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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Zweck der Tausende von Studenten, die hier aus allen Ländern des Islam
vom Balkan bis nach Südarabien hinab und von Timbuktu bis nach Hindostan
zusammenkommen, ist fast ausschließlich das Studium der Religionswissen'
schaft und der davon nicht getrennten Jurisprudenz. Nebenher werden
zwar noch andere Fächer tractirt, aber nur als untergeordnete Disciplinen.
In Betreff der Aufeinanderfolge, in welcher man die einzelnen Wissenschaften
vornimmt, ist Nachstehendes zu bemerken. Jeder Student, welcher die große
Moschee zum Behuf feiner Studien betritt, muß bereits der arabischen Sprache
mächtig sein, sie lesen und schreiben können, die Anfangsgründe der Grammatik
und Syntax inne haben und den Koran ganz oder doch theilweise auswendig ge¬
lernt haben. Da indeß auch solche, deren Muttersprache das Arabische ist,
dessen Bau, Formenlehre und Syntax nicht immer genügend kennen, so begin-
nen viele, besonders aber die Türken, erst mit der Grammatik, für welche be¬
stimmte Werke von beliebten Sprachforschern benutzt werden.

Die Wissenschaft, welche sich im Lehrcursus an das Studium der Gram¬
matik anschließt, ist schon rein theologischer Natur und dient gewissermaßen als
Propädeutik für den Jünger, der in das Labyrinth mohammedanischer Religions-
kenntniß einzudringen wünscht. Es ist die Lehre von den Eigenschaften Got¬
tes und des Propheten, welche "Ilm et Tauhid", Wissenschaft der Einheits¬
lehre genannt wird. Dieselbe zählt dreizehn Haupteigenschaften der Gottheit
auf, nämlich: das Sein, die Uranfänglichkeit, die Ewigkeit, die Unabhängig¬
keit vom Zufälligen, die Selbständigkeit, die Einheit, die Allmacht, den Willen,
die Allwissenheit, das Leben, das Gehör, das Gesicht, endlich die Rede (ohne
Buchstaben und Laute). Daraus werden andere sieben Eigenschaften abgeleitet,
und dann wird zu den Gegensähen übergegangen. Auch hierüber gibt es eine
Anzahl besonders angesehener Werke und dazu gehöriger Kommentare, von denen
wir nur "El Gauharah (das Kleinod), ein Lehrgedicht in 144 Doppelversen
namhaft machen.

Nachdem der Student eines oder mehre dieser Werke auswendig gelernt und
in verschiedenen Commentaren all den abstrusen Grübeleien über das Wesen der
Gottheit zu folgen versucht hat, schreitet er zur Rechtswissenschaft, die Ilm el
Fied heißt. Das Studium der Jurisprudenz bildet für den mohammedanischen
Studirenden den Zielpunkt aller wissenschaftlichen Bestrebungen. Auch hier ist
das Lernen wesentlich ein Auswendiglernen. Nachdem der Text eines Buches
gebührend durchgegangen worden, wird ein kleiner Commentar vorgenommen,
dann ein größerer, hierauf ein neues Werk sammt seinen nie mangelnden
Glossatoren, und so kann der Schüler Jahrzehnte lang sich beschäftigen, ohne
den Born dieses, großentheils freilich unfruchtbaren. Wissens zu erschöpfen.
"Wer mohammedanische Werke über Gesetzwissenschast und deren Commentare
kennt," sagt Kremer, "der wird am besten beurtheilen können, welches Maß


Zweck der Tausende von Studenten, die hier aus allen Ländern des Islam
vom Balkan bis nach Südarabien hinab und von Timbuktu bis nach Hindostan
zusammenkommen, ist fast ausschließlich das Studium der Religionswissen'
schaft und der davon nicht getrennten Jurisprudenz. Nebenher werden
zwar noch andere Fächer tractirt, aber nur als untergeordnete Disciplinen.
In Betreff der Aufeinanderfolge, in welcher man die einzelnen Wissenschaften
vornimmt, ist Nachstehendes zu bemerken. Jeder Student, welcher die große
Moschee zum Behuf feiner Studien betritt, muß bereits der arabischen Sprache
mächtig sein, sie lesen und schreiben können, die Anfangsgründe der Grammatik
und Syntax inne haben und den Koran ganz oder doch theilweise auswendig ge¬
lernt haben. Da indeß auch solche, deren Muttersprache das Arabische ist,
dessen Bau, Formenlehre und Syntax nicht immer genügend kennen, so begin-
nen viele, besonders aber die Türken, erst mit der Grammatik, für welche be¬
stimmte Werke von beliebten Sprachforschern benutzt werden.

Die Wissenschaft, welche sich im Lehrcursus an das Studium der Gram¬
matik anschließt, ist schon rein theologischer Natur und dient gewissermaßen als
Propädeutik für den Jünger, der in das Labyrinth mohammedanischer Religions-
kenntniß einzudringen wünscht. Es ist die Lehre von den Eigenschaften Got¬
tes und des Propheten, welche „Ilm et Tauhid", Wissenschaft der Einheits¬
lehre genannt wird. Dieselbe zählt dreizehn Haupteigenschaften der Gottheit
auf, nämlich: das Sein, die Uranfänglichkeit, die Ewigkeit, die Unabhängig¬
keit vom Zufälligen, die Selbständigkeit, die Einheit, die Allmacht, den Willen,
die Allwissenheit, das Leben, das Gehör, das Gesicht, endlich die Rede (ohne
Buchstaben und Laute). Daraus werden andere sieben Eigenschaften abgeleitet,
und dann wird zu den Gegensähen übergegangen. Auch hierüber gibt es eine
Anzahl besonders angesehener Werke und dazu gehöriger Kommentare, von denen
wir nur „El Gauharah (das Kleinod), ein Lehrgedicht in 144 Doppelversen
namhaft machen.

Nachdem der Student eines oder mehre dieser Werke auswendig gelernt und
in verschiedenen Commentaren all den abstrusen Grübeleien über das Wesen der
Gottheit zu folgen versucht hat, schreitet er zur Rechtswissenschaft, die Ilm el
Fied heißt. Das Studium der Jurisprudenz bildet für den mohammedanischen
Studirenden den Zielpunkt aller wissenschaftlichen Bestrebungen. Auch hier ist
das Lernen wesentlich ein Auswendiglernen. Nachdem der Text eines Buches
gebührend durchgegangen worden, wird ein kleiner Commentar vorgenommen,
dann ein größerer, hierauf ein neues Werk sammt seinen nie mangelnden
Glossatoren, und so kann der Schüler Jahrzehnte lang sich beschäftigen, ohne
den Born dieses, großentheils freilich unfruchtbaren. Wissens zu erschöpfen.
„Wer mohammedanische Werke über Gesetzwissenschast und deren Commentare
kennt," sagt Kremer, „der wird am besten beurtheilen können, welches Maß


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[0118] Zweck der Tausende von Studenten, die hier aus allen Ländern des Islam vom Balkan bis nach Südarabien hinab und von Timbuktu bis nach Hindostan zusammenkommen, ist fast ausschließlich das Studium der Religionswissen' schaft und der davon nicht getrennten Jurisprudenz. Nebenher werden zwar noch andere Fächer tractirt, aber nur als untergeordnete Disciplinen. In Betreff der Aufeinanderfolge, in welcher man die einzelnen Wissenschaften vornimmt, ist Nachstehendes zu bemerken. Jeder Student, welcher die große Moschee zum Behuf feiner Studien betritt, muß bereits der arabischen Sprache mächtig sein, sie lesen und schreiben können, die Anfangsgründe der Grammatik und Syntax inne haben und den Koran ganz oder doch theilweise auswendig ge¬ lernt haben. Da indeß auch solche, deren Muttersprache das Arabische ist, dessen Bau, Formenlehre und Syntax nicht immer genügend kennen, so begin- nen viele, besonders aber die Türken, erst mit der Grammatik, für welche be¬ stimmte Werke von beliebten Sprachforschern benutzt werden. Die Wissenschaft, welche sich im Lehrcursus an das Studium der Gram¬ matik anschließt, ist schon rein theologischer Natur und dient gewissermaßen als Propädeutik für den Jünger, der in das Labyrinth mohammedanischer Religions- kenntniß einzudringen wünscht. Es ist die Lehre von den Eigenschaften Got¬ tes und des Propheten, welche „Ilm et Tauhid", Wissenschaft der Einheits¬ lehre genannt wird. Dieselbe zählt dreizehn Haupteigenschaften der Gottheit auf, nämlich: das Sein, die Uranfänglichkeit, die Ewigkeit, die Unabhängig¬ keit vom Zufälligen, die Selbständigkeit, die Einheit, die Allmacht, den Willen, die Allwissenheit, das Leben, das Gehör, das Gesicht, endlich die Rede (ohne Buchstaben und Laute). Daraus werden andere sieben Eigenschaften abgeleitet, und dann wird zu den Gegensähen übergegangen. Auch hierüber gibt es eine Anzahl besonders angesehener Werke und dazu gehöriger Kommentare, von denen wir nur „El Gauharah (das Kleinod), ein Lehrgedicht in 144 Doppelversen namhaft machen. Nachdem der Student eines oder mehre dieser Werke auswendig gelernt und in verschiedenen Commentaren all den abstrusen Grübeleien über das Wesen der Gottheit zu folgen versucht hat, schreitet er zur Rechtswissenschaft, die Ilm el Fied heißt. Das Studium der Jurisprudenz bildet für den mohammedanischen Studirenden den Zielpunkt aller wissenschaftlichen Bestrebungen. Auch hier ist das Lernen wesentlich ein Auswendiglernen. Nachdem der Text eines Buches gebührend durchgegangen worden, wird ein kleiner Commentar vorgenommen, dann ein größerer, hierauf ein neues Werk sammt seinen nie mangelnden Glossatoren, und so kann der Schüler Jahrzehnte lang sich beschäftigen, ohne den Born dieses, großentheils freilich unfruchtbaren. Wissens zu erschöpfen. „Wer mohammedanische Werke über Gesetzwissenschast und deren Commentare kennt," sagt Kremer, „der wird am besten beurtheilen können, welches Maß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/118>, abgerufen am 27.09.2024.