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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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gemeiner Grundton jener epischen und mythischen Elemente durch die Varia¬
tionen hindurch, welche die besondere Volksseele, das besondere Land, die
klimatischen und meteorologischen Verhältnisse, die Nachbarschaft oder die Ent¬
fernung von Gebirg und Meer u. s. w. der Urmelodie verleihen mußten.

Ferner: der Inhalt der Märchen unterscheidet sich nicht von dein Inhalt der
alten Götter- und Heldensage. Der eine ist ebenso mythisch als der andere,
und so kann einer dem andern als Ergänzung dienen. Der einzige Unterschied
zwischen dieser und jener Elasse von Traditionen der Urzeit besteht in der ver¬
schiedenen Form der Ueberlieferung. Unablässig strebt der Mensch die ererbten
Sagen sich begreiflicher zu machen, indem er sie sich mehr und mehr naherückt,
sie mehr und mehr versinnlicht, mehr und mehr seinen Verhältnissen anpaßt.
So nimmt die anfangs nur roh personificirte Naturkraft, von der er sich
abhängig fühlt, die er fürchtet und bewundert, fortwährend mehr Menschen¬
gestalt an, bis sie sich im Mythus als menschlich vorgestellter ethischer Gott
von ihrem Urgrund beinahe völlig ablöst. So zieht jener Trieb nach Versinn-
lichung dann weiter den Gott aus die Stufe des Heroen oder Helden herab,
auf welcher er zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre in der Sage lebt.
Und so wirkt jener Trieb im Märchen fort, indem er hier die Heroen dem sterb¬
lichen Geschlecht beinahe völlig gleichstellt und ihnen nur die eine oder die an¬
dere höhere Gabe, als übermenschliche Stärke, Schnelligkeit, Weitsichtigkeit
u. d. läßt, an die Stelle der waltenden obern Gottheiten aber die dem ge¬
wöhnlichen Leben näherstehende niedere Dämonenwelt der Zwerge, Elben,
menschensressendcn Niesen u. s. w. setzt, die nun statt jener in seine Verhältnisse
bestimmend eingreift. Das Märchen ist somit ein auf seiner letzten Entwickelungs¬
stufe angelangter Mythus.

Noch eine Betrachtung: nennen wir den Inbegriff aller Märchen eines
Volkes dessen Märchenschatz, so lassen sich innerhalb desselben die folgende"
Formen unterscheiden. Neben einfachen kurzen Märchen finden wir fast überall
auch die Verschmelzung oder Zusammenstellung solcher zu größeren Ganzen,
Verbindungen, die wir vorläufig mit Hahn als Märchenketten bezeichnen
wollen. Das einzelne Märchen zerfällt in mehr oder weniger Vorstellungen
oder Anschauungen, die wir bis auf weiteres Züge nennen, indem wir diesen
Ausdruck sowohl auf seine räumliche als aus seine zeitliche Bedeutung beziehen
und daher mit demselben nicht nur die Eigenschaften und Attribute der auf¬
tretenden Gestalten, sondern auch deren einzelne Handlungen und Leiden be¬
zeichnen. Diese Züge sind die Einheiten der Märchenkunde, und wir können
uns deren Verhältniß zum Märchcnganzen nicht besser vergegenwärtigen, als
wenn wir neben das Gebiet des Märchens das der Sprache stellen. Die
Sprache besteht aus Wörtern und Sätzen, das Märchen aus dem, was wir
Züge nannten, und Verbindungen solcher Züge zu mehr oder minder einfachen,


gemeiner Grundton jener epischen und mythischen Elemente durch die Varia¬
tionen hindurch, welche die besondere Volksseele, das besondere Land, die
klimatischen und meteorologischen Verhältnisse, die Nachbarschaft oder die Ent¬
fernung von Gebirg und Meer u. s. w. der Urmelodie verleihen mußten.

Ferner: der Inhalt der Märchen unterscheidet sich nicht von dein Inhalt der
alten Götter- und Heldensage. Der eine ist ebenso mythisch als der andere,
und so kann einer dem andern als Ergänzung dienen. Der einzige Unterschied
zwischen dieser und jener Elasse von Traditionen der Urzeit besteht in der ver¬
schiedenen Form der Ueberlieferung. Unablässig strebt der Mensch die ererbten
Sagen sich begreiflicher zu machen, indem er sie sich mehr und mehr naherückt,
sie mehr und mehr versinnlicht, mehr und mehr seinen Verhältnissen anpaßt.
So nimmt die anfangs nur roh personificirte Naturkraft, von der er sich
abhängig fühlt, die er fürchtet und bewundert, fortwährend mehr Menschen¬
gestalt an, bis sie sich im Mythus als menschlich vorgestellter ethischer Gott
von ihrem Urgrund beinahe völlig ablöst. So zieht jener Trieb nach Versinn-
lichung dann weiter den Gott aus die Stufe des Heroen oder Helden herab,
auf welcher er zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre in der Sage lebt.
Und so wirkt jener Trieb im Märchen fort, indem er hier die Heroen dem sterb¬
lichen Geschlecht beinahe völlig gleichstellt und ihnen nur die eine oder die an¬
dere höhere Gabe, als übermenschliche Stärke, Schnelligkeit, Weitsichtigkeit
u. d. läßt, an die Stelle der waltenden obern Gottheiten aber die dem ge¬
wöhnlichen Leben näherstehende niedere Dämonenwelt der Zwerge, Elben,
menschensressendcn Niesen u. s. w. setzt, die nun statt jener in seine Verhältnisse
bestimmend eingreift. Das Märchen ist somit ein auf seiner letzten Entwickelungs¬
stufe angelangter Mythus.

Noch eine Betrachtung: nennen wir den Inbegriff aller Märchen eines
Volkes dessen Märchenschatz, so lassen sich innerhalb desselben die folgende»
Formen unterscheiden. Neben einfachen kurzen Märchen finden wir fast überall
auch die Verschmelzung oder Zusammenstellung solcher zu größeren Ganzen,
Verbindungen, die wir vorläufig mit Hahn als Märchenketten bezeichnen
wollen. Das einzelne Märchen zerfällt in mehr oder weniger Vorstellungen
oder Anschauungen, die wir bis auf weiteres Züge nennen, indem wir diesen
Ausdruck sowohl auf seine räumliche als aus seine zeitliche Bedeutung beziehen
und daher mit demselben nicht nur die Eigenschaften und Attribute der auf¬
tretenden Gestalten, sondern auch deren einzelne Handlungen und Leiden be¬
zeichnen. Diese Züge sind die Einheiten der Märchenkunde, und wir können
uns deren Verhältniß zum Märchcnganzen nicht besser vergegenwärtigen, als
wenn wir neben das Gebiet des Märchens das der Sprache stellen. Die
Sprache besteht aus Wörtern und Sätzen, das Märchen aus dem, was wir
Züge nannten, und Verbindungen solcher Züge zu mehr oder minder einfachen,


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[0142] gemeiner Grundton jener epischen und mythischen Elemente durch die Varia¬ tionen hindurch, welche die besondere Volksseele, das besondere Land, die klimatischen und meteorologischen Verhältnisse, die Nachbarschaft oder die Ent¬ fernung von Gebirg und Meer u. s. w. der Urmelodie verleihen mußten. Ferner: der Inhalt der Märchen unterscheidet sich nicht von dein Inhalt der alten Götter- und Heldensage. Der eine ist ebenso mythisch als der andere, und so kann einer dem andern als Ergänzung dienen. Der einzige Unterschied zwischen dieser und jener Elasse von Traditionen der Urzeit besteht in der ver¬ schiedenen Form der Ueberlieferung. Unablässig strebt der Mensch die ererbten Sagen sich begreiflicher zu machen, indem er sie sich mehr und mehr naherückt, sie mehr und mehr versinnlicht, mehr und mehr seinen Verhältnissen anpaßt. So nimmt die anfangs nur roh personificirte Naturkraft, von der er sich abhängig fühlt, die er fürchtet und bewundert, fortwährend mehr Menschen¬ gestalt an, bis sie sich im Mythus als menschlich vorgestellter ethischer Gott von ihrem Urgrund beinahe völlig ablöst. So zieht jener Trieb nach Versinn- lichung dann weiter den Gott aus die Stufe des Heroen oder Helden herab, auf welcher er zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre in der Sage lebt. Und so wirkt jener Trieb im Märchen fort, indem er hier die Heroen dem sterb¬ lichen Geschlecht beinahe völlig gleichstellt und ihnen nur die eine oder die an¬ dere höhere Gabe, als übermenschliche Stärke, Schnelligkeit, Weitsichtigkeit u. d. läßt, an die Stelle der waltenden obern Gottheiten aber die dem ge¬ wöhnlichen Leben näherstehende niedere Dämonenwelt der Zwerge, Elben, menschensressendcn Niesen u. s. w. setzt, die nun statt jener in seine Verhältnisse bestimmend eingreift. Das Märchen ist somit ein auf seiner letzten Entwickelungs¬ stufe angelangter Mythus. Noch eine Betrachtung: nennen wir den Inbegriff aller Märchen eines Volkes dessen Märchenschatz, so lassen sich innerhalb desselben die folgende» Formen unterscheiden. Neben einfachen kurzen Märchen finden wir fast überall auch die Verschmelzung oder Zusammenstellung solcher zu größeren Ganzen, Verbindungen, die wir vorläufig mit Hahn als Märchenketten bezeichnen wollen. Das einzelne Märchen zerfällt in mehr oder weniger Vorstellungen oder Anschauungen, die wir bis auf weiteres Züge nennen, indem wir diesen Ausdruck sowohl auf seine räumliche als aus seine zeitliche Bedeutung beziehen und daher mit demselben nicht nur die Eigenschaften und Attribute der auf¬ tretenden Gestalten, sondern auch deren einzelne Handlungen und Leiden be¬ zeichnen. Diese Züge sind die Einheiten der Märchenkunde, und wir können uns deren Verhältniß zum Märchcnganzen nicht besser vergegenwärtigen, als wenn wir neben das Gebiet des Märchens das der Sprache stellen. Die Sprache besteht aus Wörtern und Sätzen, das Märchen aus dem, was wir Züge nannten, und Verbindungen solcher Züge zu mehr oder minder einfachen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/142>, abgerufen am 27.09.2024.