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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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ziemlich die Wage halten würden, während in der Wirklichkeit die Schaaren
Napoleons mehr als das Doppelte betrugen. Erst als man dies gewahr
wurde, gab man zögernd und widerwillig den Plan auf, bei Drissa und an
der Dura Stand zu halten, gab man es auf. abwechselnd mit zwei Armeen
angriffs- und vcrthcidigungsweise zu operiren und kam durch den Drang der
Erreignisse, ganz wie es Clausewitz beschreibt, darauf, sich bis Smolensk zurück¬
zuziehen, um hier die beiden Armeen, die nach Wolzogcns Plan gesondert ope--
riren sollten, zu einer zu vereinigen und so dem Feind wenigstens einiger¬
maßen die Spitze bieten zu können. Als dies hier auch nicht gelang, zog man
sich nach Borodino zurück, von Borodino nach Moskau, von Moskau auf die
Straße nach Kalugci, und erst als die Franzosen sich nicht mehr in Moskau be¬
haupten konnten, fand man den Muth zu dem Entschluß, den Angriffskrieg zu
beginnen. Daß dies der wahre Hergang der Sache war, das gibt Prinz Eugen
zum Ueberfluß noch indirect zu, indem er folgende Aeußerung des Grafen
Kutusow unmittelbar vor der Schlacht von Borodino als vollkommen der
Sachlage entsprechend bezeichnet und uns damit das beste Material zur Wider¬
legung seiner Auffassung selbst in die Hand liefert. Der General Kutusow
sagte am Vorabend des Schlachttages zu dem Prinzen, indem er beklagte, daß
man vor Moskau keine befestigte Stellung zur Aufnahme der sich zurückziehenden
Armee vorbereitet habe: "Es muß dem Unkundigen unbegreiflich scheinen, wie
unser Armcecommando alle dahin zielenden Maßregeln versäumt hat. Aber
wir wollen gerecht sein und die Veranlassungen geltend machen. Der Kaiser
hat die Möglichkeit des Rückzugs bis Moskau nicht von Anfang an ins Auge
fassen können und den Obergeneral zu nichts direct ermächtigt, was außer den
Voraussetzungen lag. Nun muß dieser also auf eigene Verantwortung nach
den Umständen handeln. Dies klagte mir Barklay unzählige Male. -- Zuerst
war also Drissa der Nückzugspunkt, Sie haben die Beschaffenheit desselben er¬
kannt. An Smolensk dachte damals kein Mensch. Als wir hinkamen, war
keine Zeit zu Schutzmaßregeln, das einzige Heil in der Netraitc. Nun aber
schien diese der Meinung des Heeres so entgegen, daß Barklay täglich in Zwei¬
feln erlag. Aber hätte er selbst hier oder irgendwo anders auf der langen
Straße bis Moskau eine tüchtige Stellung aussuchen und einrichten lassen
wollen, so ließ sich davon in der Eile doch kein anderes Resultat erwarten
als das gegenwärtige, das heißt: kaum vollendete Schanzen und nicht allzu
bedeutende Streitkräfte. -- Was soll nun aber endlich Kutusow thun, der eben
von Petersburg kommt und sich überzeugt hat, daß in Moskau keine Verthei¬
digung vorbereitet wurde. -- Die dortige Umgegend verschanzen, hatte den
Nationalstolz beleidigt. Man fängt jetzt endlich damit an; doch es geschieht
ohne Plan und die Zeit ist kurz. -- So hat denn im Allgemeinen wohl das
System des Rückzugs, das uns jetzt fast gleich stark mit dem Feinde macht,


ziemlich die Wage halten würden, während in der Wirklichkeit die Schaaren
Napoleons mehr als das Doppelte betrugen. Erst als man dies gewahr
wurde, gab man zögernd und widerwillig den Plan auf, bei Drissa und an
der Dura Stand zu halten, gab man es auf. abwechselnd mit zwei Armeen
angriffs- und vcrthcidigungsweise zu operiren und kam durch den Drang der
Erreignisse, ganz wie es Clausewitz beschreibt, darauf, sich bis Smolensk zurück¬
zuziehen, um hier die beiden Armeen, die nach Wolzogcns Plan gesondert ope--
riren sollten, zu einer zu vereinigen und so dem Feind wenigstens einiger¬
maßen die Spitze bieten zu können. Als dies hier auch nicht gelang, zog man
sich nach Borodino zurück, von Borodino nach Moskau, von Moskau auf die
Straße nach Kalugci, und erst als die Franzosen sich nicht mehr in Moskau be¬
haupten konnten, fand man den Muth zu dem Entschluß, den Angriffskrieg zu
beginnen. Daß dies der wahre Hergang der Sache war, das gibt Prinz Eugen
zum Ueberfluß noch indirect zu, indem er folgende Aeußerung des Grafen
Kutusow unmittelbar vor der Schlacht von Borodino als vollkommen der
Sachlage entsprechend bezeichnet und uns damit das beste Material zur Wider¬
legung seiner Auffassung selbst in die Hand liefert. Der General Kutusow
sagte am Vorabend des Schlachttages zu dem Prinzen, indem er beklagte, daß
man vor Moskau keine befestigte Stellung zur Aufnahme der sich zurückziehenden
Armee vorbereitet habe: „Es muß dem Unkundigen unbegreiflich scheinen, wie
unser Armcecommando alle dahin zielenden Maßregeln versäumt hat. Aber
wir wollen gerecht sein und die Veranlassungen geltend machen. Der Kaiser
hat die Möglichkeit des Rückzugs bis Moskau nicht von Anfang an ins Auge
fassen können und den Obergeneral zu nichts direct ermächtigt, was außer den
Voraussetzungen lag. Nun muß dieser also auf eigene Verantwortung nach
den Umständen handeln. Dies klagte mir Barklay unzählige Male. — Zuerst
war also Drissa der Nückzugspunkt, Sie haben die Beschaffenheit desselben er¬
kannt. An Smolensk dachte damals kein Mensch. Als wir hinkamen, war
keine Zeit zu Schutzmaßregeln, das einzige Heil in der Netraitc. Nun aber
schien diese der Meinung des Heeres so entgegen, daß Barklay täglich in Zwei¬
feln erlag. Aber hätte er selbst hier oder irgendwo anders auf der langen
Straße bis Moskau eine tüchtige Stellung aussuchen und einrichten lassen
wollen, so ließ sich davon in der Eile doch kein anderes Resultat erwarten
als das gegenwärtige, das heißt: kaum vollendete Schanzen und nicht allzu
bedeutende Streitkräfte. — Was soll nun aber endlich Kutusow thun, der eben
von Petersburg kommt und sich überzeugt hat, daß in Moskau keine Verthei¬
digung vorbereitet wurde. — Die dortige Umgegend verschanzen, hatte den
Nationalstolz beleidigt. Man fängt jetzt endlich damit an; doch es geschieht
ohne Plan und die Zeit ist kurz. — So hat denn im Allgemeinen wohl das
System des Rückzugs, das uns jetzt fast gleich stark mit dem Feinde macht,


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[0174] ziemlich die Wage halten würden, während in der Wirklichkeit die Schaaren Napoleons mehr als das Doppelte betrugen. Erst als man dies gewahr wurde, gab man zögernd und widerwillig den Plan auf, bei Drissa und an der Dura Stand zu halten, gab man es auf. abwechselnd mit zwei Armeen angriffs- und vcrthcidigungsweise zu operiren und kam durch den Drang der Erreignisse, ganz wie es Clausewitz beschreibt, darauf, sich bis Smolensk zurück¬ zuziehen, um hier die beiden Armeen, die nach Wolzogcns Plan gesondert ope-- riren sollten, zu einer zu vereinigen und so dem Feind wenigstens einiger¬ maßen die Spitze bieten zu können. Als dies hier auch nicht gelang, zog man sich nach Borodino zurück, von Borodino nach Moskau, von Moskau auf die Straße nach Kalugci, und erst als die Franzosen sich nicht mehr in Moskau be¬ haupten konnten, fand man den Muth zu dem Entschluß, den Angriffskrieg zu beginnen. Daß dies der wahre Hergang der Sache war, das gibt Prinz Eugen zum Ueberfluß noch indirect zu, indem er folgende Aeußerung des Grafen Kutusow unmittelbar vor der Schlacht von Borodino als vollkommen der Sachlage entsprechend bezeichnet und uns damit das beste Material zur Wider¬ legung seiner Auffassung selbst in die Hand liefert. Der General Kutusow sagte am Vorabend des Schlachttages zu dem Prinzen, indem er beklagte, daß man vor Moskau keine befestigte Stellung zur Aufnahme der sich zurückziehenden Armee vorbereitet habe: „Es muß dem Unkundigen unbegreiflich scheinen, wie unser Armcecommando alle dahin zielenden Maßregeln versäumt hat. Aber wir wollen gerecht sein und die Veranlassungen geltend machen. Der Kaiser hat die Möglichkeit des Rückzugs bis Moskau nicht von Anfang an ins Auge fassen können und den Obergeneral zu nichts direct ermächtigt, was außer den Voraussetzungen lag. Nun muß dieser also auf eigene Verantwortung nach den Umständen handeln. Dies klagte mir Barklay unzählige Male. — Zuerst war also Drissa der Nückzugspunkt, Sie haben die Beschaffenheit desselben er¬ kannt. An Smolensk dachte damals kein Mensch. Als wir hinkamen, war keine Zeit zu Schutzmaßregeln, das einzige Heil in der Netraitc. Nun aber schien diese der Meinung des Heeres so entgegen, daß Barklay täglich in Zwei¬ feln erlag. Aber hätte er selbst hier oder irgendwo anders auf der langen Straße bis Moskau eine tüchtige Stellung aussuchen und einrichten lassen wollen, so ließ sich davon in der Eile doch kein anderes Resultat erwarten als das gegenwärtige, das heißt: kaum vollendete Schanzen und nicht allzu bedeutende Streitkräfte. — Was soll nun aber endlich Kutusow thun, der eben von Petersburg kommt und sich überzeugt hat, daß in Moskau keine Verthei¬ digung vorbereitet wurde. — Die dortige Umgegend verschanzen, hatte den Nationalstolz beleidigt. Man fängt jetzt endlich damit an; doch es geschieht ohne Plan und die Zeit ist kurz. — So hat denn im Allgemeinen wohl das System des Rückzugs, das uns jetzt fast gleich stark mit dem Feinde macht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/174>, abgerufen am 27.09.2024.