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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Petersburger Universität, und Niemand fand sich, ihn zu ersetzen. Auch über
die Bestimmung der Zeiten des fünfmaligen täglichen Gebets nach dem Stande
der Sonne, und selbst über Alchemie, die El Kimia. die als die "gött¬
liche Kunst" verschiedene Werke hervorgerufen hat, wurde ehedem gelesen.
Medicin nach arabischen Grundsätzen lehrte man früher ebenfalls, wenn auch
nicht hier, sondern an einer mit dem Spital Maristan en Nasiri verbundenen
Medresseh. Jetzt sind diese Vorträge, als, durch die Errichtung der medicini-
schen Schule beim Krankenhaus von Kasr El Ain überflüssig geworden,
eingestellt, und das ist kein Schade, da die arabische Medicin keinen Ver¬
gleich mit der europäischen Krankenheilkunde aushielt, welche in der neuen
Schule gelehrt wird.

Ist nun ein Student der Azhar-Universität so weit in einer bestimmten
Disciplin fortgeschritten, daß er das betreffende Buch ganz auswendig weiß
und zugleich den Commentar dazu geben kann, so bewirbt er sich bei seinem
Professor um die "Jgazeh", d. h. um die Licenz, seinerseits über die gedachte
Schrift Vorträge zu halten, oder der Professor schreibt ihm statt jenes Scheins
in sein Exemplar des Werkes einfach ein paar Zeilen, in denen er bescheinigt,
daß jener bei ihm Vorlesungen über das Buch gehört habe. Letzteres ist also
eine Art Frequentationszeugniß, die Jgazeh dagegen gewissermaßen ein Licen-
tiaten-Diplom. Auf eine solche Jgazeh wird namentlich bei den Vorlesungen
über die Tradition, d. h. die von Mohammed überlieferten Sprüche und
Anekdoten ein großes Gewicht gelegt. Dies erklärt sich leicht daraus, daß sehr
häufig ein kurzer von Mohammed überlieferter Ausspruch die sofortige Ent¬
scheidung eines zweifelhaften Rechtsstreites herbeiführt. Man empfand daher
schon in sehr früher Zeit das Bedürfniß, die Tausende von Traditionen, die
als von dem Propheten stammend aufgezeichnet worden waren, kritisch zu sich'
ten, und das einzige Mittel hierzu schien, daß man bei jeder Ueberlieferung
die ganze Reihe der Gewährsmänner bis zum ersten hinauf durchging und nur
solche Traditionen für probehaltig erklärte, bei denen die Kette der Bürgen
ununterbrochen bis zum ersten hinaufreichte und zugleich alle diese Bürgen das
Ansehen der Zuverlässigkeit genossen. Die meisten Traditionen werden in den
großen Sammlungen, welche Tirmidi, Ihr Mageh, Buchari und Muslim
hinterlassen haben, von dem Versasser der Collectio" bis auf einen Zeitgenossen
des Propheten hinauf mit der ununterbrochenen Reihenfolge der Ueberlieferer
und Gewährsmänner angeführt.

Der Jgazeh legt man einen vorzüglichen Werth bei, wenn sie bis auf
den Verfasser des betreffenden Buchs zurückgeht, so daß also letzterer selbst die
erste Licenz ertheilt, die sich weiter bis auf den letzten Licentiaten ohne Lücke
fortsetzt. Jetzt wird indeß mit solchen Diplomen (wie in der guten alten Zeit
von Jena und Erlangen mit gewissen Doctordiplomen) großer Unfug getrieben,


Petersburger Universität, und Niemand fand sich, ihn zu ersetzen. Auch über
die Bestimmung der Zeiten des fünfmaligen täglichen Gebets nach dem Stande
der Sonne, und selbst über Alchemie, die El Kimia. die als die „gött¬
liche Kunst" verschiedene Werke hervorgerufen hat, wurde ehedem gelesen.
Medicin nach arabischen Grundsätzen lehrte man früher ebenfalls, wenn auch
nicht hier, sondern an einer mit dem Spital Maristan en Nasiri verbundenen
Medresseh. Jetzt sind diese Vorträge, als, durch die Errichtung der medicini-
schen Schule beim Krankenhaus von Kasr El Ain überflüssig geworden,
eingestellt, und das ist kein Schade, da die arabische Medicin keinen Ver¬
gleich mit der europäischen Krankenheilkunde aushielt, welche in der neuen
Schule gelehrt wird.

Ist nun ein Student der Azhar-Universität so weit in einer bestimmten
Disciplin fortgeschritten, daß er das betreffende Buch ganz auswendig weiß
und zugleich den Commentar dazu geben kann, so bewirbt er sich bei seinem
Professor um die „Jgazeh", d. h. um die Licenz, seinerseits über die gedachte
Schrift Vorträge zu halten, oder der Professor schreibt ihm statt jenes Scheins
in sein Exemplar des Werkes einfach ein paar Zeilen, in denen er bescheinigt,
daß jener bei ihm Vorlesungen über das Buch gehört habe. Letzteres ist also
eine Art Frequentationszeugniß, die Jgazeh dagegen gewissermaßen ein Licen-
tiaten-Diplom. Auf eine solche Jgazeh wird namentlich bei den Vorlesungen
über die Tradition, d. h. die von Mohammed überlieferten Sprüche und
Anekdoten ein großes Gewicht gelegt. Dies erklärt sich leicht daraus, daß sehr
häufig ein kurzer von Mohammed überlieferter Ausspruch die sofortige Ent¬
scheidung eines zweifelhaften Rechtsstreites herbeiführt. Man empfand daher
schon in sehr früher Zeit das Bedürfniß, die Tausende von Traditionen, die
als von dem Propheten stammend aufgezeichnet worden waren, kritisch zu sich'
ten, und das einzige Mittel hierzu schien, daß man bei jeder Ueberlieferung
die ganze Reihe der Gewährsmänner bis zum ersten hinauf durchging und nur
solche Traditionen für probehaltig erklärte, bei denen die Kette der Bürgen
ununterbrochen bis zum ersten hinaufreichte und zugleich alle diese Bürgen das
Ansehen der Zuverlässigkeit genossen. Die meisten Traditionen werden in den
großen Sammlungen, welche Tirmidi, Ihr Mageh, Buchari und Muslim
hinterlassen haben, von dem Versasser der Collectio» bis auf einen Zeitgenossen
des Propheten hinauf mit der ununterbrochenen Reihenfolge der Ueberlieferer
und Gewährsmänner angeführt.

Der Jgazeh legt man einen vorzüglichen Werth bei, wenn sie bis auf
den Verfasser des betreffenden Buchs zurückgeht, so daß also letzterer selbst die
erste Licenz ertheilt, die sich weiter bis auf den letzten Licentiaten ohne Lücke
fortsetzt. Jetzt wird indeß mit solchen Diplomen (wie in der guten alten Zeit
von Jena und Erlangen mit gewissen Doctordiplomen) großer Unfug getrieben,


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[0120] Petersburger Universität, und Niemand fand sich, ihn zu ersetzen. Auch über die Bestimmung der Zeiten des fünfmaligen täglichen Gebets nach dem Stande der Sonne, und selbst über Alchemie, die El Kimia. die als die „gött¬ liche Kunst" verschiedene Werke hervorgerufen hat, wurde ehedem gelesen. Medicin nach arabischen Grundsätzen lehrte man früher ebenfalls, wenn auch nicht hier, sondern an einer mit dem Spital Maristan en Nasiri verbundenen Medresseh. Jetzt sind diese Vorträge, als, durch die Errichtung der medicini- schen Schule beim Krankenhaus von Kasr El Ain überflüssig geworden, eingestellt, und das ist kein Schade, da die arabische Medicin keinen Ver¬ gleich mit der europäischen Krankenheilkunde aushielt, welche in der neuen Schule gelehrt wird. Ist nun ein Student der Azhar-Universität so weit in einer bestimmten Disciplin fortgeschritten, daß er das betreffende Buch ganz auswendig weiß und zugleich den Commentar dazu geben kann, so bewirbt er sich bei seinem Professor um die „Jgazeh", d. h. um die Licenz, seinerseits über die gedachte Schrift Vorträge zu halten, oder der Professor schreibt ihm statt jenes Scheins in sein Exemplar des Werkes einfach ein paar Zeilen, in denen er bescheinigt, daß jener bei ihm Vorlesungen über das Buch gehört habe. Letzteres ist also eine Art Frequentationszeugniß, die Jgazeh dagegen gewissermaßen ein Licen- tiaten-Diplom. Auf eine solche Jgazeh wird namentlich bei den Vorlesungen über die Tradition, d. h. die von Mohammed überlieferten Sprüche und Anekdoten ein großes Gewicht gelegt. Dies erklärt sich leicht daraus, daß sehr häufig ein kurzer von Mohammed überlieferter Ausspruch die sofortige Ent¬ scheidung eines zweifelhaften Rechtsstreites herbeiführt. Man empfand daher schon in sehr früher Zeit das Bedürfniß, die Tausende von Traditionen, die als von dem Propheten stammend aufgezeichnet worden waren, kritisch zu sich' ten, und das einzige Mittel hierzu schien, daß man bei jeder Ueberlieferung die ganze Reihe der Gewährsmänner bis zum ersten hinauf durchging und nur solche Traditionen für probehaltig erklärte, bei denen die Kette der Bürgen ununterbrochen bis zum ersten hinaufreichte und zugleich alle diese Bürgen das Ansehen der Zuverlässigkeit genossen. Die meisten Traditionen werden in den großen Sammlungen, welche Tirmidi, Ihr Mageh, Buchari und Muslim hinterlassen haben, von dem Versasser der Collectio» bis auf einen Zeitgenossen des Propheten hinauf mit der ununterbrochenen Reihenfolge der Ueberlieferer und Gewährsmänner angeführt. Der Jgazeh legt man einen vorzüglichen Werth bei, wenn sie bis auf den Verfasser des betreffenden Buchs zurückgeht, so daß also letzterer selbst die erste Licenz ertheilt, die sich weiter bis auf den letzten Licentiaten ohne Lücke fortsetzt. Jetzt wird indeß mit solchen Diplomen (wie in der guten alten Zeit von Jena und Erlangen mit gewissen Doctordiplomen) großer Unfug getrieben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/120>, abgerufen am 27.09.2024.