose Stoff durch die zugleich schöpferische und ordnende Thätigkeit des Menschen zur Stätte für den Inhalt seines Lebens sich gestaltet. Wie nun die Baukunst im todten Material ein Fließen der Bewegung, ein Ansteigen, Sichausbreiten, Sichzusammcnfassen, ein lebendiges Werden ausprägt, ohne die streng geschlossene Gediegenheit des von der Erde sich lvsringenden und doch an sie gebundenen Baues aufzugeben: so ergießt sich über ihr Werk in dem Spiel der Linien, dem gespannten und wieder gelösten Contrast der Kräfte und Lasten, dem inneren Zusammenhang der Glieder der Rhythmus der Verhält¬ nisse als der unvergängliche Wohllaut der Schönheit. 47*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/375
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/375>, abgerufen am 28.09.2024.