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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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hierauf sollte man erwarten, den neugriechischen Märchenschatz mit zahlreichen
astatischen, d. h, türkischen und arabischen Elementen nicht aber, ihn mit deutschen
vermischt zu finden. Ersteres ist jedoch nicht der Fall. Im Gegentheil, weitaus
der größte Theil der hier gebotenen, meist aus abgelegenen cpirotischen Gebirgs-
dorf'
ern, dann von den Cykladen und aus Nordeuböa stammenden Märchen sind
Varianten zu den grimmschen Kinder- und Hau^marcher. und andrerseits er¬
gibt ein Vergleich jener mit der Sammlung von Tausend und Eine Nacht und
mit den althellenischer Göttermythen die auffallende Thatsache, daß, wenige
Ausnahmen abgerechnet, das neugriechische Märchen zu beiden in keinem nähe¬
ren Verhältniß steht, als unser deutsches.

So gliedert sich die hahnsche Sammlung auf das innigste in die Familie
des europäischen Märchens ein. Von den 71 Nummern derselben, welche hier
in Rechnung kommen, erinnern made weniger als ö7 an Stücke der grimmschen
Sammlung. Ebenso nahe verwandt sind die von Hahn hier mitgetheilten
Märchen, die allerdings nur ein Bruchstück des neugriechischen Märchenschatzes
ausmachen, aber, da er sie in drei weit von einander entfernten Landestheilen
sammelte, wahrscheinlich sämmtliche Gemeinmärchen umfassen, mit den von
Schott aufgezeichneten rumänischen; denn Von den 27 Nummern derselben er¬
geben sich 23 als griechische Gegenbilder. Ziemlich ebenso eng endlich schließen
sich die in Basilcs Pentamerome enthaltenen SO neapolitanischen Märchen an
die hahnsche Sammlung an, indem dieselbe 39 Gegenbilder zu jenen aufweist,
wogegen Wuth serbische und Schleichers lithauische Märchen bedeutend weniger
Vergleichspunkte bieten.

Von großem Interesse ist die folgende, allerdings noch weiterer Unter¬
suchung bedürfende Thatsache.

Die deutsche Heldensage zerfällt, wie bekannt, in drei Hauptgruppein die
nach Siegfried oder den Nibelungen, die nach Dietrich von Bern oder den
Amelungcn und die nach Kudruu benannte. Suchen wir in dem althellenischer
Sagenschatze nacb Gegcnbildcrn zu diesen drei Gruppen, so finden wir. daß
die erste dem argivisch-thebanischcn Sagenkreise Von den Melampodiden und
Oedipvdiden, die zweite dem attischen von den Erechthiden, die dritte dem home¬
rischen, in Ilias und Odyssee enthaltenen Sagenkreise entspricht. Wie ver¬
halten sich nun der deutsche und der neugriechische Märchenschatz zu diesen unter
einander verwandten althellenischer und altgermanischei, Sagengruppcn? Die
skhr merkwürdige, von Hahn in der Einleitung ausführlich begründete Ant¬
wort lautet: "Sowohl der deutsche als der griechische Märchcnkreiö zeigen nur
Verwandtschaft mit dem ersten der erwähnten hellenisch-germanischen Sagen¬
kreise, dem der Nibelungen-Melampodidcn, dagegen leine Verwandtschaft in
den Hauptzügen und nur sparsame und schwache in den Nebenzügen des zwei¬
ten und dritten Sagenkreises."


hierauf sollte man erwarten, den neugriechischen Märchenschatz mit zahlreichen
astatischen, d. h, türkischen und arabischen Elementen nicht aber, ihn mit deutschen
vermischt zu finden. Ersteres ist jedoch nicht der Fall. Im Gegentheil, weitaus
der größte Theil der hier gebotenen, meist aus abgelegenen cpirotischen Gebirgs-
dorf'
ern, dann von den Cykladen und aus Nordeuböa stammenden Märchen sind
Varianten zu den grimmschen Kinder- und Hau^marcher. und andrerseits er¬
gibt ein Vergleich jener mit der Sammlung von Tausend und Eine Nacht und
mit den althellenischer Göttermythen die auffallende Thatsache, daß, wenige
Ausnahmen abgerechnet, das neugriechische Märchen zu beiden in keinem nähe¬
ren Verhältniß steht, als unser deutsches.

So gliedert sich die hahnsche Sammlung auf das innigste in die Familie
des europäischen Märchens ein. Von den 71 Nummern derselben, welche hier
in Rechnung kommen, erinnern made weniger als ö7 an Stücke der grimmschen
Sammlung. Ebenso nahe verwandt sind die von Hahn hier mitgetheilten
Märchen, die allerdings nur ein Bruchstück des neugriechischen Märchenschatzes
ausmachen, aber, da er sie in drei weit von einander entfernten Landestheilen
sammelte, wahrscheinlich sämmtliche Gemeinmärchen umfassen, mit den von
Schott aufgezeichneten rumänischen; denn Von den 27 Nummern derselben er¬
geben sich 23 als griechische Gegenbilder. Ziemlich ebenso eng endlich schließen
sich die in Basilcs Pentamerome enthaltenen SO neapolitanischen Märchen an
die hahnsche Sammlung an, indem dieselbe 39 Gegenbilder zu jenen aufweist,
wogegen Wuth serbische und Schleichers lithauische Märchen bedeutend weniger
Vergleichspunkte bieten.

Von großem Interesse ist die folgende, allerdings noch weiterer Unter¬
suchung bedürfende Thatsache.

Die deutsche Heldensage zerfällt, wie bekannt, in drei Hauptgruppein die
nach Siegfried oder den Nibelungen, die nach Dietrich von Bern oder den
Amelungcn und die nach Kudruu benannte. Suchen wir in dem althellenischer
Sagenschatze nacb Gegcnbildcrn zu diesen drei Gruppen, so finden wir. daß
die erste dem argivisch-thebanischcn Sagenkreise Von den Melampodiden und
Oedipvdiden, die zweite dem attischen von den Erechthiden, die dritte dem home¬
rischen, in Ilias und Odyssee enthaltenen Sagenkreise entspricht. Wie ver¬
halten sich nun der deutsche und der neugriechische Märchenschatz zu diesen unter
einander verwandten althellenischer und altgermanischei, Sagengruppcn? Die
skhr merkwürdige, von Hahn in der Einleitung ausführlich begründete Ant¬
wort lautet: „Sowohl der deutsche als der griechische Märchcnkreiö zeigen nur
Verwandtschaft mit dem ersten der erwähnten hellenisch-germanischen Sagen¬
kreise, dem der Nibelungen-Melampodidcn, dagegen leine Verwandtschaft in
den Hauptzügen und nur sparsame und schwache in den Nebenzügen des zwei¬
ten und dritten Sagenkreises."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/145>, abgerufen am 27.09.2024.