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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Wir halten den von Hahn versuchten Nachweis dieser übereinstimmenden
und scharfbegrenzten Berührungspunkte des deutsch-griechischen Volksmärchens
mit der hellenisch-germanischen Heroensage für das beachtenswertheste Ergebniß
der in der Einleitung niedergelegten Arbeit, einmal, weil er das hohe Alter
und die festen Formen des deutsch-griechischen Märchens zu bezeugen geeignet
scheint, dann, weil er zeigt, welche wichtige Beihülfe die Erforschung der Ur¬
geschichte von der richtig angegriffnen Untersuchung des noch lebenden Märchens
erwarten darf.

Vorläufig scheint wenigstens der Beweis geführt, das; die mit dem argi-
vischen und dem minyschen Sagenkreise und deren germanischen Gegenbildern
gleich verwandten deutschen und neugriechischen Volksmärchen nicht in geschicht¬
licher Zeit aus Indien nach Deutschland und Griechenland eingewandert
sein können.

Schließlich werfen wir mit dem Verfasser noch einen Blick auf das Ver¬
hältniß des neugriechischen Märchens zu dem deutschen. Zwischen beiden zeigt
sich trotz aller Verschiedenheit der Lebensumstände und des Charakters der bei¬
den Volker eine überraschende Uebereinstimmung der Lebensanschauungen und
der Erzählungsweise im Ganzen wie im Einzelnen, und der Leser wird nicht
selten über das Deutschthum der griechischen Formen dieser Erzählungen (die
nicht von Hahn selbst dem Volksmunde nachgeschrieben, sondern von ihm nur
getreu übertragen sind) lebhaftes Erstaunen empfinden.

Trotz dieser großen Uebereinstimmung in Stoff und Form aber zeigen sich
zwischen dem deutschen und dem griechischen Märchen bei näherer Prüfung
mehre tiefgreifende Verschiedenheiten, deren hauptsächlichste wir nun ins Auge
fassen wollen.

Das deutsche Märchen hat mit dem griechischen die Vorstellung von der
Kraft des Wunsches gemein, vermöge deren unter gewissen Bedingungen der
Wunsch genau in der Form, in der die Betreffenden ihn aussprechen, in Er¬
füllung geht. Bei den Albanesen hat dieser Glaube sogar ein besonderes
Wesen gebildet, welches Ora heißt. Diese geht beständig im Lande herum,
um auf die Segnungen und Verwünschungen der Menschen zu achten und alle,
welche sie hört, zu erfüllen. Daher schließen die wandernden Bettler dieser
Gegenden ihre Danksagung und ihren Segenswunsch für erhaltene Gaben in
der Regel mit den Worten! "Möge die Ora vorübergehen und es geschehen!"
Auf dieser Anschauung beruht die in den neugriechischen Märchen häusig wieder¬
kehrende Formel des Wunsches nach Kindern, vermöge deren das Kind genau
in der Gestalt geboren wird, in der es gewünscht worden ist. Eine Frau, die
sich nach einem Kinde sehnt, betet: "lieber Gott, gib mir ein Kind, und wenn
es auch nur ein Zicklein wäre." Da wird ihr Leib gesegnet, aber statt eines
Kindes gebiert sie ein Zicklein. Eine andere Kinderlose bittet in ähnlicher Weise-


Wir halten den von Hahn versuchten Nachweis dieser übereinstimmenden
und scharfbegrenzten Berührungspunkte des deutsch-griechischen Volksmärchens
mit der hellenisch-germanischen Heroensage für das beachtenswertheste Ergebniß
der in der Einleitung niedergelegten Arbeit, einmal, weil er das hohe Alter
und die festen Formen des deutsch-griechischen Märchens zu bezeugen geeignet
scheint, dann, weil er zeigt, welche wichtige Beihülfe die Erforschung der Ur¬
geschichte von der richtig angegriffnen Untersuchung des noch lebenden Märchens
erwarten darf.

Vorläufig scheint wenigstens der Beweis geführt, das; die mit dem argi-
vischen und dem minyschen Sagenkreise und deren germanischen Gegenbildern
gleich verwandten deutschen und neugriechischen Volksmärchen nicht in geschicht¬
licher Zeit aus Indien nach Deutschland und Griechenland eingewandert
sein können.

Schließlich werfen wir mit dem Verfasser noch einen Blick auf das Ver¬
hältniß des neugriechischen Märchens zu dem deutschen. Zwischen beiden zeigt
sich trotz aller Verschiedenheit der Lebensumstände und des Charakters der bei¬
den Volker eine überraschende Uebereinstimmung der Lebensanschauungen und
der Erzählungsweise im Ganzen wie im Einzelnen, und der Leser wird nicht
selten über das Deutschthum der griechischen Formen dieser Erzählungen (die
nicht von Hahn selbst dem Volksmunde nachgeschrieben, sondern von ihm nur
getreu übertragen sind) lebhaftes Erstaunen empfinden.

Trotz dieser großen Uebereinstimmung in Stoff und Form aber zeigen sich
zwischen dem deutschen und dem griechischen Märchen bei näherer Prüfung
mehre tiefgreifende Verschiedenheiten, deren hauptsächlichste wir nun ins Auge
fassen wollen.

Das deutsche Märchen hat mit dem griechischen die Vorstellung von der
Kraft des Wunsches gemein, vermöge deren unter gewissen Bedingungen der
Wunsch genau in der Form, in der die Betreffenden ihn aussprechen, in Er¬
füllung geht. Bei den Albanesen hat dieser Glaube sogar ein besonderes
Wesen gebildet, welches Ora heißt. Diese geht beständig im Lande herum,
um auf die Segnungen und Verwünschungen der Menschen zu achten und alle,
welche sie hört, zu erfüllen. Daher schließen die wandernden Bettler dieser
Gegenden ihre Danksagung und ihren Segenswunsch für erhaltene Gaben in
der Regel mit den Worten! „Möge die Ora vorübergehen und es geschehen!"
Auf dieser Anschauung beruht die in den neugriechischen Märchen häusig wieder¬
kehrende Formel des Wunsches nach Kindern, vermöge deren das Kind genau
in der Gestalt geboren wird, in der es gewünscht worden ist. Eine Frau, die
sich nach einem Kinde sehnt, betet: „lieber Gott, gib mir ein Kind, und wenn
es auch nur ein Zicklein wäre." Da wird ihr Leib gesegnet, aber statt eines
Kindes gebiert sie ein Zicklein. Eine andere Kinderlose bittet in ähnlicher Weise-


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[0146] Wir halten den von Hahn versuchten Nachweis dieser übereinstimmenden und scharfbegrenzten Berührungspunkte des deutsch-griechischen Volksmärchens mit der hellenisch-germanischen Heroensage für das beachtenswertheste Ergebniß der in der Einleitung niedergelegten Arbeit, einmal, weil er das hohe Alter und die festen Formen des deutsch-griechischen Märchens zu bezeugen geeignet scheint, dann, weil er zeigt, welche wichtige Beihülfe die Erforschung der Ur¬ geschichte von der richtig angegriffnen Untersuchung des noch lebenden Märchens erwarten darf. Vorläufig scheint wenigstens der Beweis geführt, das; die mit dem argi- vischen und dem minyschen Sagenkreise und deren germanischen Gegenbildern gleich verwandten deutschen und neugriechischen Volksmärchen nicht in geschicht¬ licher Zeit aus Indien nach Deutschland und Griechenland eingewandert sein können. Schließlich werfen wir mit dem Verfasser noch einen Blick auf das Ver¬ hältniß des neugriechischen Märchens zu dem deutschen. Zwischen beiden zeigt sich trotz aller Verschiedenheit der Lebensumstände und des Charakters der bei¬ den Volker eine überraschende Uebereinstimmung der Lebensanschauungen und der Erzählungsweise im Ganzen wie im Einzelnen, und der Leser wird nicht selten über das Deutschthum der griechischen Formen dieser Erzählungen (die nicht von Hahn selbst dem Volksmunde nachgeschrieben, sondern von ihm nur getreu übertragen sind) lebhaftes Erstaunen empfinden. Trotz dieser großen Uebereinstimmung in Stoff und Form aber zeigen sich zwischen dem deutschen und dem griechischen Märchen bei näherer Prüfung mehre tiefgreifende Verschiedenheiten, deren hauptsächlichste wir nun ins Auge fassen wollen. Das deutsche Märchen hat mit dem griechischen die Vorstellung von der Kraft des Wunsches gemein, vermöge deren unter gewissen Bedingungen der Wunsch genau in der Form, in der die Betreffenden ihn aussprechen, in Er¬ füllung geht. Bei den Albanesen hat dieser Glaube sogar ein besonderes Wesen gebildet, welches Ora heißt. Diese geht beständig im Lande herum, um auf die Segnungen und Verwünschungen der Menschen zu achten und alle, welche sie hört, zu erfüllen. Daher schließen die wandernden Bettler dieser Gegenden ihre Danksagung und ihren Segenswunsch für erhaltene Gaben in der Regel mit den Worten! „Möge die Ora vorübergehen und es geschehen!" Auf dieser Anschauung beruht die in den neugriechischen Märchen häusig wieder¬ kehrende Formel des Wunsches nach Kindern, vermöge deren das Kind genau in der Gestalt geboren wird, in der es gewünscht worden ist. Eine Frau, die sich nach einem Kinde sehnt, betet: „lieber Gott, gib mir ein Kind, und wenn es auch nur ein Zicklein wäre." Da wird ihr Leib gesegnet, aber statt eines Kindes gebiert sie ein Zicklein. Eine andere Kinderlose bittet in ähnlicher Weise-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/146>, abgerufen am 27.09.2024.