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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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mehr oder minder'zusammengesetzten Ganzen. Der Zug ist das Wort, das
Märchenqanze der Satz des Märchengebietes.

Es gab eine Zeit, wo die Völker neue Märchen bildeten, es war die
Zeit, wo auch die Sprache noch neue Stämme trieb. Aber wie der Trieb zur
Bildung neuer Stammwörter schon längst unter uns ausgestorben ist, so ent¬
steht auch heutzutage unter dem Volke kein neuer Märchenzug, und was davon
aus gebildeten Kreisen hervorgeht, hat nur den Werth gemachter Blumen.
Wohl aber wird die Form des alten Zugs unaufhörlich den veränderten Zeit¬
umständen accommodirt. und auf diesem Wege dringen stets neue Begriffe, wie
Flinte. Kanone, Tabakspfeife u. d. in das Märchen ein, die Helden desselben
Modernisiren sich, die Erzählung lehnt sich an neue Geschichtsepochen an, die
dem Volke imponirt haben, der Grundzug des Wunderbaren aber bleibt der¬
selbe, der er zu Anfang war.

In Lithauen erzählt man sich (nach Schleicher) ein Märchen von der
goldnen Brücke, in welchem es heißt: Nicht lange darauf erhob sich der sieben¬
jährige Krieg, und es kam ein König aus einem fernen Lande mit seinen
Soldaten in die Gegend, wo die goldne Brücke war, um mit dem König die¬
ses Landes verbündet den König von Preußen zu bekämpfen. Jener König
aber hatte vergessen, sein Fernrohr mitzunehmen, und deshalb versammelte
er seine flinksten Männer und Kriegshelden und sprach: "Wer von euch mir
diese Nacht mein Fernrohr aus der Heimath holen könnte, dem würde ich
meine Tochter zur Frau geben und nach meinem Tode mein Reich hinterlassen."
Der Held des Märchens vollbringt dies, obwohl die Wohnung des Königs
dreihundert Meilen entfernt ist, indem er sich vermöge der ihm verliehenen
Gabe erst in ein Pferd, dann in einen Adler und zuletzt in einen Fisch ver¬
wandelt. Nachdem er von der Königstochter außer dem Fernrohr die Hälfte
eines Ringes erhalten, den sie entzwei gebissen, kehrt er zurück. Da er zu
früh ankommt, so setzt er sich als Adler aus den Arm eines Meilenzeigers, um
den Anbruch des Tages abzuwarten. Dort erblickt ihn ein General, erschießt
ihn und bringt das Fernrohr dem König.

Wer möchte vermuthen, daß diese modernen Formen einen uralten Kern
anschließen? Und doch ist es so. Das lithauische Märchen verschmilzt zwei
Züge skandinavischer Sage, die ihrerseits wieder Bestandtheile eines noch ältern
Mythus sind. In der Vilkinasage lesen wir, wie König Nidung, als er ge-
",en den Feind auszieht, seinen Siegstcin vergessen hat. und wie er dem.
der ihm denselben vor Sonnenaufgang bringen wird, seine Tochter und sein
halbes Reich zu geben verheißt. Wieland macht die fünf Tagereisen lange
Strecke hin und zurück und kommt noch vor Anbruch des Tages wieder bei
dem Lager an. Hier begegnet er dem Truchseß, der ihm den Stein abfordert,
aber von Wieland erschlagen wird, wofür Nidung diesen verbannt.


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mehr oder minder'zusammengesetzten Ganzen. Der Zug ist das Wort, das
Märchenqanze der Satz des Märchengebietes.

Es gab eine Zeit, wo die Völker neue Märchen bildeten, es war die
Zeit, wo auch die Sprache noch neue Stämme trieb. Aber wie der Trieb zur
Bildung neuer Stammwörter schon längst unter uns ausgestorben ist, so ent¬
steht auch heutzutage unter dem Volke kein neuer Märchenzug, und was davon
aus gebildeten Kreisen hervorgeht, hat nur den Werth gemachter Blumen.
Wohl aber wird die Form des alten Zugs unaufhörlich den veränderten Zeit¬
umständen accommodirt. und auf diesem Wege dringen stets neue Begriffe, wie
Flinte. Kanone, Tabakspfeife u. d. in das Märchen ein, die Helden desselben
Modernisiren sich, die Erzählung lehnt sich an neue Geschichtsepochen an, die
dem Volke imponirt haben, der Grundzug des Wunderbaren aber bleibt der¬
selbe, der er zu Anfang war.

In Lithauen erzählt man sich (nach Schleicher) ein Märchen von der
goldnen Brücke, in welchem es heißt: Nicht lange darauf erhob sich der sieben¬
jährige Krieg, und es kam ein König aus einem fernen Lande mit seinen
Soldaten in die Gegend, wo die goldne Brücke war, um mit dem König die¬
ses Landes verbündet den König von Preußen zu bekämpfen. Jener König
aber hatte vergessen, sein Fernrohr mitzunehmen, und deshalb versammelte
er seine flinksten Männer und Kriegshelden und sprach: „Wer von euch mir
diese Nacht mein Fernrohr aus der Heimath holen könnte, dem würde ich
meine Tochter zur Frau geben und nach meinem Tode mein Reich hinterlassen."
Der Held des Märchens vollbringt dies, obwohl die Wohnung des Königs
dreihundert Meilen entfernt ist, indem er sich vermöge der ihm verliehenen
Gabe erst in ein Pferd, dann in einen Adler und zuletzt in einen Fisch ver¬
wandelt. Nachdem er von der Königstochter außer dem Fernrohr die Hälfte
eines Ringes erhalten, den sie entzwei gebissen, kehrt er zurück. Da er zu
früh ankommt, so setzt er sich als Adler aus den Arm eines Meilenzeigers, um
den Anbruch des Tages abzuwarten. Dort erblickt ihn ein General, erschießt
ihn und bringt das Fernrohr dem König.

Wer möchte vermuthen, daß diese modernen Formen einen uralten Kern
anschließen? Und doch ist es so. Das lithauische Märchen verschmilzt zwei
Züge skandinavischer Sage, die ihrerseits wieder Bestandtheile eines noch ältern
Mythus sind. In der Vilkinasage lesen wir, wie König Nidung, als er ge-
",en den Feind auszieht, seinen Siegstcin vergessen hat. und wie er dem.
der ihm denselben vor Sonnenaufgang bringen wird, seine Tochter und sein
halbes Reich zu geben verheißt. Wieland macht die fünf Tagereisen lange
Strecke hin und zurück und kommt noch vor Anbruch des Tages wieder bei
dem Lager an. Hier begegnet er dem Truchseß, der ihm den Stein abfordert,
aber von Wieland erschlagen wird, wofür Nidung diesen verbannt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/143>, abgerufen am 27.09.2024.