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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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engeren Anschluß an die Gesinnungsgenossen in andern Staaten hingewie-
sen würden. Denn von allen Mittelstaaten ist nur Baden in der glück¬
lichen Lage, daß die Regierung selbst, was die Fortschrittsvereine zu erstreben
haben, reichlich, vollständig und mit reformatorischer Entschlossenheit schafft. In den
übrigen Staaten wird der Zusammenschluß mit Gleichgesinnten außerhalb des
Staatskörpers vorläufig als beste Förderung für die eigenen Angelegenheiten be¬
griffen. Obgleich also die Schwierigkeiten dieser neuen Entwicklung des National¬
vereins keineswegs unüberwindliche sind, so werden sie doch die ganze bewährte
Umsicht und Arbeitskraft seiner obersten Leiter in Anspruch nehmen und die
Persönlichkeit Benningsens, eine seltene und vortreffliche Mischung von über¬
legter Ruhe und rücksichtsloser Energie, erhält in dieser Lage erhöhte Wichtig¬
keit und neue Aufgaben.

Unterdeß hat die steigende Bewegung im Volke, wie zu erwarten war, auch
die Anfänge einer radikalen Partei herausgezogen, welche im preußischen
Abgeordnetenhause einen Gegensatz gegen die Majorität der liberalen Fractionen
darstellte und in bewegten Arbeiterversammlungen das allgemeine Wahlrecht und
einen Staat, der zugleich Arbeitsgeber sei, forderte.

Was die Arbeiterversannulung.er beschäftigte, alte Forderungen des Jahres
1848, das zeigt besonders eindringlich, wie groß der Fortschritt ist, den unser
öffentliches Leben seit fünfzehn Jahren gemacht hat. Es ist gar nicht zu verwun¬
dern , wenn in dieser Zeit großer Mißstimmung einem Agitator gelang, die
arbeitenden Classen durch socialistische Ideen zu erregen. Wie gründlich auch
jene Lehre durch erprobte Sätze der Nationalökonomie und stärkeren Pulsschlag
des Verkehrslebens widerlegt worden ist, sie wird wie ein Gespenst in ähnlichen
Zeitlagen noch mehr als einmal die Unwissenden verwirren, die Aengst-
Uchen erschrecken. Aber während vor fünfzehn Jahren der Widerstand der
Verständigen dagegen unsicher und zögernd war, und die Furcht vor dem
Socialismus mehr als etwas Anderes die folgende Reaction gestützt hat, wer¬
den jetzt die entsprechenden Versuche durch die Männer der liberalen Partei
selbst auf dialektischen Wege, in Volksversammlungen und durch die Presse be¬
kämpft. Die Führer der liberalen Opposition sind zu gleicher Zeit die kräf¬
tigsten Streiter gegen das Schmarotzergcwächs einer falschen "Freiheit". Und
obgleich man die Wichtigkeit des Streites und die Gefahren einer Verbildung
der arbeitenden Classen gegenwärtig nicht unterschätzt, so ist doch das Ver-
wuen zu der Macht des gesunden Menschenverstandes allgemein; und der
Harrys ge^n die socialistischen Neigungen wird durch die besonnene Majorität
der Arbeiter unterstützt.

Ob im preußischen Abgeordnetenhause das erhöhte Selbstgefühl der Ra-
dicalen eine Trennung der Opposition herbeiführen wird, ist noch nicht ent¬
schieden. Diese Trennung, einst unvermeidlich, wäre jetzt die größte Gefahr


Grenzboten II. 1363. 20

engeren Anschluß an die Gesinnungsgenossen in andern Staaten hingewie-
sen würden. Denn von allen Mittelstaaten ist nur Baden in der glück¬
lichen Lage, daß die Regierung selbst, was die Fortschrittsvereine zu erstreben
haben, reichlich, vollständig und mit reformatorischer Entschlossenheit schafft. In den
übrigen Staaten wird der Zusammenschluß mit Gleichgesinnten außerhalb des
Staatskörpers vorläufig als beste Förderung für die eigenen Angelegenheiten be¬
griffen. Obgleich also die Schwierigkeiten dieser neuen Entwicklung des National¬
vereins keineswegs unüberwindliche sind, so werden sie doch die ganze bewährte
Umsicht und Arbeitskraft seiner obersten Leiter in Anspruch nehmen und die
Persönlichkeit Benningsens, eine seltene und vortreffliche Mischung von über¬
legter Ruhe und rücksichtsloser Energie, erhält in dieser Lage erhöhte Wichtig¬
keit und neue Aufgaben.

Unterdeß hat die steigende Bewegung im Volke, wie zu erwarten war, auch
die Anfänge einer radikalen Partei herausgezogen, welche im preußischen
Abgeordnetenhause einen Gegensatz gegen die Majorität der liberalen Fractionen
darstellte und in bewegten Arbeiterversammlungen das allgemeine Wahlrecht und
einen Staat, der zugleich Arbeitsgeber sei, forderte.

Was die Arbeiterversannulung.er beschäftigte, alte Forderungen des Jahres
1848, das zeigt besonders eindringlich, wie groß der Fortschritt ist, den unser
öffentliches Leben seit fünfzehn Jahren gemacht hat. Es ist gar nicht zu verwun¬
dern , wenn in dieser Zeit großer Mißstimmung einem Agitator gelang, die
arbeitenden Classen durch socialistische Ideen zu erregen. Wie gründlich auch
jene Lehre durch erprobte Sätze der Nationalökonomie und stärkeren Pulsschlag
des Verkehrslebens widerlegt worden ist, sie wird wie ein Gespenst in ähnlichen
Zeitlagen noch mehr als einmal die Unwissenden verwirren, die Aengst-
Uchen erschrecken. Aber während vor fünfzehn Jahren der Widerstand der
Verständigen dagegen unsicher und zögernd war, und die Furcht vor dem
Socialismus mehr als etwas Anderes die folgende Reaction gestützt hat, wer¬
den jetzt die entsprechenden Versuche durch die Männer der liberalen Partei
selbst auf dialektischen Wege, in Volksversammlungen und durch die Presse be¬
kämpft. Die Führer der liberalen Opposition sind zu gleicher Zeit die kräf¬
tigsten Streiter gegen das Schmarotzergcwächs einer falschen „Freiheit". Und
obgleich man die Wichtigkeit des Streites und die Gefahren einer Verbildung
der arbeitenden Classen gegenwärtig nicht unterschätzt, so ist doch das Ver-
wuen zu der Macht des gesunden Menschenverstandes allgemein; und der
Harrys ge^n die socialistischen Neigungen wird durch die besonnene Majorität
der Arbeiter unterstützt.

Ob im preußischen Abgeordnetenhause das erhöhte Selbstgefühl der Ra-
dicalen eine Trennung der Opposition herbeiführen wird, ist noch nicht ent¬
schieden. Diese Trennung, einst unvermeidlich, wäre jetzt die größte Gefahr


Grenzboten II. 1363. 20
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[0157] engeren Anschluß an die Gesinnungsgenossen in andern Staaten hingewie- sen würden. Denn von allen Mittelstaaten ist nur Baden in der glück¬ lichen Lage, daß die Regierung selbst, was die Fortschrittsvereine zu erstreben haben, reichlich, vollständig und mit reformatorischer Entschlossenheit schafft. In den übrigen Staaten wird der Zusammenschluß mit Gleichgesinnten außerhalb des Staatskörpers vorläufig als beste Förderung für die eigenen Angelegenheiten be¬ griffen. Obgleich also die Schwierigkeiten dieser neuen Entwicklung des National¬ vereins keineswegs unüberwindliche sind, so werden sie doch die ganze bewährte Umsicht und Arbeitskraft seiner obersten Leiter in Anspruch nehmen und die Persönlichkeit Benningsens, eine seltene und vortreffliche Mischung von über¬ legter Ruhe und rücksichtsloser Energie, erhält in dieser Lage erhöhte Wichtig¬ keit und neue Aufgaben. Unterdeß hat die steigende Bewegung im Volke, wie zu erwarten war, auch die Anfänge einer radikalen Partei herausgezogen, welche im preußischen Abgeordnetenhause einen Gegensatz gegen die Majorität der liberalen Fractionen darstellte und in bewegten Arbeiterversammlungen das allgemeine Wahlrecht und einen Staat, der zugleich Arbeitsgeber sei, forderte. Was die Arbeiterversannulung.er beschäftigte, alte Forderungen des Jahres 1848, das zeigt besonders eindringlich, wie groß der Fortschritt ist, den unser öffentliches Leben seit fünfzehn Jahren gemacht hat. Es ist gar nicht zu verwun¬ dern , wenn in dieser Zeit großer Mißstimmung einem Agitator gelang, die arbeitenden Classen durch socialistische Ideen zu erregen. Wie gründlich auch jene Lehre durch erprobte Sätze der Nationalökonomie und stärkeren Pulsschlag des Verkehrslebens widerlegt worden ist, sie wird wie ein Gespenst in ähnlichen Zeitlagen noch mehr als einmal die Unwissenden verwirren, die Aengst- Uchen erschrecken. Aber während vor fünfzehn Jahren der Widerstand der Verständigen dagegen unsicher und zögernd war, und die Furcht vor dem Socialismus mehr als etwas Anderes die folgende Reaction gestützt hat, wer¬ den jetzt die entsprechenden Versuche durch die Männer der liberalen Partei selbst auf dialektischen Wege, in Volksversammlungen und durch die Presse be¬ kämpft. Die Führer der liberalen Opposition sind zu gleicher Zeit die kräf¬ tigsten Streiter gegen das Schmarotzergcwächs einer falschen „Freiheit". Und obgleich man die Wichtigkeit des Streites und die Gefahren einer Verbildung der arbeitenden Classen gegenwärtig nicht unterschätzt, so ist doch das Ver- wuen zu der Macht des gesunden Menschenverstandes allgemein; und der Harrys ge^n die socialistischen Neigungen wird durch die besonnene Majorität der Arbeiter unterstützt. Ob im preußischen Abgeordnetenhause das erhöhte Selbstgefühl der Ra- dicalen eine Trennung der Opposition herbeiführen wird, ist noch nicht ent¬ schieden. Diese Trennung, einst unvermeidlich, wäre jetzt die größte Gefahr Grenzboten II. 1363. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/157>, abgerufen am 20.10.2024.