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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Es ist gewiß, daß die kurzsichtige Tendenzpolitik der Negierung in der
Handelsvertrags- und Zvllvereinsfrage, indem sie so viele und individuelle
Interessen verletzt und bedroht, die staatliche Selbständigkeit Nassaus in den Ge¬
müthern seiner Bevölkerung stärker erschüttert als alle Agitationen des National-
vercins. Ohnehin siel die Saat, welche dieser ausstreut, hier auf keinen unfrucht¬
baren Boden. Ein bayrisches und selbst ein hannoversches Staatsgefühl mag
es geben -- ein nassauisches Staatsgefühl gibt es nicht, außer etwa da, wo
Staat und Hof zwei Ausdrücke für denselben Begriff sind. Das Herzogthum
ist zu jung und zu klein, es hat auch zu wenig gethan, um das politische
Selbstgefühl seiner Bürger zu entwickeln, als daß es zu irgend einem Grade
von Patriotismus auffordern sollte, der mehr wäre als das gewöhnlichste und
unschuldigste Heimatsgefühl. Ist doch gerade im Gegensatz zu Allem, was den
Staat ausmacht - zum Amtmann, zur Negierung und zum Hofe das bür¬
gerliche Selbstbewußtsein allmälig emporgewachsen: wie sollte es sich nun
an diejenigen Mächte anlehne", die es gern für immer am Boden gehalten
hätten?

Der nassauische Liberalismus trägt die Spuren dieser seiner Herkunft.so gut
wie das Gepräge des gesund und harmonisch entwickelten Volksstammes. dem
er angehört. Er vertritt eine seltene Mischung von Besonnenheit und That¬
kraft. Es fehlt in seinem Schoße nicht an Gruppirungen und Nuancen, aber
aus einiger Ferne betrachtet nimmt er sich schon vollkommen einfarbig aus.
Kein nationales Bekenntniß verweist ihn auf den rechten Flügel des Nationai-
vereins; seine Thätigkeit und Entschlossenheit sichern ihm einen Platz im Vorder¬
treffen. Daß er die Hoffnungen theilte, welche das liberale und preußenfrcund-
liehe Deutschland ein paar Jahre lang auf das erste Ministerium König Wilhelms
setzte, hat ihn nicht einen Augenblick abgehalten, in die selbständigeren Wege
einzulenken, die der Nationalverein mit der Adoption der Reichsverfassung be¬
schult. Einer nicht sehr zahl- und einflußreichen Schaar von Alllibcralcn zu
Gefallen hat man allerdings in Limburg darauf verzichtet, den tvburger Be¬
schluß vom 6. October 1862 ins Wahlprogramm aufzunehmen; man hat sich
mit dem allgemein gefaßten Beschluß des ersten deutschen Abgeordnetentages be¬
gnügt. Aber diese Concession hat keine andere Bedeutung, als daß man um
einer vor der Hand noch theoretischen Frage willen auch nicht ein einziges
Dutzend Anhänger missen mag, wenn man doch gewiß ist, daß die Frage nur
praktisch zu werden brauchte, um auch diese in den Schoß des Nationalvereins
und unter das Banner der Reichsverfassung zu führen.

Zu dem deutschen Parlament, wenn es sich dereinst aufs neue versammelt,
um als eine der ersten geistigen Gewalten der Welt bis in die späteste Zu¬
kunft fortzuleben. wird auch Nassau ein zwar kleines, aber nicht zu verachtendes
Contingent von Rednern und Parteiführern stellen. In Deutschland steckt die


Es ist gewiß, daß die kurzsichtige Tendenzpolitik der Negierung in der
Handelsvertrags- und Zvllvereinsfrage, indem sie so viele und individuelle
Interessen verletzt und bedroht, die staatliche Selbständigkeit Nassaus in den Ge¬
müthern seiner Bevölkerung stärker erschüttert als alle Agitationen des National-
vercins. Ohnehin siel die Saat, welche dieser ausstreut, hier auf keinen unfrucht¬
baren Boden. Ein bayrisches und selbst ein hannoversches Staatsgefühl mag
es geben — ein nassauisches Staatsgefühl gibt es nicht, außer etwa da, wo
Staat und Hof zwei Ausdrücke für denselben Begriff sind. Das Herzogthum
ist zu jung und zu klein, es hat auch zu wenig gethan, um das politische
Selbstgefühl seiner Bürger zu entwickeln, als daß es zu irgend einem Grade
von Patriotismus auffordern sollte, der mehr wäre als das gewöhnlichste und
unschuldigste Heimatsgefühl. Ist doch gerade im Gegensatz zu Allem, was den
Staat ausmacht - zum Amtmann, zur Negierung und zum Hofe das bür¬
gerliche Selbstbewußtsein allmälig emporgewachsen: wie sollte es sich nun
an diejenigen Mächte anlehne», die es gern für immer am Boden gehalten
hätten?

Der nassauische Liberalismus trägt die Spuren dieser seiner Herkunft.so gut
wie das Gepräge des gesund und harmonisch entwickelten Volksstammes. dem
er angehört. Er vertritt eine seltene Mischung von Besonnenheit und That¬
kraft. Es fehlt in seinem Schoße nicht an Gruppirungen und Nuancen, aber
aus einiger Ferne betrachtet nimmt er sich schon vollkommen einfarbig aus.
Kein nationales Bekenntniß verweist ihn auf den rechten Flügel des Nationai-
vereins; seine Thätigkeit und Entschlossenheit sichern ihm einen Platz im Vorder¬
treffen. Daß er die Hoffnungen theilte, welche das liberale und preußenfrcund-
liehe Deutschland ein paar Jahre lang auf das erste Ministerium König Wilhelms
setzte, hat ihn nicht einen Augenblick abgehalten, in die selbständigeren Wege
einzulenken, die der Nationalverein mit der Adoption der Reichsverfassung be¬
schult. Einer nicht sehr zahl- und einflußreichen Schaar von Alllibcralcn zu
Gefallen hat man allerdings in Limburg darauf verzichtet, den tvburger Be¬
schluß vom 6. October 1862 ins Wahlprogramm aufzunehmen; man hat sich
mit dem allgemein gefaßten Beschluß des ersten deutschen Abgeordnetentages be¬
gnügt. Aber diese Concession hat keine andere Bedeutung, als daß man um
einer vor der Hand noch theoretischen Frage willen auch nicht ein einziges
Dutzend Anhänger missen mag, wenn man doch gewiß ist, daß die Frage nur
praktisch zu werden brauchte, um auch diese in den Schoß des Nationalvereins
und unter das Banner der Reichsverfassung zu führen.

Zu dem deutschen Parlament, wenn es sich dereinst aufs neue versammelt,
um als eine der ersten geistigen Gewalten der Welt bis in die späteste Zu¬
kunft fortzuleben. wird auch Nassau ein zwar kleines, aber nicht zu verachtendes
Contingent von Rednern und Parteiführern stellen. In Deutschland steckt die


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[0453] Es ist gewiß, daß die kurzsichtige Tendenzpolitik der Negierung in der Handelsvertrags- und Zvllvereinsfrage, indem sie so viele und individuelle Interessen verletzt und bedroht, die staatliche Selbständigkeit Nassaus in den Ge¬ müthern seiner Bevölkerung stärker erschüttert als alle Agitationen des National- vercins. Ohnehin siel die Saat, welche dieser ausstreut, hier auf keinen unfrucht¬ baren Boden. Ein bayrisches und selbst ein hannoversches Staatsgefühl mag es geben — ein nassauisches Staatsgefühl gibt es nicht, außer etwa da, wo Staat und Hof zwei Ausdrücke für denselben Begriff sind. Das Herzogthum ist zu jung und zu klein, es hat auch zu wenig gethan, um das politische Selbstgefühl seiner Bürger zu entwickeln, als daß es zu irgend einem Grade von Patriotismus auffordern sollte, der mehr wäre als das gewöhnlichste und unschuldigste Heimatsgefühl. Ist doch gerade im Gegensatz zu Allem, was den Staat ausmacht - zum Amtmann, zur Negierung und zum Hofe das bür¬ gerliche Selbstbewußtsein allmälig emporgewachsen: wie sollte es sich nun an diejenigen Mächte anlehne», die es gern für immer am Boden gehalten hätten? Der nassauische Liberalismus trägt die Spuren dieser seiner Herkunft.so gut wie das Gepräge des gesund und harmonisch entwickelten Volksstammes. dem er angehört. Er vertritt eine seltene Mischung von Besonnenheit und That¬ kraft. Es fehlt in seinem Schoße nicht an Gruppirungen und Nuancen, aber aus einiger Ferne betrachtet nimmt er sich schon vollkommen einfarbig aus. Kein nationales Bekenntniß verweist ihn auf den rechten Flügel des Nationai- vereins; seine Thätigkeit und Entschlossenheit sichern ihm einen Platz im Vorder¬ treffen. Daß er die Hoffnungen theilte, welche das liberale und preußenfrcund- liehe Deutschland ein paar Jahre lang auf das erste Ministerium König Wilhelms setzte, hat ihn nicht einen Augenblick abgehalten, in die selbständigeren Wege einzulenken, die der Nationalverein mit der Adoption der Reichsverfassung be¬ schult. Einer nicht sehr zahl- und einflußreichen Schaar von Alllibcralcn zu Gefallen hat man allerdings in Limburg darauf verzichtet, den tvburger Be¬ schluß vom 6. October 1862 ins Wahlprogramm aufzunehmen; man hat sich mit dem allgemein gefaßten Beschluß des ersten deutschen Abgeordnetentages be¬ gnügt. Aber diese Concession hat keine andere Bedeutung, als daß man um einer vor der Hand noch theoretischen Frage willen auch nicht ein einziges Dutzend Anhänger missen mag, wenn man doch gewiß ist, daß die Frage nur praktisch zu werden brauchte, um auch diese in den Schoß des Nationalvereins und unter das Banner der Reichsverfassung zu führen. Zu dem deutschen Parlament, wenn es sich dereinst aufs neue versammelt, um als eine der ersten geistigen Gewalten der Welt bis in die späteste Zu¬ kunft fortzuleben. wird auch Nassau ein zwar kleines, aber nicht zu verachtendes Contingent von Rednern und Parteiführern stellen. In Deutschland steckt die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/453>, abgerufen am 25.11.2024.