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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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lich in Staub zerfallen wird. Der Glanz arabischer Wissenschaft und Literatur
ist, wie es scheint, auf immer dahin. Die Werke der alten Meister werden
gelesen, aber die Schöpferkraft fehlt, ihnen Ebenbürtiges an die Seite zu stel¬
len. Die Professoren lehren fast nicht als Ueberliefertes, mittelalterlichen Wust
von casuistischer Dogmatik und Jurisprudenz, die Studenten prägen sich ihn
mechanisch ein; darüber hinauszugehen, selbständig zu denken und zu schaffen,
fehlt Neigung und Begabung.

Die Universität, von der wir reden, heißt El Azhar, "die Blühendste", und
sie verdient diesen Namen, wenn wir auf die Zahl ihrer aus allen Nationen
des Islam zusammenströmenden Schüler blicken. In allen übrigen Stücken
ist's mit ihrer Blüthe längst vorüber. Im Nachstehenden geben wir in einem
Auszug aus Kramers Bericht eine Schilderung des an ihr befolgten Unterrichts¬
systems*), aus der man sofort erkennen wird, daß wir hier eine Hochschule
der Jahrhunderte vor uns haben, in welchen diesseits des Mittelmeeres die
Epigonen der Scholastiker blühten.

Die Moschee El Azhar, im letzten Viertel des zehnten Jahrhunderts unsrer
Zeitrechnung erbaut, ist nicht blos Bethaus, sondern zugleich Universitäts¬
gebäude und Studentenherberge. Ein großer viereckiger, oben offener Hos ist
rings mit Säulenhallen umgeben, die auf der Seite, welche Mekka zugekehrt
ist und deshalb das Mechrab, die kleine Nische enthält, die in allen Moscheen
den Betern die Richtung ihrer Blicke angibt, mehre Reihen von Säulen und
eine breitere Ueberdachung hat. Hier ist die eigentliche Moschee. Die drei
andern Seiten und ihre Kolonnaden enthalten die Hörsäle, die dadurch her¬
gestellt sind, daß man die großen Säulenhallen durch Gitter oder Bretterver¬
schläge in einzelne Räume geschieden hat, die arabisch "Riwak", Säulensaal,
genannt werden. Wie auf den Universitäten des Mittelalters Studenten und
Professoren sich in Nationen theilten, so hat auch hier jede einzelne Nation des
Islam ihren besondern Riwak. Es gibt einen Saal der Türken, einen für die
Moghrebiner oder Westafrikaner, einen für die Takruri oder Centralafrikaner,.
einen für die Südarabcr und Jndier. Ferner ist hier ein besondrer Riwak
für die Ostafrikaner geöffnet, einer für die Unterägypter, einer für Leute aus
dem Fajum (der fruchtbaren und rosenreichen Oase, welche sich etwa 25 Meilen
oberhalb Kairo auf dem westlichen Ufer des Nil vom Flußthale nach der Indi¬
schen Wüste abzweigt) und einer für die Bewohner Oberägyptens. Dann
haben die Provinz Scharkijeh, die Stadt Bagdad und die Syrer ihre bcsvn-



Aegypten. Forschungen über Land und Volk während eines zehnjährigen Aufenthalts
Von A, v. Kremer. Leipzig, F, A, Brockhaus. 1863, Als reich an werthvollen Mitthei¬
lungen über die ethnographischen Verhältnisse, Ackerbau, Handel, Staatswesen und Volks'
vildung Aegyptens lebhaft zu empfehlen.

lich in Staub zerfallen wird. Der Glanz arabischer Wissenschaft und Literatur
ist, wie es scheint, auf immer dahin. Die Werke der alten Meister werden
gelesen, aber die Schöpferkraft fehlt, ihnen Ebenbürtiges an die Seite zu stel¬
len. Die Professoren lehren fast nicht als Ueberliefertes, mittelalterlichen Wust
von casuistischer Dogmatik und Jurisprudenz, die Studenten prägen sich ihn
mechanisch ein; darüber hinauszugehen, selbständig zu denken und zu schaffen,
fehlt Neigung und Begabung.

Die Universität, von der wir reden, heißt El Azhar, „die Blühendste", und
sie verdient diesen Namen, wenn wir auf die Zahl ihrer aus allen Nationen
des Islam zusammenströmenden Schüler blicken. In allen übrigen Stücken
ist's mit ihrer Blüthe längst vorüber. Im Nachstehenden geben wir in einem
Auszug aus Kramers Bericht eine Schilderung des an ihr befolgten Unterrichts¬
systems*), aus der man sofort erkennen wird, daß wir hier eine Hochschule
der Jahrhunderte vor uns haben, in welchen diesseits des Mittelmeeres die
Epigonen der Scholastiker blühten.

Die Moschee El Azhar, im letzten Viertel des zehnten Jahrhunderts unsrer
Zeitrechnung erbaut, ist nicht blos Bethaus, sondern zugleich Universitäts¬
gebäude und Studentenherberge. Ein großer viereckiger, oben offener Hos ist
rings mit Säulenhallen umgeben, die auf der Seite, welche Mekka zugekehrt
ist und deshalb das Mechrab, die kleine Nische enthält, die in allen Moscheen
den Betern die Richtung ihrer Blicke angibt, mehre Reihen von Säulen und
eine breitere Ueberdachung hat. Hier ist die eigentliche Moschee. Die drei
andern Seiten und ihre Kolonnaden enthalten die Hörsäle, die dadurch her¬
gestellt sind, daß man die großen Säulenhallen durch Gitter oder Bretterver¬
schläge in einzelne Räume geschieden hat, die arabisch „Riwak", Säulensaal,
genannt werden. Wie auf den Universitäten des Mittelalters Studenten und
Professoren sich in Nationen theilten, so hat auch hier jede einzelne Nation des
Islam ihren besondern Riwak. Es gibt einen Saal der Türken, einen für die
Moghrebiner oder Westafrikaner, einen für die Takruri oder Centralafrikaner,.
einen für die Südarabcr und Jndier. Ferner ist hier ein besondrer Riwak
für die Ostafrikaner geöffnet, einer für die Unterägypter, einer für Leute aus
dem Fajum (der fruchtbaren und rosenreichen Oase, welche sich etwa 25 Meilen
oberhalb Kairo auf dem westlichen Ufer des Nil vom Flußthale nach der Indi¬
schen Wüste abzweigt) und einer für die Bewohner Oberägyptens. Dann
haben die Provinz Scharkijeh, die Stadt Bagdad und die Syrer ihre bcsvn-



Aegypten. Forschungen über Land und Volk während eines zehnjährigen Aufenthalts
Von A, v. Kremer. Leipzig, F, A, Brockhaus. 1863, Als reich an werthvollen Mitthei¬
lungen über die ethnographischen Verhältnisse, Ackerbau, Handel, Staatswesen und Volks'
vildung Aegyptens lebhaft zu empfehlen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/116>, abgerufen am 27.09.2024.