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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Die Münchener Maximiliansstrnße und der moderne Baustil.
i.

Die Armuth unseres Zeitalters an eigenthümlichen künstlerischen Formen
ist nachgerade zur unbestrittenen Thatsache geworden, in die man sich zu fügen
beginnt, weil man sie im Wesen der Gegenwart begründet findet. Keine Zeit
vielleicht besaß einen solchen Reichthum von Stoffen, keine hatte so, wie die
unsere, die ausgeschlossene Weite der Natur und Geschichte zur Verfügung, und
keine war rathloser, wenn es darauf ankam den gegebenen Stoff künstlerisch
zu gestalten. Das seltsame Verhältniß erklärt sich einfach. Nur Stoff eben
ist dem modernen Bewußtsein die ganze Welt und ihr Inhalt, ein Material,
das ihm die Forschung geliefert hat, und das es nun zu theoretischen oder
praktischen Zwecken verwerthet; es fehlt ihm dagegen die gemeinsame Anschauung,
das Auge der Phantasie, das bie Dinge, welche zunächst die Seele des Men¬
schen berühren und bewegen, in lebendiger Form und Erscheinung vor sich
sieht. Denn das neunzehnte Jahrhundert hat die Theile eines ganzen Uni¬
versums in der Hand, und es ist daran, sich aus der Erkenntniß ihres inneren
Zusammenhangs seine eigene Welt zu bauen; aber so lange es noch am Pläne¬
machen, am Graben des Fundaments ist. so lange hat das neue Leben noch
keine Gestalt, und so lange erscheint ihm weder die entstehende noch die Ver¬
gangene Welt im Bilde. So scheint ihm, um seinen künstlerischen Trieb zu
befriedigen, nichts übrig zu bleiben, als zu den überlieferten Formen zu
greifen und unter ihnen sich an diejenigen anzulehnen, welche, am meisten ent¬
wickelt, den Inhalt des modernen Lebens am leichtesten zu fassen vermögen.

Dieser Mangel einer eigenthümlichen Anschauung trifft namentlich die
bildende Kunst, die ja, was sie darstellt, zur vollen, fest umrissenen Erschei¬
nung herausbilden soll. In ihr hat unser Jahrhundert die angestrengtesten
Versuche gemacht, sich einen selbständigen Ausdruck zu geben und damit die
Kunst auf eine neue Stufe zu erheben, und gerade in ihr ist es ihm am we¬
nigsten gelungen. Denn was man auch für die neue Entwickelung der Plastik
und vorab der Malerei vorbringen, wie viel man sich mit dem ausgebreiteten
Schaffen der Zeit wissen mag: das immerhin ist ausgemacht, daß die Kunst


Grenzboten II. 1363. 46
Die Münchener Maximiliansstrnße und der moderne Baustil.
i.

Die Armuth unseres Zeitalters an eigenthümlichen künstlerischen Formen
ist nachgerade zur unbestrittenen Thatsache geworden, in die man sich zu fügen
beginnt, weil man sie im Wesen der Gegenwart begründet findet. Keine Zeit
vielleicht besaß einen solchen Reichthum von Stoffen, keine hatte so, wie die
unsere, die ausgeschlossene Weite der Natur und Geschichte zur Verfügung, und
keine war rathloser, wenn es darauf ankam den gegebenen Stoff künstlerisch
zu gestalten. Das seltsame Verhältniß erklärt sich einfach. Nur Stoff eben
ist dem modernen Bewußtsein die ganze Welt und ihr Inhalt, ein Material,
das ihm die Forschung geliefert hat, und das es nun zu theoretischen oder
praktischen Zwecken verwerthet; es fehlt ihm dagegen die gemeinsame Anschauung,
das Auge der Phantasie, das bie Dinge, welche zunächst die Seele des Men¬
schen berühren und bewegen, in lebendiger Form und Erscheinung vor sich
sieht. Denn das neunzehnte Jahrhundert hat die Theile eines ganzen Uni¬
versums in der Hand, und es ist daran, sich aus der Erkenntniß ihres inneren
Zusammenhangs seine eigene Welt zu bauen; aber so lange es noch am Pläne¬
machen, am Graben des Fundaments ist. so lange hat das neue Leben noch
keine Gestalt, und so lange erscheint ihm weder die entstehende noch die Ver¬
gangene Welt im Bilde. So scheint ihm, um seinen künstlerischen Trieb zu
befriedigen, nichts übrig zu bleiben, als zu den überlieferten Formen zu
greifen und unter ihnen sich an diejenigen anzulehnen, welche, am meisten ent¬
wickelt, den Inhalt des modernen Lebens am leichtesten zu fassen vermögen.

Dieser Mangel einer eigenthümlichen Anschauung trifft namentlich die
bildende Kunst, die ja, was sie darstellt, zur vollen, fest umrissenen Erschei¬
nung herausbilden soll. In ihr hat unser Jahrhundert die angestrengtesten
Versuche gemacht, sich einen selbständigen Ausdruck zu geben und damit die
Kunst auf eine neue Stufe zu erheben, und gerade in ihr ist es ihm am we¬
nigsten gelungen. Denn was man auch für die neue Entwickelung der Plastik
und vorab der Malerei vorbringen, wie viel man sich mit dem ausgebreiteten
Schaffen der Zeit wissen mag: das immerhin ist ausgemacht, daß die Kunst


Grenzboten II. 1363. 46
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[0365] Die Münchener Maximiliansstrnße und der moderne Baustil. i. Die Armuth unseres Zeitalters an eigenthümlichen künstlerischen Formen ist nachgerade zur unbestrittenen Thatsache geworden, in die man sich zu fügen beginnt, weil man sie im Wesen der Gegenwart begründet findet. Keine Zeit vielleicht besaß einen solchen Reichthum von Stoffen, keine hatte so, wie die unsere, die ausgeschlossene Weite der Natur und Geschichte zur Verfügung, und keine war rathloser, wenn es darauf ankam den gegebenen Stoff künstlerisch zu gestalten. Das seltsame Verhältniß erklärt sich einfach. Nur Stoff eben ist dem modernen Bewußtsein die ganze Welt und ihr Inhalt, ein Material, das ihm die Forschung geliefert hat, und das es nun zu theoretischen oder praktischen Zwecken verwerthet; es fehlt ihm dagegen die gemeinsame Anschauung, das Auge der Phantasie, das bie Dinge, welche zunächst die Seele des Men¬ schen berühren und bewegen, in lebendiger Form und Erscheinung vor sich sieht. Denn das neunzehnte Jahrhundert hat die Theile eines ganzen Uni¬ versums in der Hand, und es ist daran, sich aus der Erkenntniß ihres inneren Zusammenhangs seine eigene Welt zu bauen; aber so lange es noch am Pläne¬ machen, am Graben des Fundaments ist. so lange hat das neue Leben noch keine Gestalt, und so lange erscheint ihm weder die entstehende noch die Ver¬ gangene Welt im Bilde. So scheint ihm, um seinen künstlerischen Trieb zu befriedigen, nichts übrig zu bleiben, als zu den überlieferten Formen zu greifen und unter ihnen sich an diejenigen anzulehnen, welche, am meisten ent¬ wickelt, den Inhalt des modernen Lebens am leichtesten zu fassen vermögen. Dieser Mangel einer eigenthümlichen Anschauung trifft namentlich die bildende Kunst, die ja, was sie darstellt, zur vollen, fest umrissenen Erschei¬ nung herausbilden soll. In ihr hat unser Jahrhundert die angestrengtesten Versuche gemacht, sich einen selbständigen Ausdruck zu geben und damit die Kunst auf eine neue Stufe zu erheben, und gerade in ihr ist es ihm am we¬ nigsten gelungen. Denn was man auch für die neue Entwickelung der Plastik und vorab der Malerei vorbringen, wie viel man sich mit dem ausgebreiteten Schaffen der Zeit wissen mag: das immerhin ist ausgemacht, daß die Kunst Grenzboten II. 1363. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/365>, abgerufen am 27.09.2024.