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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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kampfes wider die Vernichtung, wie die Geschichte kein zweites kennt. Ein so
langes Ringen kann man bei den gegenwärtigen Verhältnissen des Weltverkehrs
dem türkischen Reiche nicht voraussagen; wohl aber ist es kein allzukühnes noch
hoffnungsloses Unternehmen, die Existenz des Reiches so lange hinzuhalten,
bis Umstände eintreten, die das Ausbrechen der Katastrophe nicht zugleich auch
zu einer völligen Umwälzung des europäischen Machtsystems werden lassen, und
die England gestatten, in der bevorstehenden Krisis selbst die leitende Rolle zu
übernehmen. Es kommt sür England nicht mehr darauf an, die Existenz der
Türkei um jeden Preis zu Schuhen, sondern daraus, die Rivalen zu lähmen
und zu neutralisiren. Gelingt ihm dies, so wird es, weit entfernt in den
Grundlagen seiner Macht durch Auflösung des türkischen Reiches erschüttert zu
werden, aus derselben die kräftigsten Impulse zu einer verjüngten Politik ge¬
winnen und eine neue Bahn der Machtcntwicklung betreten.

Viel schwieriger und gefährlicher würde für Oestreich eine Veränderung
seiner Politik in der orientalischen Frage sein, und zwar deshalb, weil eine
solche gar nicht durchführbar wäre ohne einen vollständigen Systemwechsel nach
Innen und Außen, der indessen in vielen Beziehungen (und dies würde ihn
allerdings wesentlich erleichtern) nur eine Rückkehr zu dem System wäre, durch
welches Oestreich die starke Macht des Ostens geworden ist. Oestreich ist
erstarkt im Kampfe wider die aufstrebende und andringende Macht des osma-
nischen Reiches. Es hat die Anker seiner Zukunft in die weiten geseg¬
neten Ebenen der mittleren und unteren Donau ausgeworfen. Dort liegt, --
man braucht ihn nicht erst dahin zu verlegen, -- der Schwerpunkt des Reiches,
mag mau auch immerhin in Wien sich sträube", das anzuerkennen, was nur
eine allerdings sehr erklärliche Verblendung über das den eigenen Interessen
Ersprießliche verkennen kann. Denn allerdings verkannt hat man es in Wien
Und wird es verkennen, so lange noch die Möglichkeit da ist, vor dem, was
offen vorliegt, die Augen zu verschließen. Oestreich ist ein Staat, dem vor
vielen andern die Aufgabe geworden ist, eine Kulturarbeit zu vollziehen, freilich
unter besonders schwierigen Umständen. Deutsch in seinem politischen Centrum,
das keineswegs mit seinem natürlichen Schwerpunkt zusammenfällt, ist es aus
einer Masse von Bestandtheilen zusammengesetzt, die, unter'sich verschiedenartig,
vielfach sich einander bekämpfend, doch in der Abneigung, sich dem deutschen
Elemente zu unterwerfen, einig sind. Hier gilt es nicht zu germanisiren, son¬
dern vermittelst der den deutschen Elementen innewohnenden größeren Bildung
zu civilisiren, nicht die verschiedenen Nationen zu verschmelzen, sondern unauf¬
löslich zu einem Staate zu verbinden.

Hierbei ist nun sehr merkwürdig, daß, obschon Oestreich seine große Auf¬
gabe vielfach andern Bestrebungen nachgestellt hat, dessenungeachtet die Macht
der Verhältnisse ein eigenartiges Oestreich geschaffen hat, einen Staat, der in


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kampfes wider die Vernichtung, wie die Geschichte kein zweites kennt. Ein so
langes Ringen kann man bei den gegenwärtigen Verhältnissen des Weltverkehrs
dem türkischen Reiche nicht voraussagen; wohl aber ist es kein allzukühnes noch
hoffnungsloses Unternehmen, die Existenz des Reiches so lange hinzuhalten,
bis Umstände eintreten, die das Ausbrechen der Katastrophe nicht zugleich auch
zu einer völligen Umwälzung des europäischen Machtsystems werden lassen, und
die England gestatten, in der bevorstehenden Krisis selbst die leitende Rolle zu
übernehmen. Es kommt sür England nicht mehr darauf an, die Existenz der
Türkei um jeden Preis zu Schuhen, sondern daraus, die Rivalen zu lähmen
und zu neutralisiren. Gelingt ihm dies, so wird es, weit entfernt in den
Grundlagen seiner Macht durch Auflösung des türkischen Reiches erschüttert zu
werden, aus derselben die kräftigsten Impulse zu einer verjüngten Politik ge¬
winnen und eine neue Bahn der Machtcntwicklung betreten.

Viel schwieriger und gefährlicher würde für Oestreich eine Veränderung
seiner Politik in der orientalischen Frage sein, und zwar deshalb, weil eine
solche gar nicht durchführbar wäre ohne einen vollständigen Systemwechsel nach
Innen und Außen, der indessen in vielen Beziehungen (und dies würde ihn
allerdings wesentlich erleichtern) nur eine Rückkehr zu dem System wäre, durch
welches Oestreich die starke Macht des Ostens geworden ist. Oestreich ist
erstarkt im Kampfe wider die aufstrebende und andringende Macht des osma-
nischen Reiches. Es hat die Anker seiner Zukunft in die weiten geseg¬
neten Ebenen der mittleren und unteren Donau ausgeworfen. Dort liegt, —
man braucht ihn nicht erst dahin zu verlegen, — der Schwerpunkt des Reiches,
mag mau auch immerhin in Wien sich sträube», das anzuerkennen, was nur
eine allerdings sehr erklärliche Verblendung über das den eigenen Interessen
Ersprießliche verkennen kann. Denn allerdings verkannt hat man es in Wien
Und wird es verkennen, so lange noch die Möglichkeit da ist, vor dem, was
offen vorliegt, die Augen zu verschließen. Oestreich ist ein Staat, dem vor
vielen andern die Aufgabe geworden ist, eine Kulturarbeit zu vollziehen, freilich
unter besonders schwierigen Umständen. Deutsch in seinem politischen Centrum,
das keineswegs mit seinem natürlichen Schwerpunkt zusammenfällt, ist es aus
einer Masse von Bestandtheilen zusammengesetzt, die, unter'sich verschiedenartig,
vielfach sich einander bekämpfend, doch in der Abneigung, sich dem deutschen
Elemente zu unterwerfen, einig sind. Hier gilt es nicht zu germanisiren, son¬
dern vermittelst der den deutschen Elementen innewohnenden größeren Bildung
zu civilisiren, nicht die verschiedenen Nationen zu verschmelzen, sondern unauf¬
löslich zu einem Staate zu verbinden.

Hierbei ist nun sehr merkwürdig, daß, obschon Oestreich seine große Auf¬
gabe vielfach andern Bestrebungen nachgestellt hat, dessenungeachtet die Macht
der Verhältnisse ein eigenartiges Oestreich geschaffen hat, einen Staat, der in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/223>, abgerufen am 27.09.2024.