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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Um so mehr muß es überraschen, daß gerade eine Anzahl Arbeiter von
mehr Bildung, als man durchschnittlich in diesen Kreisen findet, sich zu Trä¬
gern jener Ideen machen und dieselben in das praktische Leben einzuführen
unternehmen, ohne einen Mormvnenstaat gründen zu wollen. Der Schlüssel
hierzu liegt in dem zu Anfang Gesagten, Es ist die nothwendig gewordene
Befriedigung eines brennenden Ehrgeizes, dessen letzter Grund die äußerste
Überschätzung des eigenen Werthes und eine entsprechende Geringachtung der
Standesgenossen ist.

Bevor wir in unsrer Erzählung fortfahren, werfen wir noch einen Blick
auf das in dem Antwortschreiben Lassalles an die Leipziger enthaltene Pro¬
gramm. Herr Lassalle benutzt hier zunächst die gute Gelegenheit, seinem Ver¬
druß über die Fortschrittspartei im preußischen Abgeordnetenhaus^ Luft zu
machen, derselben Schwäche und Würdelosigkeit ohne Gleichen vorzuwerfen und
den Kampf um die Verfassung für ein Unding zu erklären. Auch wenn sie
gesiegt hätte, wäre nach ihm sehr zweifelhaft gewesen, ob sie ihren Sieg zur
Aufrechterhalung der Vorrechte der Bourgeoisie, oder für die legitimen Inter¬
essen des Arbeiterstandes, d. h. zur Herstellung des allgemeinen Wahlrechts,
benutzt haben würde.

Die Fortschrittspartei hat nach Lassalle gezeigt, "daß sie vollkommen un¬
fähig ist, auch nur die geringste reelle Entwickelung der Freiheitsinteressen her¬
beizuführen. Sie hat gezeigt, daß sie keinen Anspruch auf die Sympathien der
demokratischen Schichten der Bevölkerung hat, und daß sie ohne Sinn und
Verständniß für das politische Ehrgefühl ist, welches den Arbeiterstand durch¬
dringen muß. Sie hat endlich mit einem Worte thatsächlich gezeigt, daß sie
nichts Anderes ist, als die mit einem andern Namen geschmückte Wiederaufer¬
stehung des verrufenen Gothaerthums."

Darum solle die Arbeiterpartei sich selbständig machen und die Fortschritts¬
partei entweder aufwärtsdrän^en, oder sich von ihr entfernen und sie immer
mehr in den Sumpf der Bedeutungs- und Machtlosigkeit versinken lassen, in
welchem sie schon knietief angekommen sei.

Dann wendet sich der Brief zu der die Arbeiter mehr interessirenden socialen
Frage und erklärt zuvörderst mit wehmüthigem Lächeln, daß man noch über
Gewerbefleiheit und Freizügigkeit discutiren wolle, sei um fünfzig Jahre zu
spät. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit habe man einfach zu decretiren.

Das ist jedenfalls Kraftsprache, zeigt aber eine völlige Unkenntnis; des
Standpunktes, auf welchem die Arbeiter stehen. Wer da weiß, wie sehr die An¬
sichten über Gewerbefreiheit unter den letztern auseinandergehen, und daß gerade
die Massen, welche in den Fabriken arbeiten, über Mancherlei zu klagen haben
mögen, aber mit der Gewerbefreiheit für ihre Person unmittelbar nichts zu schaffen
haben, der wird gestehen müssen, daß gerade dies Thema unter den Arbeitern


Um so mehr muß es überraschen, daß gerade eine Anzahl Arbeiter von
mehr Bildung, als man durchschnittlich in diesen Kreisen findet, sich zu Trä¬
gern jener Ideen machen und dieselben in das praktische Leben einzuführen
unternehmen, ohne einen Mormvnenstaat gründen zu wollen. Der Schlüssel
hierzu liegt in dem zu Anfang Gesagten, Es ist die nothwendig gewordene
Befriedigung eines brennenden Ehrgeizes, dessen letzter Grund die äußerste
Überschätzung des eigenen Werthes und eine entsprechende Geringachtung der
Standesgenossen ist.

Bevor wir in unsrer Erzählung fortfahren, werfen wir noch einen Blick
auf das in dem Antwortschreiben Lassalles an die Leipziger enthaltene Pro¬
gramm. Herr Lassalle benutzt hier zunächst die gute Gelegenheit, seinem Ver¬
druß über die Fortschrittspartei im preußischen Abgeordnetenhaus^ Luft zu
machen, derselben Schwäche und Würdelosigkeit ohne Gleichen vorzuwerfen und
den Kampf um die Verfassung für ein Unding zu erklären. Auch wenn sie
gesiegt hätte, wäre nach ihm sehr zweifelhaft gewesen, ob sie ihren Sieg zur
Aufrechterhalung der Vorrechte der Bourgeoisie, oder für die legitimen Inter¬
essen des Arbeiterstandes, d. h. zur Herstellung des allgemeinen Wahlrechts,
benutzt haben würde.

Die Fortschrittspartei hat nach Lassalle gezeigt, „daß sie vollkommen un¬
fähig ist, auch nur die geringste reelle Entwickelung der Freiheitsinteressen her¬
beizuführen. Sie hat gezeigt, daß sie keinen Anspruch auf die Sympathien der
demokratischen Schichten der Bevölkerung hat, und daß sie ohne Sinn und
Verständniß für das politische Ehrgefühl ist, welches den Arbeiterstand durch¬
dringen muß. Sie hat endlich mit einem Worte thatsächlich gezeigt, daß sie
nichts Anderes ist, als die mit einem andern Namen geschmückte Wiederaufer¬
stehung des verrufenen Gothaerthums."

Darum solle die Arbeiterpartei sich selbständig machen und die Fortschritts¬
partei entweder aufwärtsdrän^en, oder sich von ihr entfernen und sie immer
mehr in den Sumpf der Bedeutungs- und Machtlosigkeit versinken lassen, in
welchem sie schon knietief angekommen sei.

Dann wendet sich der Brief zu der die Arbeiter mehr interessirenden socialen
Frage und erklärt zuvörderst mit wehmüthigem Lächeln, daß man noch über
Gewerbefleiheit und Freizügigkeit discutiren wolle, sei um fünfzig Jahre zu
spät. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit habe man einfach zu decretiren.

Das ist jedenfalls Kraftsprache, zeigt aber eine völlige Unkenntnis; des
Standpunktes, auf welchem die Arbeiter stehen. Wer da weiß, wie sehr die An¬
sichten über Gewerbefreiheit unter den letztern auseinandergehen, und daß gerade
die Massen, welche in den Fabriken arbeiten, über Mancherlei zu klagen haben
mögen, aber mit der Gewerbefreiheit für ihre Person unmittelbar nichts zu schaffen
haben, der wird gestehen müssen, daß gerade dies Thema unter den Arbeitern


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[0337] Um so mehr muß es überraschen, daß gerade eine Anzahl Arbeiter von mehr Bildung, als man durchschnittlich in diesen Kreisen findet, sich zu Trä¬ gern jener Ideen machen und dieselben in das praktische Leben einzuführen unternehmen, ohne einen Mormvnenstaat gründen zu wollen. Der Schlüssel hierzu liegt in dem zu Anfang Gesagten, Es ist die nothwendig gewordene Befriedigung eines brennenden Ehrgeizes, dessen letzter Grund die äußerste Überschätzung des eigenen Werthes und eine entsprechende Geringachtung der Standesgenossen ist. Bevor wir in unsrer Erzählung fortfahren, werfen wir noch einen Blick auf das in dem Antwortschreiben Lassalles an die Leipziger enthaltene Pro¬ gramm. Herr Lassalle benutzt hier zunächst die gute Gelegenheit, seinem Ver¬ druß über die Fortschrittspartei im preußischen Abgeordnetenhaus^ Luft zu machen, derselben Schwäche und Würdelosigkeit ohne Gleichen vorzuwerfen und den Kampf um die Verfassung für ein Unding zu erklären. Auch wenn sie gesiegt hätte, wäre nach ihm sehr zweifelhaft gewesen, ob sie ihren Sieg zur Aufrechterhalung der Vorrechte der Bourgeoisie, oder für die legitimen Inter¬ essen des Arbeiterstandes, d. h. zur Herstellung des allgemeinen Wahlrechts, benutzt haben würde. Die Fortschrittspartei hat nach Lassalle gezeigt, „daß sie vollkommen un¬ fähig ist, auch nur die geringste reelle Entwickelung der Freiheitsinteressen her¬ beizuführen. Sie hat gezeigt, daß sie keinen Anspruch auf die Sympathien der demokratischen Schichten der Bevölkerung hat, und daß sie ohne Sinn und Verständniß für das politische Ehrgefühl ist, welches den Arbeiterstand durch¬ dringen muß. Sie hat endlich mit einem Worte thatsächlich gezeigt, daß sie nichts Anderes ist, als die mit einem andern Namen geschmückte Wiederaufer¬ stehung des verrufenen Gothaerthums." Darum solle die Arbeiterpartei sich selbständig machen und die Fortschritts¬ partei entweder aufwärtsdrän^en, oder sich von ihr entfernen und sie immer mehr in den Sumpf der Bedeutungs- und Machtlosigkeit versinken lassen, in welchem sie schon knietief angekommen sei. Dann wendet sich der Brief zu der die Arbeiter mehr interessirenden socialen Frage und erklärt zuvörderst mit wehmüthigem Lächeln, daß man noch über Gewerbefleiheit und Freizügigkeit discutiren wolle, sei um fünfzig Jahre zu spät. Freizügigkeit und Gewerbefreiheit habe man einfach zu decretiren. Das ist jedenfalls Kraftsprache, zeigt aber eine völlige Unkenntnis; des Standpunktes, auf welchem die Arbeiter stehen. Wer da weiß, wie sehr die An¬ sichten über Gewerbefreiheit unter den letztern auseinandergehen, und daß gerade die Massen, welche in den Fabriken arbeiten, über Mancherlei zu klagen haben mögen, aber mit der Gewerbefreiheit für ihre Person unmittelbar nichts zu schaffen haben, der wird gestehen müssen, daß gerade dies Thema unter den Arbeitern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/337>, abgerufen am 27.09.2024.