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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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deren Princip war, nach Archen so lange als nöthig für russisch zu gelten, im
Innern sich von den Nüssen zu scheiden. -- -- Und diese Politik hatte
für Polen die höchste Berechtigung. Allerdings war der Hintergedanke der
thätigsten Parteiführer ein Staat, in welchem die Aristokratie des Landes
unter den Formen einer modernen Verfassung regierte. Aber eine solche
Herrschaft ist nach europäischen Begriffen für die Slavenländer noch auf
Jahrhunderte Bedürfniß. Es gibt dort keinen Mittelstand, es gibt dort kein
Bürgerthum im Sinne unserer Cultur, der Bauer ist ein Sklave, auch der kleine
Edelmann nur zu häusig verkümmert und verdorben. Und mit den Führern
der aristokratischen Partei ist die Mehrzahl des großen Adels, die Mehrzahl
der hohen Geistlichkeit enge verbunden, sie sind, so bald die Nüssen entfernt
sind, die gebotenen Herren des Landes.

Aber wie gesehen und verdeckt diese Aristokraten auch handelten, und wie
souverän ihr Einfluß in ruhigen Zeiten auf die Bevölkerung sein könnte,
es ist ihr Fluch, daß sie nicht die Fähigkeit haben, ein rohes, der Aufregung
bedürftiges Volk zu erwärmen und durch die einzigen Impulse zu führen, welche
den Unwissenden in den Kampf treiben, durch Erregung seines religiösen und
Polnischen Fanatismus. Sie beherrschen nicht die Gemüther der Menge, und
nicht, was dort öffentliche Meinung genannt werden kann, ja sie selbst sind des¬
halb in drückender Abhängigkeit von einer anderen Gewalt, die sie insge-
heim beargwöhnen und verachten, von der sie selbst beargwöhnt und gehaßt
werden. Die exaltirte Partei in Polen stellt die bunteste Mischung von Con¬
trasten dar. Emigranten, welche im Ausland ihre patriotische Stimmung
zu einem fanatischen Haß gegen Nüssen und Deutsche gesteigert haben,
junge Enthusiasten, welche stolz daraus waren, die rothe Blouse Garibal-
dis zu tragen, durchgcwctterte Abenteurer, die im ungarischen Feldzug. in der
Krim, in Italien, in Amerika den Schlachtfeldern zugezogen sind, Hirn-
Verbrannte Socialisten und ruchlose Verschwörer, welche Orsinis Bombe und ein
vergiftetes Dolchmesser sür die letzte Waffe der Freiheit halten; junge Schriftsteller
mit französischer Bildung, welche für den Constitutionel und die Glocke
von Herzen geschrieben haben, warme Patrioten, denen das Herz gegen die
Rohheiten und Laster der russischen Beamten empört ist, fanatische Dorfpfaffen,
denen die Mütze russischer Popen tödtlich verhaßt und eine bewaffnete Procession
des Jahres 1848 die größte.Erinnerung ihres Lebens ist, die kurzsichtige, aber
begeisterte Jugend polnischer Schulen und Universitäten. Wenn es möglich
Wäre, einen politischen Katechismus aus den verschiedenen Elementen dieser
Partei zusammenzustellen, er würde eine tolle Mischung von ehrlichen patrioti-
schen Wünschen und den verrücktesten Vorstellungen über Verfassung und
Zukunft des neuen Polenreichs enthalten. Aber wie phantastisch und verdorben
auch das politische Credo einer großen Anzahl dieser Exaltirten ist, sie halten


deren Princip war, nach Archen so lange als nöthig für russisch zu gelten, im
Innern sich von den Nüssen zu scheiden. — — Und diese Politik hatte
für Polen die höchste Berechtigung. Allerdings war der Hintergedanke der
thätigsten Parteiführer ein Staat, in welchem die Aristokratie des Landes
unter den Formen einer modernen Verfassung regierte. Aber eine solche
Herrschaft ist nach europäischen Begriffen für die Slavenländer noch auf
Jahrhunderte Bedürfniß. Es gibt dort keinen Mittelstand, es gibt dort kein
Bürgerthum im Sinne unserer Cultur, der Bauer ist ein Sklave, auch der kleine
Edelmann nur zu häusig verkümmert und verdorben. Und mit den Führern
der aristokratischen Partei ist die Mehrzahl des großen Adels, die Mehrzahl
der hohen Geistlichkeit enge verbunden, sie sind, so bald die Nüssen entfernt
sind, die gebotenen Herren des Landes.

Aber wie gesehen und verdeckt diese Aristokraten auch handelten, und wie
souverän ihr Einfluß in ruhigen Zeiten auf die Bevölkerung sein könnte,
es ist ihr Fluch, daß sie nicht die Fähigkeit haben, ein rohes, der Aufregung
bedürftiges Volk zu erwärmen und durch die einzigen Impulse zu führen, welche
den Unwissenden in den Kampf treiben, durch Erregung seines religiösen und
Polnischen Fanatismus. Sie beherrschen nicht die Gemüther der Menge, und
nicht, was dort öffentliche Meinung genannt werden kann, ja sie selbst sind des¬
halb in drückender Abhängigkeit von einer anderen Gewalt, die sie insge-
heim beargwöhnen und verachten, von der sie selbst beargwöhnt und gehaßt
werden. Die exaltirte Partei in Polen stellt die bunteste Mischung von Con¬
trasten dar. Emigranten, welche im Ausland ihre patriotische Stimmung
zu einem fanatischen Haß gegen Nüssen und Deutsche gesteigert haben,
junge Enthusiasten, welche stolz daraus waren, die rothe Blouse Garibal-
dis zu tragen, durchgcwctterte Abenteurer, die im ungarischen Feldzug. in der
Krim, in Italien, in Amerika den Schlachtfeldern zugezogen sind, Hirn-
Verbrannte Socialisten und ruchlose Verschwörer, welche Orsinis Bombe und ein
vergiftetes Dolchmesser sür die letzte Waffe der Freiheit halten; junge Schriftsteller
mit französischer Bildung, welche für den Constitutionel und die Glocke
von Herzen geschrieben haben, warme Patrioten, denen das Herz gegen die
Rohheiten und Laster der russischen Beamten empört ist, fanatische Dorfpfaffen,
denen die Mütze russischer Popen tödtlich verhaßt und eine bewaffnete Procession
des Jahres 1848 die größte.Erinnerung ihres Lebens ist, die kurzsichtige, aber
begeisterte Jugend polnischer Schulen und Universitäten. Wenn es möglich
Wäre, einen politischen Katechismus aus den verschiedenen Elementen dieser
Partei zusammenzustellen, er würde eine tolle Mischung von ehrlichen patrioti-
schen Wünschen und den verrücktesten Vorstellungen über Verfassung und
Zukunft des neuen Polenreichs enthalten. Aber wie phantastisch und verdorben
auch das politische Credo einer großen Anzahl dieser Exaltirten ist, sie halten


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[0357] deren Princip war, nach Archen so lange als nöthig für russisch zu gelten, im Innern sich von den Nüssen zu scheiden. — — Und diese Politik hatte für Polen die höchste Berechtigung. Allerdings war der Hintergedanke der thätigsten Parteiführer ein Staat, in welchem die Aristokratie des Landes unter den Formen einer modernen Verfassung regierte. Aber eine solche Herrschaft ist nach europäischen Begriffen für die Slavenländer noch auf Jahrhunderte Bedürfniß. Es gibt dort keinen Mittelstand, es gibt dort kein Bürgerthum im Sinne unserer Cultur, der Bauer ist ein Sklave, auch der kleine Edelmann nur zu häusig verkümmert und verdorben. Und mit den Führern der aristokratischen Partei ist die Mehrzahl des großen Adels, die Mehrzahl der hohen Geistlichkeit enge verbunden, sie sind, so bald die Nüssen entfernt sind, die gebotenen Herren des Landes. Aber wie gesehen und verdeckt diese Aristokraten auch handelten, und wie souverän ihr Einfluß in ruhigen Zeiten auf die Bevölkerung sein könnte, es ist ihr Fluch, daß sie nicht die Fähigkeit haben, ein rohes, der Aufregung bedürftiges Volk zu erwärmen und durch die einzigen Impulse zu führen, welche den Unwissenden in den Kampf treiben, durch Erregung seines religiösen und Polnischen Fanatismus. Sie beherrschen nicht die Gemüther der Menge, und nicht, was dort öffentliche Meinung genannt werden kann, ja sie selbst sind des¬ halb in drückender Abhängigkeit von einer anderen Gewalt, die sie insge- heim beargwöhnen und verachten, von der sie selbst beargwöhnt und gehaßt werden. Die exaltirte Partei in Polen stellt die bunteste Mischung von Con¬ trasten dar. Emigranten, welche im Ausland ihre patriotische Stimmung zu einem fanatischen Haß gegen Nüssen und Deutsche gesteigert haben, junge Enthusiasten, welche stolz daraus waren, die rothe Blouse Garibal- dis zu tragen, durchgcwctterte Abenteurer, die im ungarischen Feldzug. in der Krim, in Italien, in Amerika den Schlachtfeldern zugezogen sind, Hirn- Verbrannte Socialisten und ruchlose Verschwörer, welche Orsinis Bombe und ein vergiftetes Dolchmesser sür die letzte Waffe der Freiheit halten; junge Schriftsteller mit französischer Bildung, welche für den Constitutionel und die Glocke von Herzen geschrieben haben, warme Patrioten, denen das Herz gegen die Rohheiten und Laster der russischen Beamten empört ist, fanatische Dorfpfaffen, denen die Mütze russischer Popen tödtlich verhaßt und eine bewaffnete Procession des Jahres 1848 die größte.Erinnerung ihres Lebens ist, die kurzsichtige, aber begeisterte Jugend polnischer Schulen und Universitäten. Wenn es möglich Wäre, einen politischen Katechismus aus den verschiedenen Elementen dieser Partei zusammenzustellen, er würde eine tolle Mischung von ehrlichen patrioti- schen Wünschen und den verrücktesten Vorstellungen über Verfassung und Zukunft des neuen Polenreichs enthalten. Aber wie phantastisch und verdorben auch das politische Credo einer großen Anzahl dieser Exaltirten ist, sie halten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/357>, abgerufen am 28.07.2024.