Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Gegenwart ein sehr großer Unterschied zwischen Preußen und Belgien, zwischen
der Autorität, welche König Wilhelm und König Leopold behaupten. Wer
aber fragen wollte, wie die große Kraft des Königs der Belgier und die Rat¬
losigkeit der preußischen Regierung zu erklären sind, dem würden die gegen¬
wärtigen Minister Preußens schwerlich eine befriedigende Antwort zu geben
wissen. Das belgische Volk hat in dieser Frage durchaus nicht größeres Ver"
ständniß militärischer Bedürfnisse gezeigt, als das preußische in seiner Militär¬
noth. Wer den Kampf um diese Befestigungen verfolgt hat, die Journalartikel
und Kammerreden, welche an die peinliche Frage rührten, dem wird die all¬
gemeine und innerlichste Abneigung des industriellen Volkes und seiner kauf¬
männischen Hauptstadt sehr lebhaft gegenwärtig sein. Hat nun das preußische
Haus der Abgeordneten, haben die Wähler derselben weniger Empfindung für
Preußens Ehre und Vortheil? Das loyalste Volk des Continents. opferfähig, pa¬
triotisch, seit Generationen stolz auf militärischen Ruhm? -- Und wer und dreister
Stirn eine so schwere Schuld dem Volke aufbürden wollte, wie könnte er solche
Verirrung und Verkümmerung der Volkskraft bei einer loyalen, patriotischen,
kriegerischen Nation erklären? Auf wessen Haupt würde die ungeheure Schuld
lasten, daß das große preußische Volk kleiner empfindet als das kleine belgische?

Es gibt für diese Fragen nur eine Antwort, eine kurze und bündige.
Weil König Leopold, seit er König ist, niemals eine "persönliche" Regierung der
parlamentarischen entgegengestellt hat, weil er nie unpopuläre Minister der
Majorität seiner Volksvertreter zu kläglichem innern Kampfe entgegengestellt
hat, weil er immer staatsklug die eigenen Neigungen und individuellen Wünsche
dem gesetzlich ausgesprochenen Willen seines Volkes untergeordnet hat, deshalb,
und nur deshalb darf er, der parla in entcirische König, jetzt in einer Lebens¬
frage seines Staates die volle Wucht einer persönlichen Ueberzeugung mit Er¬
folg zur Geltung bringen. Und diese persönliche Ueberzeugung vermochte er
gerade deshalb durchzusetzen, weil er auch hierbei die sorgfältigste Rücksicht nicht
allein auf den Buchstaben der Verfassung, sondern auf Sinn und Wesen des
parlamentarischen Regiments nahm, das heißt, weil er ein Ministerium für seine
Pläne gewann, welches die Majorität der Volksvertreter an sich gefesselt hatte.

Und ferner wurde diese Lebensfrage für Belgien durchgesetzt, weil die
Minister des Königs ihr Amt nicht als "Diener" antraten, nicht als gefügige
Werkzeuge eines zufälligen königlichen Willens, nicht als Männer, welche es
Diensttreue nennen, wenn sie sogar ihre persönlichen Ueberzeugungen den Privat¬
ansichten ihres Fürsten zum Opfer bringen, und welche es Selbstverleugnung im
Dienste nennen, wenn sie gegen besseres Erkennen den Meinungen ihres Für¬
sten nachgeben. Denn die belgischen Minister sind in der maßgebenden Mehr¬
zahl Parteiführer gewesen, sie sind die populären Vertreter feststehender Volks¬
überzeugungen und Wünsche, sie dienen ihrem König als Minister, solange und


Gegenwart ein sehr großer Unterschied zwischen Preußen und Belgien, zwischen
der Autorität, welche König Wilhelm und König Leopold behaupten. Wer
aber fragen wollte, wie die große Kraft des Königs der Belgier und die Rat¬
losigkeit der preußischen Regierung zu erklären sind, dem würden die gegen¬
wärtigen Minister Preußens schwerlich eine befriedigende Antwort zu geben
wissen. Das belgische Volk hat in dieser Frage durchaus nicht größeres Ver»
ständniß militärischer Bedürfnisse gezeigt, als das preußische in seiner Militär¬
noth. Wer den Kampf um diese Befestigungen verfolgt hat, die Journalartikel
und Kammerreden, welche an die peinliche Frage rührten, dem wird die all¬
gemeine und innerlichste Abneigung des industriellen Volkes und seiner kauf¬
männischen Hauptstadt sehr lebhaft gegenwärtig sein. Hat nun das preußische
Haus der Abgeordneten, haben die Wähler derselben weniger Empfindung für
Preußens Ehre und Vortheil? Das loyalste Volk des Continents. opferfähig, pa¬
triotisch, seit Generationen stolz auf militärischen Ruhm? — Und wer und dreister
Stirn eine so schwere Schuld dem Volke aufbürden wollte, wie könnte er solche
Verirrung und Verkümmerung der Volkskraft bei einer loyalen, patriotischen,
kriegerischen Nation erklären? Auf wessen Haupt würde die ungeheure Schuld
lasten, daß das große preußische Volk kleiner empfindet als das kleine belgische?

Es gibt für diese Fragen nur eine Antwort, eine kurze und bündige.
Weil König Leopold, seit er König ist, niemals eine „persönliche" Regierung der
parlamentarischen entgegengestellt hat, weil er nie unpopuläre Minister der
Majorität seiner Volksvertreter zu kläglichem innern Kampfe entgegengestellt
hat, weil er immer staatsklug die eigenen Neigungen und individuellen Wünsche
dem gesetzlich ausgesprochenen Willen seines Volkes untergeordnet hat, deshalb,
und nur deshalb darf er, der parla in entcirische König, jetzt in einer Lebens¬
frage seines Staates die volle Wucht einer persönlichen Ueberzeugung mit Er¬
folg zur Geltung bringen. Und diese persönliche Ueberzeugung vermochte er
gerade deshalb durchzusetzen, weil er auch hierbei die sorgfältigste Rücksicht nicht
allein auf den Buchstaben der Verfassung, sondern auf Sinn und Wesen des
parlamentarischen Regiments nahm, das heißt, weil er ein Ministerium für seine
Pläne gewann, welches die Majorität der Volksvertreter an sich gefesselt hatte.

Und ferner wurde diese Lebensfrage für Belgien durchgesetzt, weil die
Minister des Königs ihr Amt nicht als „Diener" antraten, nicht als gefügige
Werkzeuge eines zufälligen königlichen Willens, nicht als Männer, welche es
Diensttreue nennen, wenn sie sogar ihre persönlichen Ueberzeugungen den Privat¬
ansichten ihres Fürsten zum Opfer bringen, und welche es Selbstverleugnung im
Dienste nennen, wenn sie gegen besseres Erkennen den Meinungen ihres Für¬
sten nachgeben. Denn die belgischen Minister sind in der maßgebenden Mehr¬
zahl Parteiführer gewesen, sie sind die populären Vertreter feststehender Volks¬
überzeugungen und Wünsche, sie dienen ihrem König als Minister, solange und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0326" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188353"/>
          <p xml:id="ID_1036" prev="#ID_1035"> Gegenwart ein sehr großer Unterschied zwischen Preußen und Belgien, zwischen<lb/>
der Autorität, welche König Wilhelm und König Leopold behaupten. Wer<lb/>
aber fragen wollte, wie die große Kraft des Königs der Belgier und die Rat¬<lb/>
losigkeit der preußischen Regierung zu erklären sind, dem würden die gegen¬<lb/>
wärtigen Minister Preußens schwerlich eine befriedigende Antwort zu geben<lb/>
wissen. Das belgische Volk hat in dieser Frage durchaus nicht größeres Ver»<lb/>
ständniß militärischer Bedürfnisse gezeigt, als das preußische in seiner Militär¬<lb/>
noth. Wer den Kampf um diese Befestigungen verfolgt hat, die Journalartikel<lb/>
und Kammerreden, welche an die peinliche Frage rührten, dem wird die all¬<lb/>
gemeine und innerlichste Abneigung des industriellen Volkes und seiner kauf¬<lb/>
männischen Hauptstadt sehr lebhaft gegenwärtig sein. Hat nun das preußische<lb/>
Haus der Abgeordneten, haben die Wähler derselben weniger Empfindung für<lb/>
Preußens Ehre und Vortheil? Das loyalste Volk des Continents. opferfähig, pa¬<lb/>
triotisch, seit Generationen stolz auf militärischen Ruhm? &#x2014; Und wer und dreister<lb/>
Stirn eine so schwere Schuld dem Volke aufbürden wollte, wie könnte er solche<lb/>
Verirrung und Verkümmerung der Volkskraft bei einer loyalen, patriotischen,<lb/>
kriegerischen Nation erklären? Auf wessen Haupt würde die ungeheure Schuld<lb/>
lasten, daß das große preußische Volk kleiner empfindet als das kleine belgische?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1037"> Es gibt für diese Fragen nur eine Antwort, eine kurze und bündige.<lb/>
Weil König Leopold, seit er König ist, niemals eine &#x201E;persönliche" Regierung der<lb/>
parlamentarischen entgegengestellt hat, weil er nie unpopuläre Minister der<lb/>
Majorität seiner Volksvertreter zu kläglichem innern Kampfe entgegengestellt<lb/>
hat, weil er immer staatsklug die eigenen Neigungen und individuellen Wünsche<lb/>
dem gesetzlich ausgesprochenen Willen seines Volkes untergeordnet hat, deshalb,<lb/>
und nur deshalb darf er, der parla in entcirische König, jetzt in einer Lebens¬<lb/>
frage seines Staates die volle Wucht einer persönlichen Ueberzeugung mit Er¬<lb/>
folg zur Geltung bringen. Und diese persönliche Ueberzeugung vermochte er<lb/>
gerade deshalb durchzusetzen, weil er auch hierbei die sorgfältigste Rücksicht nicht<lb/>
allein auf den Buchstaben der Verfassung, sondern auf Sinn und Wesen des<lb/>
parlamentarischen Regiments nahm, das heißt, weil er ein Ministerium für seine<lb/>
Pläne gewann, welches die Majorität der Volksvertreter an sich gefesselt hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1038" next="#ID_1039"> Und ferner wurde diese Lebensfrage für Belgien durchgesetzt, weil die<lb/>
Minister des Königs ihr Amt nicht als &#x201E;Diener" antraten, nicht als gefügige<lb/>
Werkzeuge eines zufälligen königlichen Willens, nicht als Männer, welche es<lb/>
Diensttreue nennen, wenn sie sogar ihre persönlichen Ueberzeugungen den Privat¬<lb/>
ansichten ihres Fürsten zum Opfer bringen, und welche es Selbstverleugnung im<lb/>
Dienste nennen, wenn sie gegen besseres Erkennen den Meinungen ihres Für¬<lb/>
sten nachgeben. Denn die belgischen Minister sind in der maßgebenden Mehr¬<lb/>
zahl Parteiführer gewesen, sie sind die populären Vertreter feststehender Volks¬<lb/>
überzeugungen und Wünsche, sie dienen ihrem König als Minister, solange und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0326] Gegenwart ein sehr großer Unterschied zwischen Preußen und Belgien, zwischen der Autorität, welche König Wilhelm und König Leopold behaupten. Wer aber fragen wollte, wie die große Kraft des Königs der Belgier und die Rat¬ losigkeit der preußischen Regierung zu erklären sind, dem würden die gegen¬ wärtigen Minister Preußens schwerlich eine befriedigende Antwort zu geben wissen. Das belgische Volk hat in dieser Frage durchaus nicht größeres Ver» ständniß militärischer Bedürfnisse gezeigt, als das preußische in seiner Militär¬ noth. Wer den Kampf um diese Befestigungen verfolgt hat, die Journalartikel und Kammerreden, welche an die peinliche Frage rührten, dem wird die all¬ gemeine und innerlichste Abneigung des industriellen Volkes und seiner kauf¬ männischen Hauptstadt sehr lebhaft gegenwärtig sein. Hat nun das preußische Haus der Abgeordneten, haben die Wähler derselben weniger Empfindung für Preußens Ehre und Vortheil? Das loyalste Volk des Continents. opferfähig, pa¬ triotisch, seit Generationen stolz auf militärischen Ruhm? — Und wer und dreister Stirn eine so schwere Schuld dem Volke aufbürden wollte, wie könnte er solche Verirrung und Verkümmerung der Volkskraft bei einer loyalen, patriotischen, kriegerischen Nation erklären? Auf wessen Haupt würde die ungeheure Schuld lasten, daß das große preußische Volk kleiner empfindet als das kleine belgische? Es gibt für diese Fragen nur eine Antwort, eine kurze und bündige. Weil König Leopold, seit er König ist, niemals eine „persönliche" Regierung der parlamentarischen entgegengestellt hat, weil er nie unpopuläre Minister der Majorität seiner Volksvertreter zu kläglichem innern Kampfe entgegengestellt hat, weil er immer staatsklug die eigenen Neigungen und individuellen Wünsche dem gesetzlich ausgesprochenen Willen seines Volkes untergeordnet hat, deshalb, und nur deshalb darf er, der parla in entcirische König, jetzt in einer Lebens¬ frage seines Staates die volle Wucht einer persönlichen Ueberzeugung mit Er¬ folg zur Geltung bringen. Und diese persönliche Ueberzeugung vermochte er gerade deshalb durchzusetzen, weil er auch hierbei die sorgfältigste Rücksicht nicht allein auf den Buchstaben der Verfassung, sondern auf Sinn und Wesen des parlamentarischen Regiments nahm, das heißt, weil er ein Ministerium für seine Pläne gewann, welches die Majorität der Volksvertreter an sich gefesselt hatte. Und ferner wurde diese Lebensfrage für Belgien durchgesetzt, weil die Minister des Königs ihr Amt nicht als „Diener" antraten, nicht als gefügige Werkzeuge eines zufälligen königlichen Willens, nicht als Männer, welche es Diensttreue nennen, wenn sie sogar ihre persönlichen Ueberzeugungen den Privat¬ ansichten ihres Fürsten zum Opfer bringen, und welche es Selbstverleugnung im Dienste nennen, wenn sie gegen besseres Erkennen den Meinungen ihres Für¬ sten nachgeben. Denn die belgischen Minister sind in der maßgebenden Mehr¬ zahl Parteiführer gewesen, sie sind die populären Vertreter feststehender Volks¬ überzeugungen und Wünsche, sie dienen ihrem König als Minister, solange und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/326
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/326>, abgerufen am 27.09.2024.