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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Von dem zerbrochnen Ring ist hier nicht die Rede, wohl aber spielt ein
solcher sonst in der Wiclandssage eine große Rolle, und wenn der Schluß des
lithauischen Märchens anders lautet, als die damit verglichne nordische Sage,
so findet sich der in letzterer vermißte Zug in der eddischen Helgatridha Hjor-
vardsonnar, wo es heißt: Der König ritt vom Gebirge in das Land und nahm
Nachtlager an einem Flusse. Atli hielt Wache und fuhr über den Fluß. Er fand
ein Haus, in dem saß ein großer Vogel als Hüter, war aber eingeschlafen.
Atli schoß mit dem Spieß den Vogel todt. Das war aber der Beschützer
Sigurlins, der Geliebten des Königs, der sich in einen Adler verwandelt hatte.

Diese Geschichten sind ein sehr deutliches Beispiel für den Proceß der
Märchendildung. In derselben Weise wie der Zeitgeist wandelt auch der Geist
der verschiedenen Völker die Sage und dann das Märchen seiner Form nach
um, und andrerseits findet, wie bei der Bildung des Satzes und der Rede
dem sprechenden Menschen innerhalb gewisser Grenzen große Freiheit gestattet
ist, auch auf dem Gebiet des Märchens häusig eine Versetzung der einzelnen
Züge von einer Erzählung in die andere und eine Verbindung dieser Züge zu
verschiedenartigen Märchenkettcn statt. Der Grundstock, das Material, woraus
die verschiedenen Völker ihre Märchen bauen, bleibt im Wesentlichen derselbe.
Es ist wie ein Kaleidoskop, in welchem einige wenige bunte Glasstückchen
fortwährend neue Figuren bilden. Die Urgedanken nicht nur der germanischen,
sondern aller unter arischen Stämmen erzählten Märchen lassen sich, ganz
ebenso wie die Sprachen derselben auf einen kleinen Vorrath von Wurzeln,
auf eine verhältnißmäßig geringe Anzahl von Formeln und Themen zurück¬
führen, und die anscheinend große Mannigfaltigkeit des bis jetzt gesammelten
Schatzes dieser Erzählungen beruht in der Hauptsache auf der verschiedenen
Gruppirung der Elemente derselben und nur nebenher auf Zuthaten durch den
besonderen Volksgeist und die Natur des betreffenden Fundortes.

Dies hat schon Benfey in der Vorrede zu seinem Pantschcitantra hervor¬
gehoben, und ein Vergleich der Von Hahn hier mitgetheilten Märchen mit de¬
nen früherer Sammlungen bestätigt es.

Seit der Urzeit stand Griechenland mit Asien in unausgesetztem Verkehr.
Es verharrte als römische, dann als byzantischc Provinz über tausend Jahre
mit Vorderasien in demselben Staatsverbande. Es war später Jahrhunderte
hindurch unter asiatischer Hoheit. Jener Verkehr erstreckte sich durch die Haus-
sklaverei und die Harems türkischer Beamten auch auf,die Frauenwelt. Tau¬
sende von Griechen arbeiten in den türkischen Hauptstädten, wo an asiatischen
Märchenerzählern kein Mangel ist. Endlich gibt es eine sehr verbreitete und
gern gelesene Uebersetzung von Tausend und Eine Nacht ins Neugriechische.
Dagegen war der Verkehr zwischen Griechenland und Deutschland bis auf die
neueste Zeit der Art, daß er diesen Namen gar nicht verdiente. Im Hinblick


Von dem zerbrochnen Ring ist hier nicht die Rede, wohl aber spielt ein
solcher sonst in der Wiclandssage eine große Rolle, und wenn der Schluß des
lithauischen Märchens anders lautet, als die damit verglichne nordische Sage,
so findet sich der in letzterer vermißte Zug in der eddischen Helgatridha Hjor-
vardsonnar, wo es heißt: Der König ritt vom Gebirge in das Land und nahm
Nachtlager an einem Flusse. Atli hielt Wache und fuhr über den Fluß. Er fand
ein Haus, in dem saß ein großer Vogel als Hüter, war aber eingeschlafen.
Atli schoß mit dem Spieß den Vogel todt. Das war aber der Beschützer
Sigurlins, der Geliebten des Königs, der sich in einen Adler verwandelt hatte.

Diese Geschichten sind ein sehr deutliches Beispiel für den Proceß der
Märchendildung. In derselben Weise wie der Zeitgeist wandelt auch der Geist
der verschiedenen Völker die Sage und dann das Märchen seiner Form nach
um, und andrerseits findet, wie bei der Bildung des Satzes und der Rede
dem sprechenden Menschen innerhalb gewisser Grenzen große Freiheit gestattet
ist, auch auf dem Gebiet des Märchens häusig eine Versetzung der einzelnen
Züge von einer Erzählung in die andere und eine Verbindung dieser Züge zu
verschiedenartigen Märchenkettcn statt. Der Grundstock, das Material, woraus
die verschiedenen Völker ihre Märchen bauen, bleibt im Wesentlichen derselbe.
Es ist wie ein Kaleidoskop, in welchem einige wenige bunte Glasstückchen
fortwährend neue Figuren bilden. Die Urgedanken nicht nur der germanischen,
sondern aller unter arischen Stämmen erzählten Märchen lassen sich, ganz
ebenso wie die Sprachen derselben auf einen kleinen Vorrath von Wurzeln,
auf eine verhältnißmäßig geringe Anzahl von Formeln und Themen zurück¬
führen, und die anscheinend große Mannigfaltigkeit des bis jetzt gesammelten
Schatzes dieser Erzählungen beruht in der Hauptsache auf der verschiedenen
Gruppirung der Elemente derselben und nur nebenher auf Zuthaten durch den
besonderen Volksgeist und die Natur des betreffenden Fundortes.

Dies hat schon Benfey in der Vorrede zu seinem Pantschcitantra hervor¬
gehoben, und ein Vergleich der Von Hahn hier mitgetheilten Märchen mit de¬
nen früherer Sammlungen bestätigt es.

Seit der Urzeit stand Griechenland mit Asien in unausgesetztem Verkehr.
Es verharrte als römische, dann als byzantischc Provinz über tausend Jahre
mit Vorderasien in demselben Staatsverbande. Es war später Jahrhunderte
hindurch unter asiatischer Hoheit. Jener Verkehr erstreckte sich durch die Haus-
sklaverei und die Harems türkischer Beamten auch auf,die Frauenwelt. Tau¬
sende von Griechen arbeiten in den türkischen Hauptstädten, wo an asiatischen
Märchenerzählern kein Mangel ist. Endlich gibt es eine sehr verbreitete und
gern gelesene Uebersetzung von Tausend und Eine Nacht ins Neugriechische.
Dagegen war der Verkehr zwischen Griechenland und Deutschland bis auf die
neueste Zeit der Art, daß er diesen Namen gar nicht verdiente. Im Hinblick


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[0144] Von dem zerbrochnen Ring ist hier nicht die Rede, wohl aber spielt ein solcher sonst in der Wiclandssage eine große Rolle, und wenn der Schluß des lithauischen Märchens anders lautet, als die damit verglichne nordische Sage, so findet sich der in letzterer vermißte Zug in der eddischen Helgatridha Hjor- vardsonnar, wo es heißt: Der König ritt vom Gebirge in das Land und nahm Nachtlager an einem Flusse. Atli hielt Wache und fuhr über den Fluß. Er fand ein Haus, in dem saß ein großer Vogel als Hüter, war aber eingeschlafen. Atli schoß mit dem Spieß den Vogel todt. Das war aber der Beschützer Sigurlins, der Geliebten des Königs, der sich in einen Adler verwandelt hatte. Diese Geschichten sind ein sehr deutliches Beispiel für den Proceß der Märchendildung. In derselben Weise wie der Zeitgeist wandelt auch der Geist der verschiedenen Völker die Sage und dann das Märchen seiner Form nach um, und andrerseits findet, wie bei der Bildung des Satzes und der Rede dem sprechenden Menschen innerhalb gewisser Grenzen große Freiheit gestattet ist, auch auf dem Gebiet des Märchens häusig eine Versetzung der einzelnen Züge von einer Erzählung in die andere und eine Verbindung dieser Züge zu verschiedenartigen Märchenkettcn statt. Der Grundstock, das Material, woraus die verschiedenen Völker ihre Märchen bauen, bleibt im Wesentlichen derselbe. Es ist wie ein Kaleidoskop, in welchem einige wenige bunte Glasstückchen fortwährend neue Figuren bilden. Die Urgedanken nicht nur der germanischen, sondern aller unter arischen Stämmen erzählten Märchen lassen sich, ganz ebenso wie die Sprachen derselben auf einen kleinen Vorrath von Wurzeln, auf eine verhältnißmäßig geringe Anzahl von Formeln und Themen zurück¬ führen, und die anscheinend große Mannigfaltigkeit des bis jetzt gesammelten Schatzes dieser Erzählungen beruht in der Hauptsache auf der verschiedenen Gruppirung der Elemente derselben und nur nebenher auf Zuthaten durch den besonderen Volksgeist und die Natur des betreffenden Fundortes. Dies hat schon Benfey in der Vorrede zu seinem Pantschcitantra hervor¬ gehoben, und ein Vergleich der Von Hahn hier mitgetheilten Märchen mit de¬ nen früherer Sammlungen bestätigt es. Seit der Urzeit stand Griechenland mit Asien in unausgesetztem Verkehr. Es verharrte als römische, dann als byzantischc Provinz über tausend Jahre mit Vorderasien in demselben Staatsverbande. Es war später Jahrhunderte hindurch unter asiatischer Hoheit. Jener Verkehr erstreckte sich durch die Haus- sklaverei und die Harems türkischer Beamten auch auf,die Frauenwelt. Tau¬ sende von Griechen arbeiten in den türkischen Hauptstädten, wo an asiatischen Märchenerzählern kein Mangel ist. Endlich gibt es eine sehr verbreitete und gern gelesene Uebersetzung von Tausend und Eine Nacht ins Neugriechische. Dagegen war der Verkehr zwischen Griechenland und Deutschland bis auf die neueste Zeit der Art, daß er diesen Namen gar nicht verdiente. Im Hinblick

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/144>, abgerufen am 27.09.2024.