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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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"und wenn es auch nur ein halbes Kind wäre", und siehe da, Gott schenkt
U)r einen Knaben mit halbem Kopf, halber Nase, halbem Munde, halbem Kör¬
per, einer Hand und einem Fuße. Ebenso erzählen Stücke unsrer Sammlung
von Menschen, denen die Gabe verliehen ist, daß Alles geschieht, was sie
wünschen.

Dagegen ist die dem germanischen Märchen sehr geläufige Vorstellung der
Verwünschung und Erlösung dem griechischen, soweit es sich nach Hahns Mitthei¬
lungen übersehen läßt, völlig fremd. Diese Vorstellung läßt sich in drei Züge
auflösen: die Verzauberung durch den Wunsch eines Feindes, die Aufstellung der
Bedingung, unter welcher der Zauber aufhören soll, endlich die Erfüllung dieser
Bedingung durch einen Dritten, also die Erlösung des Verzauberter. Allerdings
finden sich nun Verzauberung wie Entzauberung in dem neugriechischen Mär¬
chen nicht selten, allein das das Svnderwcscn der germanischen Verwünschung
bildende zweite oder mittlere Glied fehlt hier durchaus. Am auffallendsten tritt
dies in dem griechischen Thierschwager (Ur. 25 der Sammlung) hervor, wo von
der Erlösung der verzauberten Schwäger, welche in dem deutschen Märchen den
Schwerpunkt bildet, nicht entfernt die Rede ist.

Jenes Mittelglied dürfen wir aber nicht als der christlichen Anschauung ent-
nommen betrachten, weil es schon die Grundanschauung zweier Hauptsagen der
Edda abgibt. Denn als Odin der Brunhild den Zaubcrdvrn ins Haupt stach,
"gebot er dem, ihren Schlaf zu brechen, der immer furchtlos erfunden würde".
Darauf umgibt er den Saal, in welchem die Schlafende liegt, mit der flam¬
menden Wabberlvhe und bestimmt, darüber reiten solle nur der Recke, der das
Gold ihr brächte im Bette Fasnirs. Nachdem nun Sigurd diese Bedingung
erfüllt hat, betrachtet sie den Zug. daß er ihr auch den Schläfdorn aus dem
Haupte zieht, als so unwesentlich, daß sie ihn gar nicht einmal erwähnt.

Auch wenn Hel erklärt, Baldur unter der Bedingung aus ihrem Reich
entlassen zu wollen, daß alle Dinge um denselben weinen, so seht dies die
Vorstellung einer gewissermaßen vertragsmäßigen Entzauberung voraus, da
^eher Zug der Sage sich ohne dieselbe nicht wohl hätte bilden tonnen.

Das Fehlen dieser Märchengattung im neugriechischen ist aber um so auf¬
fallender , als die hier sehr zahlreich vertretene Brautwcttc ganz aus derselben
Grundlage ruht. Der angeführte wichtige Unterschied zwischen dem deutschen
und dem neugriechischen Märchenkreise findet sich auch in den serbischen, wala-
chlschen und lithauischen Märchen, und ebenso in den albanesischen, und zwar
stehen dieselben hier auf der griechischen Seite. Da nun der althellenischer
Götter- und Heldensage die Vorstellung der Verwünschung und der gleichsam
vertragsmäßigen Erlösung ebenfalls fremd ist, so verhalten sich hierin das deutsche
und das griechische Märchen wie die ihnen entsprechenden Göttcrkrcisc. Diese
Uebereinstimmung der zusammengehörenden Sagen und Märchen würde aber


»und wenn es auch nur ein halbes Kind wäre", und siehe da, Gott schenkt
U)r einen Knaben mit halbem Kopf, halber Nase, halbem Munde, halbem Kör¬
per, einer Hand und einem Fuße. Ebenso erzählen Stücke unsrer Sammlung
von Menschen, denen die Gabe verliehen ist, daß Alles geschieht, was sie
wünschen.

Dagegen ist die dem germanischen Märchen sehr geläufige Vorstellung der
Verwünschung und Erlösung dem griechischen, soweit es sich nach Hahns Mitthei¬
lungen übersehen läßt, völlig fremd. Diese Vorstellung läßt sich in drei Züge
auflösen: die Verzauberung durch den Wunsch eines Feindes, die Aufstellung der
Bedingung, unter welcher der Zauber aufhören soll, endlich die Erfüllung dieser
Bedingung durch einen Dritten, also die Erlösung des Verzauberter. Allerdings
finden sich nun Verzauberung wie Entzauberung in dem neugriechischen Mär¬
chen nicht selten, allein das das Svnderwcscn der germanischen Verwünschung
bildende zweite oder mittlere Glied fehlt hier durchaus. Am auffallendsten tritt
dies in dem griechischen Thierschwager (Ur. 25 der Sammlung) hervor, wo von
der Erlösung der verzauberten Schwäger, welche in dem deutschen Märchen den
Schwerpunkt bildet, nicht entfernt die Rede ist.

Jenes Mittelglied dürfen wir aber nicht als der christlichen Anschauung ent-
nommen betrachten, weil es schon die Grundanschauung zweier Hauptsagen der
Edda abgibt. Denn als Odin der Brunhild den Zaubcrdvrn ins Haupt stach,
„gebot er dem, ihren Schlaf zu brechen, der immer furchtlos erfunden würde".
Darauf umgibt er den Saal, in welchem die Schlafende liegt, mit der flam¬
menden Wabberlvhe und bestimmt, darüber reiten solle nur der Recke, der das
Gold ihr brächte im Bette Fasnirs. Nachdem nun Sigurd diese Bedingung
erfüllt hat, betrachtet sie den Zug. daß er ihr auch den Schläfdorn aus dem
Haupte zieht, als so unwesentlich, daß sie ihn gar nicht einmal erwähnt.

Auch wenn Hel erklärt, Baldur unter der Bedingung aus ihrem Reich
entlassen zu wollen, daß alle Dinge um denselben weinen, so seht dies die
Vorstellung einer gewissermaßen vertragsmäßigen Entzauberung voraus, da
^eher Zug der Sage sich ohne dieselbe nicht wohl hätte bilden tonnen.

Das Fehlen dieser Märchengattung im neugriechischen ist aber um so auf¬
fallender , als die hier sehr zahlreich vertretene Brautwcttc ganz aus derselben
Grundlage ruht. Der angeführte wichtige Unterschied zwischen dem deutschen
und dem neugriechischen Märchenkreise findet sich auch in den serbischen, wala-
chlschen und lithauischen Märchen, und ebenso in den albanesischen, und zwar
stehen dieselben hier auf der griechischen Seite. Da nun der althellenischer
Götter- und Heldensage die Vorstellung der Verwünschung und der gleichsam
vertragsmäßigen Erlösung ebenfalls fremd ist, so verhalten sich hierin das deutsche
und das griechische Märchen wie die ihnen entsprechenden Göttcrkrcisc. Diese
Uebereinstimmung der zusammengehörenden Sagen und Märchen würde aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/147>, abgerufen am 27.09.2024.