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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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führen; beide, selbst wenn sie durch die allgemeine politische Constellation
genöthigt werden, die Rolle des Feindes mit der des Beschützers zu vertauschen,
sind sie doch auf nichts weniger als auf die Stärkung des Schützlings bedacht. In
dem Augenblicke, wo es einer dieser Mächte, oder auch beiden im Verein, ge¬
länge, die Pforte dauernd ihrem Protectorate zu unterwerfen, wäre das Loos
der Türkei entschieden.

Es läßt sich nicht verkennen, daß den Plänen Rußlands und Frankreichs
durch die zunehmende Zerrüttung der Türkei ein mächtiger Vorschub geleistet
wird, und daß die Gewalt der allmälig, aber unaufhaltsam sich vollziehenden
Thatsache des Auflösungsprocesses, dem das ottomanischc Reich verfallen ist,
von Jahr zu Jahr die Angreifer gegen die Vertheidiger in Vortheil bringt.
Auch England hat den Glauben an die Lebensfähigkeit seines Schützlings ver¬
loren; es fängt an, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß die Stunde näher
rückt, wo die Mächte Europas sich über die Trümmer des ottomanischen Rei¬
ches auseinanderzusetzen haben werden. Und schon hat England den ersten
Schritt gethan, um eine Stellung einzunehmen, von der aus es mit dem Ge¬
fühle verhältnißmäßiger Sicherheit dem Eintritt des von den Einen gehofften.
von den Andern gefürchteten Ereignisses entgegensehen tan". Denn wenn die
englische Intrigue in der griechischen Thronfragc auch zunächst den Zweck hatte,
eine russisch-französische Intrigue zu durchkreuzen, so war doch das gewählte
Mittel geeignet, Frankreich und Nußland darüber ins Klare zu setzen, daß sie
in der Verfolgung ihrer Pläne nicht blos auf die Gegnerschaft, sondern vor¬
kommenden Falls auch auf die Nebenbuhlerschaft Englands zu zählen haben
dürften.

Wenn nun aber auch zuzugeben-ist, daß eine Wandlung in den An¬
schauungen der großbritannischen Politik in Betreff der Lebensfähigkeit der Tür¬
kei sich vorbereitet, so ist dieselbe doch noch nicht so weit vorgeschritten, um
England aus der abwehrenden und conservativen Haltung, die es bisher in
der orientalischen Frage eingenommen hat, in das Lager der aggressiven Mächte
hinüber zu drängen. Sicht sich die englische Regierung auch zu der Ueber¬
zeugung gebracht, daß in der Türkei ein unheilbarer Auflösungsproceß sich voll¬
zieht, so sucht man wenigstens den Proceß, den man nicht rückgängig machen
kann, zu hemmen und die Krisis so viel als möglich zu verzögern, in der
Einsicht, daß die Agonieen der Staaten, wenn sie nicht durch ein gewalt¬
sames Eingreifen abgekürzt werden, oft durch einen Zeitraum von Jahrhunder¬
ten fortdauern. Die Existenz des byzantinischen Reiches ist mehre Jahrhunderte
hindurch ein ununterbrochener Todeskampf gewesen. Stückweise wurden die
Glieder von dem Körper des Reiches abgerissen; es lebte fort, zuletzt nur noch
auf die Hauptstadt beschränkt, und erst mit dem Falle dieser erfüllte es sein
Loos. zugleich ein Beispiel tiefster Verworfenheit und des zähesten Natur-


führen; beide, selbst wenn sie durch die allgemeine politische Constellation
genöthigt werden, die Rolle des Feindes mit der des Beschützers zu vertauschen,
sind sie doch auf nichts weniger als auf die Stärkung des Schützlings bedacht. In
dem Augenblicke, wo es einer dieser Mächte, oder auch beiden im Verein, ge¬
länge, die Pforte dauernd ihrem Protectorate zu unterwerfen, wäre das Loos
der Türkei entschieden.

Es läßt sich nicht verkennen, daß den Plänen Rußlands und Frankreichs
durch die zunehmende Zerrüttung der Türkei ein mächtiger Vorschub geleistet
wird, und daß die Gewalt der allmälig, aber unaufhaltsam sich vollziehenden
Thatsache des Auflösungsprocesses, dem das ottomanischc Reich verfallen ist,
von Jahr zu Jahr die Angreifer gegen die Vertheidiger in Vortheil bringt.
Auch England hat den Glauben an die Lebensfähigkeit seines Schützlings ver¬
loren; es fängt an, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß die Stunde näher
rückt, wo die Mächte Europas sich über die Trümmer des ottomanischen Rei¬
ches auseinanderzusetzen haben werden. Und schon hat England den ersten
Schritt gethan, um eine Stellung einzunehmen, von der aus es mit dem Ge¬
fühle verhältnißmäßiger Sicherheit dem Eintritt des von den Einen gehofften.
von den Andern gefürchteten Ereignisses entgegensehen tan». Denn wenn die
englische Intrigue in der griechischen Thronfragc auch zunächst den Zweck hatte,
eine russisch-französische Intrigue zu durchkreuzen, so war doch das gewählte
Mittel geeignet, Frankreich und Nußland darüber ins Klare zu setzen, daß sie
in der Verfolgung ihrer Pläne nicht blos auf die Gegnerschaft, sondern vor¬
kommenden Falls auch auf die Nebenbuhlerschaft Englands zu zählen haben
dürften.

Wenn nun aber auch zuzugeben-ist, daß eine Wandlung in den An¬
schauungen der großbritannischen Politik in Betreff der Lebensfähigkeit der Tür¬
kei sich vorbereitet, so ist dieselbe doch noch nicht so weit vorgeschritten, um
England aus der abwehrenden und conservativen Haltung, die es bisher in
der orientalischen Frage eingenommen hat, in das Lager der aggressiven Mächte
hinüber zu drängen. Sicht sich die englische Regierung auch zu der Ueber¬
zeugung gebracht, daß in der Türkei ein unheilbarer Auflösungsproceß sich voll¬
zieht, so sucht man wenigstens den Proceß, den man nicht rückgängig machen
kann, zu hemmen und die Krisis so viel als möglich zu verzögern, in der
Einsicht, daß die Agonieen der Staaten, wenn sie nicht durch ein gewalt¬
sames Eingreifen abgekürzt werden, oft durch einen Zeitraum von Jahrhunder¬
ten fortdauern. Die Existenz des byzantinischen Reiches ist mehre Jahrhunderte
hindurch ein ununterbrochener Todeskampf gewesen. Stückweise wurden die
Glieder von dem Körper des Reiches abgerissen; es lebte fort, zuletzt nur noch
auf die Hauptstadt beschränkt, und erst mit dem Falle dieser erfüllte es sein
Loos. zugleich ein Beispiel tiefster Verworfenheit und des zähesten Natur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/222>, abgerufen am 27.09.2024.