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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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geordnete Einladungen erhielten. Der Hofmarschall mit dem Stäbe stellte die
Abgeordneten einzeln dem Großherzog vor, der an jeden einige freundliche
Worte richtete. Moritz Wiggers und die übrigen, sämmtlich zur Linken gehö¬
rigen Vorstandsmitglieder der Abgeordnetenkammer wurden später noch mehr¬
mals zur großherzoglichen Tafel gezogen. Bei einer dieser Gelegenheiten ^
es war unmittelbar nach den Novcmbcrvorgängen in Berlin -- knüpfte nach
aufgehobener Tafel der Großherzog ein längeres politisches Gespräch mit Moritz
Wiggers an. Beide standen in einer Fenstervertiefung, etwas abseits von der
übrigen, noch versammelten Tischgesellschaft. Der Großherzog nahm von den
Borgängen in Preußen Anlaß, sich über den dort ausgebrochenen Conflict und
das von der Regierung ergriffene Mittel zu dessen Lösung zu äußern. Er be¬
merkte, daß er niemals dem in Preußen gegebenen Beispiele folgen, niemals
vom Rechtsboden weichen und zu 'einer Octroyirung schreiten würde. Unter
allen Umständen werde er fest an seinem Worte halten. Er habe sich aller¬
dings eine bestimmte Grenzlinie vorgezeichnet, über welche er nicht hinaus¬
gehen werde. Er hoffe aber auch, daß die Kammer nichts von ihm verlangen
würde, wozu er ohne Verletzung seiner Ueberzeugung sich nicht verstehen könne,
und zähle mit Zuversicht auf ein befriedigendes Ergebniß der bevorstehenden
Verhandlungen.

Ein solches ward auch nach mancherlei Mühen und Zögerungen schließlich
erreicht. Es kam eine Vereinbarung über ein Staatsgrundgcsctz zu Stande,
welches in allen wesentlichen Bestimmungen dem von der Regierung vorgelegten
EntWurfe entsprach. Die allmälig durch Abfall in die Minorität versetzte Linke
votirte zwar bei der Schlußabstimmung gegen das vereinbarte Verfassungswcrt,
weil sie namentlich mit dem Wahlgesetz, welches die Interessenvertretung und
den Census in sich aufgenommen hatte, nicht zufrieden war. Indessen war
die neue Verfassung ein für die bereits stark im Rückschritt begriffene Zeit höchst
freisinniges Werk und jedenfalls von nun an die gesetzliche Grundlage der
weiteren politischen Entwickelung, was auch von der Minorität, obgleich diese
gegen die Annahme gestimmt hatte, mit größter Entschiedenheit geltend ge'
macht ward.

Am 23. August 1849 vollzog der Großherzog Friedrich Franz. in Gegen¬
wart des Ministers v. Lützow und der andern für die Verhandlungen über das
Verfassungswerk von ihm bestellten Commissarien, sowie des Präsidenten und
der beiden Vicepräsidenten der Abgeordnetenkammer als der von letzterer dazu
erwählten Urkundspersoncn, eigenhändig durch seine Namensunterschrift das
vereinbarte Staatsgrundgesetz und legte hierauf vor den genannten Zeugen das
feierliche Gelöbniß ab, die neue Verfassung fest und unverbrüchlich zu halten.
Am 10. October ward mit dem Gesetz wegen Aufhebung der alten landstän¬
dischen Verfassung das vereinbarte Staatsgrundgcsctz im Gesetzblatt verkündigt


geordnete Einladungen erhielten. Der Hofmarschall mit dem Stäbe stellte die
Abgeordneten einzeln dem Großherzog vor, der an jeden einige freundliche
Worte richtete. Moritz Wiggers und die übrigen, sämmtlich zur Linken gehö¬
rigen Vorstandsmitglieder der Abgeordnetenkammer wurden später noch mehr¬
mals zur großherzoglichen Tafel gezogen. Bei einer dieser Gelegenheiten ^
es war unmittelbar nach den Novcmbcrvorgängen in Berlin — knüpfte nach
aufgehobener Tafel der Großherzog ein längeres politisches Gespräch mit Moritz
Wiggers an. Beide standen in einer Fenstervertiefung, etwas abseits von der
übrigen, noch versammelten Tischgesellschaft. Der Großherzog nahm von den
Borgängen in Preußen Anlaß, sich über den dort ausgebrochenen Conflict und
das von der Regierung ergriffene Mittel zu dessen Lösung zu äußern. Er be¬
merkte, daß er niemals dem in Preußen gegebenen Beispiele folgen, niemals
vom Rechtsboden weichen und zu 'einer Octroyirung schreiten würde. Unter
allen Umständen werde er fest an seinem Worte halten. Er habe sich aller¬
dings eine bestimmte Grenzlinie vorgezeichnet, über welche er nicht hinaus¬
gehen werde. Er hoffe aber auch, daß die Kammer nichts von ihm verlangen
würde, wozu er ohne Verletzung seiner Ueberzeugung sich nicht verstehen könne,
und zähle mit Zuversicht auf ein befriedigendes Ergebniß der bevorstehenden
Verhandlungen.

Ein solches ward auch nach mancherlei Mühen und Zögerungen schließlich
erreicht. Es kam eine Vereinbarung über ein Staatsgrundgcsctz zu Stande,
welches in allen wesentlichen Bestimmungen dem von der Regierung vorgelegten
EntWurfe entsprach. Die allmälig durch Abfall in die Minorität versetzte Linke
votirte zwar bei der Schlußabstimmung gegen das vereinbarte Verfassungswcrt,
weil sie namentlich mit dem Wahlgesetz, welches die Interessenvertretung und
den Census in sich aufgenommen hatte, nicht zufrieden war. Indessen war
die neue Verfassung ein für die bereits stark im Rückschritt begriffene Zeit höchst
freisinniges Werk und jedenfalls von nun an die gesetzliche Grundlage der
weiteren politischen Entwickelung, was auch von der Minorität, obgleich diese
gegen die Annahme gestimmt hatte, mit größter Entschiedenheit geltend ge'
macht ward.

Am 23. August 1849 vollzog der Großherzog Friedrich Franz. in Gegen¬
wart des Ministers v. Lützow und der andern für die Verhandlungen über das
Verfassungswerk von ihm bestellten Commissarien, sowie des Präsidenten und
der beiden Vicepräsidenten der Abgeordnetenkammer als der von letzterer dazu
erwählten Urkundspersoncn, eigenhändig durch seine Namensunterschrift das
vereinbarte Staatsgrundgesetz und legte hierauf vor den genannten Zeugen das
feierliche Gelöbniß ab, die neue Verfassung fest und unverbrüchlich zu halten.
Am 10. October ward mit dem Gesetz wegen Aufhebung der alten landstän¬
dischen Verfassung das vereinbarte Staatsgrundgcsctz im Gesetzblatt verkündigt


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[0218] geordnete Einladungen erhielten. Der Hofmarschall mit dem Stäbe stellte die Abgeordneten einzeln dem Großherzog vor, der an jeden einige freundliche Worte richtete. Moritz Wiggers und die übrigen, sämmtlich zur Linken gehö¬ rigen Vorstandsmitglieder der Abgeordnetenkammer wurden später noch mehr¬ mals zur großherzoglichen Tafel gezogen. Bei einer dieser Gelegenheiten ^ es war unmittelbar nach den Novcmbcrvorgängen in Berlin — knüpfte nach aufgehobener Tafel der Großherzog ein längeres politisches Gespräch mit Moritz Wiggers an. Beide standen in einer Fenstervertiefung, etwas abseits von der übrigen, noch versammelten Tischgesellschaft. Der Großherzog nahm von den Borgängen in Preußen Anlaß, sich über den dort ausgebrochenen Conflict und das von der Regierung ergriffene Mittel zu dessen Lösung zu äußern. Er be¬ merkte, daß er niemals dem in Preußen gegebenen Beispiele folgen, niemals vom Rechtsboden weichen und zu 'einer Octroyirung schreiten würde. Unter allen Umständen werde er fest an seinem Worte halten. Er habe sich aller¬ dings eine bestimmte Grenzlinie vorgezeichnet, über welche er nicht hinaus¬ gehen werde. Er hoffe aber auch, daß die Kammer nichts von ihm verlangen würde, wozu er ohne Verletzung seiner Ueberzeugung sich nicht verstehen könne, und zähle mit Zuversicht auf ein befriedigendes Ergebniß der bevorstehenden Verhandlungen. Ein solches ward auch nach mancherlei Mühen und Zögerungen schließlich erreicht. Es kam eine Vereinbarung über ein Staatsgrundgcsctz zu Stande, welches in allen wesentlichen Bestimmungen dem von der Regierung vorgelegten EntWurfe entsprach. Die allmälig durch Abfall in die Minorität versetzte Linke votirte zwar bei der Schlußabstimmung gegen das vereinbarte Verfassungswcrt, weil sie namentlich mit dem Wahlgesetz, welches die Interessenvertretung und den Census in sich aufgenommen hatte, nicht zufrieden war. Indessen war die neue Verfassung ein für die bereits stark im Rückschritt begriffene Zeit höchst freisinniges Werk und jedenfalls von nun an die gesetzliche Grundlage der weiteren politischen Entwickelung, was auch von der Minorität, obgleich diese gegen die Annahme gestimmt hatte, mit größter Entschiedenheit geltend ge' macht ward. Am 23. August 1849 vollzog der Großherzog Friedrich Franz. in Gegen¬ wart des Ministers v. Lützow und der andern für die Verhandlungen über das Verfassungswerk von ihm bestellten Commissarien, sowie des Präsidenten und der beiden Vicepräsidenten der Abgeordnetenkammer als der von letzterer dazu erwählten Urkundspersoncn, eigenhändig durch seine Namensunterschrift das vereinbarte Staatsgrundgesetz und legte hierauf vor den genannten Zeugen das feierliche Gelöbniß ab, die neue Verfassung fest und unverbrüchlich zu halten. Am 10. October ward mit dem Gesetz wegen Aufhebung der alten landstän¬ dischen Verfassung das vereinbarte Staatsgrundgcsctz im Gesetzblatt verkündigt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/218>, abgerufen am 20.10.2024.